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Staatsfeinde in Uniform

Nach außen hin zelebrierte sich die Nationale Volksarmee der DDR gerne mit preußischem Pomp. Und wie in jeder Armee der Welt, war Abweichlertum nicht vorgesehen. Was NVA-Soldaten zur Opposition trieb, war oft auch politisch motiviert - denn der von der Partei ausgeübte Druck war kaum irgendwo größer als gerade in der Armee, wo der Polit-Offizier allgegenwärtig war. Zudem konnte ein NVA-Soldat sehr schnell in konkrete Gewissensnöte geraten: als Angehöriger der Grenztruppen etwa, wenn es galt, einen Flüchtling zu stoppen. Oder wenn sich - wie 1968 - die Intervention in ein friedliches Nachbarland abzeichnete. Im Berliner Christoph Links Verlag erscheint jetzt der erste Versuch eines Überblicks über Widerstand in der Nationalen Volksarmee in Form einer ausführlichen Studie.

Von Karl Wilhelm Fricke | 07.03.2005
    "Du woran glaubt der / der zur Fahne geht?
    Ruhm der Fahne schwört / dabei stramm steht?"

    Ja, woran hat der geglaubt, der einst zur Fahne ging - um die Kernfrage aus dem von Gerulf Pannach getexteten Song der legendären Klaus-Renft-Combo aufzugreifen -, woran hat der geglaubt, der Dienst tat in den Streifkräften der DDR? Konnte es eigentlich Zweifel daran geben? Die Angehörigen der Nationalen Volksarmee und ihres Vorläufers, der Kasernierten Volkspolizei, sollten Soldaten einer Parteiarmee sein, politisch bewusste Waffenträger einer Armee im Auftrag und unter Führung der SED, Klassenkämpfer in Uniform. Gleichwohl wurde es zu Recht geschrieben, dies Buch mit dem Titel "Staatsfeinde in Uniform?" Wohlweislich versehen mit einem Fragezeichen, denn die DDR-Streitkräfte waren natürlich kein Hort politischer Gegnerschaft. Die Autoren des Buches - Rüdiger Wenzke, zugleich Herausgeber, sowie Torsten Diedrich und Hans Ehlert - wissen selber darum. Sie stiften keinen Widerstandsmythos. Zitat:

    "Das DDR-Militär war - bei aller Vielfalt regimekritischer, widerständiger und regimefeindlicher Verhaltensweisen etlicher seiner Angehörigen - zu keiner Zeit ein Zentrum von Opposition und Widerstand in der DDR. Die NVA war und blieb (...) das wichtigste bewaffnete Instrument in der Hand der SED" "

    Indes weisen die Autoren - alle drei promovierte Militärhistoriker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam - in ihrer breit angelegten Monographie überzeugend nach, dass sie existiert haben - die "Staatsfeinde in Uniform". Trotz Polit-Arbeit und Stasi-Kontrolle, Repression und Verfolgung gab es in den Reihen der Kasernierten Volkspolizei und der Nationalen Volksarmee politisch unangepasstes und nonkonformistisches Verhalten, traten Verweigerung, Opposition und Widerstand zu Tage. Noch ein Zitat aus dem Vorwort:

    "Die Forschungsergebnisse sind dabei in die Geschichte des politischen, militärischen und gesellschaftlichen Umfelds des ostdeutschen Staates und seiner Streitkräfte sowie in die Geschichte von Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur eingebettet. Sie lassen erkennen, dass Unzufriedenheit, Protest und widerständiges Verhalten nicht von außen in die Armee hineingetragen worden sind, wie es die zeitgenössische Parteipropaganda immer wieder zu suggerieren versuchte, sondern im wesentlichen aus den inneren Widersprüchen des Systems hervorgegangen sind.."

    Auch in der DDR war die Armee ein Spiegelbild der Gesellschaft. In ihr traten Verweigerung und politische Gegnerschaft genauso in Erscheinung wie im gesellschaftlichen Alltag.

    "In gewissem Sinne ‚staatsdemontierenden Widerstand’ leisteten im Einzelfall auch diejenigen Armeeangehörigen, die aus Gewissensgründen Spionage und Sabotage betrieben. Formen einer ‚gesellschaftlichen Verweigerung’ und von Protest unter den Bedingungen des DDR-Militärs zeigten sich darüber hinaus in Befehls- und Gehorsamsverweigerungen (z. B. in der Weigerung, an der Grenze die Schusswaffe anzuwenden), in Wehrdienstverweigerungen, Fahnenfluchten, Entlassungsanträgen, SED-Austritten und anderen Formen."

    Politische Unbotmäßigkeit in der Armee löste entweder disziplinar-rechtliche Maßnahmen aus oder strafrechtliche Sanktionen. Wie die Autoren konkret herausarbeiten, kooperierten dabei die so genannten Kaderorgane eng mit der zuständigen Grundorganisation der SED, die in jeder Armee-Einheit existierte, sowie mit dem Staatssicherheitsdienst und der Militärjustiz.

    Inhaltlich gliedert sich das Buch in eine knapp gehaltene Einführung des Herausgebers, die widerständiges Verhalten und Repression im DDR-Militär definiert, Grundzüge der politischen Gegnerschaft und der Repressionspraxis in den DDR-Streitkräften nachzeichnet, die Struktur des vorliegenden Bandes erläutert und schließlich einen Überblick bietet zu Forschungsstand und Quellensituation. Die eigentlichen Sachkapitel sind historisch angelegt. Sie thematisieren erstens das Widerstandsverhalten und die politische Verfolgung in der Aufbau- und Konsolidierungsphase der Streitkräfte in der SBZ/DDR von 1948 bis 1968. Der Co-Autor Torsten Diedrich umschreibt sie mit den Stichworten "Gegen Aufrüstung, Volksunterdrückung und politische Gängelei". Es folgt zweitens das Kapitel, das die historische Etappe zwischen dem "Prager Frühling" 1968 und dem Herbst 1989 umspannt. Sein Kollege Rüdiger Wenzke als Verfasser nennt die Stichworte "Protestverhalten, Verweigerungsmuster und politische Verfolgung in der NVA der siebziger und achtziger Jahre". Im dritten Teil, den Hans Ehlert als Autor verantwortet, geht es um "die NVA im Strudel des gesellschaftlichen Umbruchs in der DDR 1989/90", um die Zeit zwischen dem Fall der Mauer und den letzten, erstmals freien Wahlen zur DDR-Volkskammer, in die der Machtwechsel fällt und die Führung der NVA erstmals in der Geschichte der DDR auf einen Zivilisten übergeht. Mit Rainer Eppelmann wird ein ehemaliger Bausoldat und Bürgerrechtler zum Minister für Abrüstung und Verteidigung berufen.

    Die Fülle des Materials und der Themen macht es dem Rezensenten unmöglich, hier auf Einzelheiten näher einzugehen. Herausgegriffen sei daher lediglich die Problematik der Desertion und der Wehrdienstverweigerung. Fahnenflucht hat den DDR-Streitkräften zeit ihrer Existenz zu schaffen gemacht. Die höchste Desertionsquote war im Jahr des Volksaufstands vom 17. Juni zu verzeichnen. Nicht weniger als 1.940 Soldaten der KVP gingen 1953 von der Fahne, wie in dem Buch belegt wird, davon 82 Offiziere vom Unterleutnant bis zum Oberst.

    "Das Gefühl, sich als Angehöriger der Staatsmacht an der gewaltsamen Niederschlagung von Streiks und Demonstrationen mitschuldig gemacht zu haben, gab offensichtlich bei Hunderten Soldaten den Ausschlag dafür, die KVP zeitweise oder für immer unerlaubt zu verlassen."

    Mit dem Problem der Wehrdienst-Verweigerung sah sich die NVA seit Verkündung der allgemeinen Wehrpflicht in der DDR 1962 konfrontiert. Aus plausiblen Gründen wird sie als Ausdruck bewusster Opposition qualifiziert. Nachdem die strafrechtliche Verfolgung keine Lösung des Konflikts verhieß, wurde für Wehrdienst-Verweigerer aus Gewissensgründen in der DDR 1964 ein waffenloser Wehrdienst in besonderen Baueinheiten der NVA eingeführt, den bis zum Ende des SED-Staates dem Buch zufolge ca. 15.000 Wehrpflichtige ableisteten. Obwohl die Bausoldaten - die "Soldaten mit dem Spaten", wie sie wegen des stilisierten Spatens auf den Schulterstücken ihrer steingrauen Uniform hießen - der Armee durch Arbeitseinsatz dienten, zumeist auf dem Bau, wurden sie gesellschaftlich geächtet und nicht selten strafrechtlich verfolgt. Zwischen 1964 und 1989 wurden in der DDR über 3.100 Wehrdienstverweigerer - namentlich Total-Verweigerer - von Militärgerichten zu Freiheitsstrafen verurteilt.

    "Im Anhang des Buches werden 40 dokumentarische Texte wiedergegeben, Auszüge aus Erlebnisberichten, Dienstdokumenten, Befehlen, Stasi-Analysen zur NVA und Strafurteile sowie zehn Faksimiles. Als zeithistorische Zeugnisse fundieren sie zusätzlich Aussagen des umfangreichen Kompendiums, dessen Autoren durchaus in wissenschaftliches Neuland vorgestoßen sind. Das Ganze ist vorbildlich ediert, Quellenangaben, Literaturverzeichnis, Sach- und Personenregister - das alles ist selbstverständlich. Ein solides Werk. Ein Gewinn für die historische Widerstandsforschung zur zweiten Diktatur in Deutschland."

    Um aber auf den einleitend einspielten Song der Renft-Combo zurückzukommen - ihre Lieder empfanden die Herrschenden als so gefährlich, als wehrkraftzersetzend sozusagen, dass sie 1975 verboten wurden. Die Gruppe wurde zerschlagen, einige ihrer Mitglieder kamen ins Gefängnis und wurden später aus der DDR ausgewiesen. Als Pazifisten hatten sie wider den sozialistischen Zeitgeist gesungen, solidarisch mit den Bausoldaten, die statt des Gewehrs den Spaten schulterten:

    " Du woran glaubt der / der nicht anlegt
    der als Fahne vor sich her / einen Spaten trägt

    Du woran glaubt der / der in’n Kahn geht
    und den Hintern quer / zu der Fahn’ dreht..."

    Rüdiger Wenzke: Staatsfeinde in Uniform ? Widerständiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA.
    Chrsitoph Links Verlag, Berlin 2005
    656 Seiten, 34,90 €