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Staatsbesuch beim Klassenfeind

"Die ganze verdammte Familie kommt", so titelte die New Yorker "Daily Mail" vor 50 Jahren, als Nikita Chruschtschow die USA besuchte. Denn neben dem üblichen Tross an Diplomaten brachte er auch zahlreiche seiner Verwandten mit.

Von Ralf Geißler | 15.09.2009
    Besuch beim Klassenfeind: Am 15. September 1959 landet der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Andrews bei Washington. Zum ersten Mal seit Beginn des Kalten Krieges betritt der mächtigste Mann des Ostblocks amerikanischen Boden. Er wird mit allen diplomatischen Ehren empfangen: Salutschüsse, die sowjetische Hymne erklingt, und US-Präsident Dwight D. Eisenhower hält auf dem roten Teppich eine lange Rede.

    "Herr Generalsekretär. Ich begrüße Sie, Ihre Familie und Ihre Begleitung in den Vereinigten Staaten."

    Während Eisenhower spricht, winkt Chruschtschow fröhlich mit seinem schwarzen Hut. Der sowjetische Regierungschef will locker wirken:

    "Wir Russen sagen: Eine wichtige Aufgabe beginnt man am Morgen. Wir sind in Moskau heute sehr früh losgeflogen. Und ich freue mich, dass unsere erste Begegnung auf amerikanischem Boden noch am Morgen desselben Tages stattfindet. Da sehen Sie, unsere Länder liegen gar nicht so weit auseinander."

    Fast zwei Wochen will Chruschtschow die USA bereisen – auf Einladung Eisenhowers Land und Leute kennenlernen. Bei Gesprächen, so die Hoffnung, können Missverständnisse im Kalten Krieg beseitigt werden. Auf dem Programm stehen unter anderem Besuche in New York, San Francisco und Hollywood, Treffen mit Senatoren und einfachen Farmern. Hunderte Journalisten begleiten die Reise. Darunter auch der NDR-Reporter Peter von Zahn.

    "Einige glauben sogar, dass Chruschtschow angesichts des amerikanischen Lebensstandards stutzig werden und seine Ansicht über die Mürbe und Schwäche der amerikanischen Zivilisation ändern werde, weshalb man ihm viele Supermärkte, Einzelhäuser und automatisierte Farmen zeigen sollte."

    Doch Chruschtschow lässt sich nicht beeindrucken. Fast überall erzählt er, dass die Sowjetunion den USA überlegen sei. In seiner Haltung sieht sich der sowjetische Regierungschef bestätigt, als er trotz großer Sicherheitsvorkehrungen im Fahrstuhl eines Luxushotels steckenbleibt. Bei einem Treffen mit amerikanischen Arbeiterführern kommt es sogar zum Streit.

    "Der Präsident der Bierbrauergewerkschaftler fragte, was der Massenauszug von Arbeitern aus Ländern zu bedeuten habe, in denen die Kommunisten die Macht ergreifen. Chruschtschows Antwort lautete ungekürzt: Ist das alles? Denken Sie noch mal nach! Trinken Sie Ihr Bier! Vielleicht hilft Ihnen das, eine Antwort zu finden."

    Es treffen buchstäblich zwei Welten aufeinander. Während die sowjetische Presse die Reise als "Friedensfahrt durch Amerika" feiert, betonen westliche Medien, wie ungehobelt Chruschtschow auftritt. Besonders gern spotten die Reporter über die altmodische Kleidung der Gäste.

    "Es wurde mit einer gewissen Dankbarkeit konstatiert, dass Frau Chruschtschowa dem Gala-Abendessen im Weißen Haus die Rücksicht angedeihen ließ, wenn nicht wie die anderen Damen im großen Abendkleid, so doch bodenlang und in Seide zu erscheinen. Während ihr allgewaltiger Eheherr es für passend befand, den Fracks und weißen Krawatten in seinem Reiseanzug und mit grauen Schlips gegenüberzutreten."

    Immer wieder hat Chruschtschow den Eindruck, man begegne ihm nicht mit dem nötigen Respekt. Mehrfach droht er, die Reise abzubrechen. Doch dann lässt sich der Gast stets besänftigen. Die letzten drei Tage seiner Reise führt Chruschtschow Gespräche mit Eisenhower auf Camp David. In der anschließenden Pressekonferenz dürfen die Journalisten Fragen stellen.

    "Herr Generalsekretär. Könnten Sie kurz zusammenfassen: Haben Sie heute irgendeinen Vorschlag zur Linderung der internationalen Spannungen gemacht, den Sie nicht schon vorher einmal gemacht haben?"

    Chruschtschows Antwort: diplomatisch vage.

    "Man sollte nicht neue Probleme aufrühren, sondern sich damit begnügen, die Probleme zu lösen, die bereits existieren. Wir dürfen uns nicht durch eine Diskussion über neu aufgeworfene Fragen ablenken lassen, solange nicht die fundamentale Frage gelöst ist."

    Immerhin: Chruschtschow betont, er wolle das Eis des Kalten Krieges brechen. Er wünsche eine friedliche Koexistenz. Am 28. September fliegt er zurück nach Moskau. Ein Jahr später soll Eisenhower zum Gegenbesuch kommen. Doch diese Reise findet nie statt. Die Sowjetunion entdeckt im Mai 1960 ein U2-Spionageflugzeug der USA in ihrem Luftraum, schießt es ab und lädt Eisenhower wieder aus.