Als die deutschen Sozialdemokraten am Schwielowsee Geschlossenheit demonstrieren wollten, war er dagegen. Als der SPD-Vorstand kurz danach einen Nachfolger für Kurt Beck an der Parteispitze wählte, stimmte er dagegen - als einziger. Ottmar Schreiner ist der Stachel im Fleisch seiner Partei, die sich seit Jahren vor allem mit einer Frage quält: Waren die Reformen der Agenda 2010 im Zeitalter der Globalisierung notwendig? Oder bedeuten sie den Untergang für eine Partei, die sich als Anwalt der Arbeitnehmer und Schwachen versteht? Ottmar Schreiner bietet seinen verunsicherten Genossen eine verlockend einfache Antwort: Weg mit der Agenda! Kein SPD-Linker kritisiert die Parteilinie so deutlich wie Schreiner. Daher könnte er für sein neues Buch "Die Gerechtigkeitslücke" schon in normalen Zeiten mit Aufmerksamkeit rechnen. Es sind aber keine normalen Zeiten. Parteichef Kurt Beck warf hin, ausmanövriert von seinem alten Gegner Franz Müntefering. Der Sturz beunruhigt die Genossen. Auch Parteilinke wie Andrea Nahles halten sich mit Kritik am neuen Führungsduo Steinmeier - Müntefering zurück. Nicht so Ottmar Schreiner. Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier sei "lernfähig", erklärte er selbstgefällig. Und setzt noch einen drauf: Bei Müntefering habe er Zweifel an der Lernfähigkeit. Hier gibt einer den Rebellen, um fast jeden Preis. Und der Verlag adelt sein Buch flugs zur "Kampfschrift der innerparteilichen Opposition" - den Verkaufszahlen kann das nur nutzen.
Wer sein Buch aufklappt, stößt schon im Vorwort auf erstaunliche Sätze:
Ein Überzeugungskern ist bei den Volksparteien kaum mehr sichtbar. Weder hier noch dort wären Umrisse eines gesellschaftlichen Konzepts sichtbar, für die es sich erfolgreich zu werben lohnte.
Moment mal: Hier erklärt jemand, die SPD habe keine Überzeugungen und kein Konzept mehr, für das sich zu kämpfen lohne. Und es ist kein neutraler Beobachter, sondern ein Volksvertreter genau jener Partei, der er politisches Eunuchentum unterstellt - also bloße Machtgier. Der Leser merkt schnell, dass diese Anklage kein Ausrutscher ist, sondern Programm. Originalton Schreiner:
Das Wesen von Politik ist, die Gesellschaft zu gestalten. Das heißt heute vor allem: Sie zusammenhalten. Politik muss ausgleichen. Genau das geschieht in Deutschland nicht. Die Politik trägt ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung für gesellschaftliche Spaltungen - die Gerechtigkeitslücke wird immer größer.
Der Autor schreibt ganz allgemein von "der Politik", die die Gesellschaft spalte. Doch wen meint er damit wohl? Es gibt nur eine Partei, die im vergangenen Jahrzehnt stets an der Regierung war: Die SPD. Wenn Schreiner die Reformen verdammt, die er stets nur höhnisch in Anführungszeichen setzt, verdammt er die Reformen seiner eigenen Partei - namentlich die Agenda 2010 und die Gesetze der ersten rot-grünen Amtszeit. Ottmar Schreiner spannt den historischen Bogen. Er erinnert an den wilden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, in dem den Menschen nur Eigentum Anerkennung und Sicherheit verschafft habe - die Arbeiter waren deklassiert. Dann hätten Gewerkschafter und Politiker den Sozialstaat erkämpft, der jedem Bürger Sicherheit bot - und der Gesellschaft Zusammenhalt und sozialen Frieden. Ein Pakt für alle. Nun habe die Politik, also auch seine SPD, den Pakt gebrochen. Schlimmer kann ein politischer Vorwurf kaum sein. Zumal Schreiner die Weimarer Republik bemüht, in der eine tiefe soziale Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich zum Totengräber der Demokratie geworden sei. Schlimmer kann eine Abrechnung mit der eigenen Partei kaum ausfallen. Womit wir mitten in der Frage wären, ob Chefankläger Schreiner womöglich recht hat. Manches, was der Autor auf 232 Seiten ausbreitet, kann jenseits vieler Parteigrenzen auf Zustimmung rechnen. Ja, es ist ein Skandal, dass Bildung immer noch so stark vom Einkommen der Eltern abhängig ist. Ja, es ist beunruhigend, dass die Mittelschicht schrumpft und Beschäftigte stärker um ihren Arbeitsplatz fürchten als früher. Und ja, viele Deutsche werden mit Schreiner beklagen, dass Manager vor einem Jahrzehnt das 19-fache eines Facharbeiters verdienten, heute aber bereits das 44-fache. So weit, so gut, oder vielmehr: schlecht. Doch wer weiter liest, findet manche Formulierung, die schlicht übertrieben ist. Oder einfach falsch. Kostprobe:
Auch ein gutes Mittelschichteinkommen reicht heute kaum noch aus, Kindern eine ordentliche Ausbildung zu finanzieren.
Oder das:
Alles in allem ist durch die Steuerreformen einzig die Oberschicht begünstigt worden.
Oder dieses:
Nutznießer der Agenda 2010 war ausschließlich die Oberschicht.
Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte nicht einfach Glaubenssache sein. Die Wahlbürger dürfen erwarten, dass Volksvertreter die gesellschaftliche Realität aufmerksam beobachten. Doch wenn es um den empirischen Befund geht, wird bei Schreiner allzu oft Analyse durch Ideologie ersetzt. Der Chefankläger kann nicht verschweigen, dass die Zahl der Arbeitslosen seit Verkündung der Agenda 2010 im März 2003 um eine Million zurückgegangen ist. Doch er möchte jede Kausalität unbedingt leugnen. Zu der Frage, ob die Reformen die Arbeitslosigkeit reduziert hätten, schreibt er: ein schlüssiger Beleg werde nicht erbracht. Ja, wahrscheinlich lag es am guten Wetter oder am Zufall, dass die Arbeitslosigkeit über einen längeren Zeitraum deutlich geschrumpft ist. Intellektuell redlich wäre es, die Vor- und Nachteile der Agenda 2010 gegenüberzustellen. Sie hat den Sozialstaat finanzierbarer gemacht, den Deutschen mehr Eigenverantwortung aufgebürdet und so die Grundlagen für Arbeitsplätze geschaffen. Der Preis dafür war eine stärkere Ungleichheit und für manche ein schnellerer sozialer Abstieg. Das kann man diskutieren und sich für oder gegen die Agenda entscheiden, oder für irgendwas dazwischen. Bei Schreiner gibt es kein Abwägen der Vor- und Nachteile, es gibt nur pauschale Ablehnung und plattes Neinsagen. Niedrigere Steuern für Unternehmen sind für ihn genauso generell Teufelszeug wie moderate Lohnabschlüsse oder der Versuch, wegen der Alterung der Gesellschaft den Rentenbeitrag für die heutigen Arbeitnehmer zu stabilisieren. Und was hat Chefökonom Schreiner an Rezepten zu bieten? Das übliche: Höhere Steuern für Reiche, höhere Löhne für alle und was des Sozialromantikers Füllhorn mehr ist. Ganz am Schluss des Buches, auf Seite 224, findet sich ein interessanter Satz:
Wunschkonzerte helfen in der sozialen Wirklichkeit kaum weiter.
Damit hat der Autor völlig recht. Leider versäumt er es, diese Weisheit auf den übrigen Seiten zu beherzigen. Und deshalb ist sein Buch für Parteilinke wie -rechte gleichermaßen eine Warnung. Wenn die SPD auf puren Populismus a la Schreiner einschwenkt, ist sie verloren. Dieses Feld hat sein saarländischer Landsmann Oskar Lafontaine bereits besetzt. Die wirklich spannende Frage nach der Lektüre des Buches ist, warum ihm Schreiner nicht längst zur Linkspartei gefolgt ist.
Alexander Hagelüken hat für uns das Buch von Ottmar Schreiner besprochen. Es heißt: "Die Gerechtigkeitslücke. Wie die Politik die Gesellschaft spaltet", es hat 270 Seiten, ist im Propyläen-Verlag erschienen und kostet Euro 19,90.
Wer sein Buch aufklappt, stößt schon im Vorwort auf erstaunliche Sätze:
Ein Überzeugungskern ist bei den Volksparteien kaum mehr sichtbar. Weder hier noch dort wären Umrisse eines gesellschaftlichen Konzepts sichtbar, für die es sich erfolgreich zu werben lohnte.
Moment mal: Hier erklärt jemand, die SPD habe keine Überzeugungen und kein Konzept mehr, für das sich zu kämpfen lohne. Und es ist kein neutraler Beobachter, sondern ein Volksvertreter genau jener Partei, der er politisches Eunuchentum unterstellt - also bloße Machtgier. Der Leser merkt schnell, dass diese Anklage kein Ausrutscher ist, sondern Programm. Originalton Schreiner:
Das Wesen von Politik ist, die Gesellschaft zu gestalten. Das heißt heute vor allem: Sie zusammenhalten. Politik muss ausgleichen. Genau das geschieht in Deutschland nicht. Die Politik trägt ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung für gesellschaftliche Spaltungen - die Gerechtigkeitslücke wird immer größer.
Der Autor schreibt ganz allgemein von "der Politik", die die Gesellschaft spalte. Doch wen meint er damit wohl? Es gibt nur eine Partei, die im vergangenen Jahrzehnt stets an der Regierung war: Die SPD. Wenn Schreiner die Reformen verdammt, die er stets nur höhnisch in Anführungszeichen setzt, verdammt er die Reformen seiner eigenen Partei - namentlich die Agenda 2010 und die Gesetze der ersten rot-grünen Amtszeit. Ottmar Schreiner spannt den historischen Bogen. Er erinnert an den wilden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, in dem den Menschen nur Eigentum Anerkennung und Sicherheit verschafft habe - die Arbeiter waren deklassiert. Dann hätten Gewerkschafter und Politiker den Sozialstaat erkämpft, der jedem Bürger Sicherheit bot - und der Gesellschaft Zusammenhalt und sozialen Frieden. Ein Pakt für alle. Nun habe die Politik, also auch seine SPD, den Pakt gebrochen. Schlimmer kann ein politischer Vorwurf kaum sein. Zumal Schreiner die Weimarer Republik bemüht, in der eine tiefe soziale Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich zum Totengräber der Demokratie geworden sei. Schlimmer kann eine Abrechnung mit der eigenen Partei kaum ausfallen. Womit wir mitten in der Frage wären, ob Chefankläger Schreiner womöglich recht hat. Manches, was der Autor auf 232 Seiten ausbreitet, kann jenseits vieler Parteigrenzen auf Zustimmung rechnen. Ja, es ist ein Skandal, dass Bildung immer noch so stark vom Einkommen der Eltern abhängig ist. Ja, es ist beunruhigend, dass die Mittelschicht schrumpft und Beschäftigte stärker um ihren Arbeitsplatz fürchten als früher. Und ja, viele Deutsche werden mit Schreiner beklagen, dass Manager vor einem Jahrzehnt das 19-fache eines Facharbeiters verdienten, heute aber bereits das 44-fache. So weit, so gut, oder vielmehr: schlecht. Doch wer weiter liest, findet manche Formulierung, die schlicht übertrieben ist. Oder einfach falsch. Kostprobe:
Auch ein gutes Mittelschichteinkommen reicht heute kaum noch aus, Kindern eine ordentliche Ausbildung zu finanzieren.
Oder das:
Alles in allem ist durch die Steuerreformen einzig die Oberschicht begünstigt worden.
Oder dieses:
Nutznießer der Agenda 2010 war ausschließlich die Oberschicht.
Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte nicht einfach Glaubenssache sein. Die Wahlbürger dürfen erwarten, dass Volksvertreter die gesellschaftliche Realität aufmerksam beobachten. Doch wenn es um den empirischen Befund geht, wird bei Schreiner allzu oft Analyse durch Ideologie ersetzt. Der Chefankläger kann nicht verschweigen, dass die Zahl der Arbeitslosen seit Verkündung der Agenda 2010 im März 2003 um eine Million zurückgegangen ist. Doch er möchte jede Kausalität unbedingt leugnen. Zu der Frage, ob die Reformen die Arbeitslosigkeit reduziert hätten, schreibt er: ein schlüssiger Beleg werde nicht erbracht. Ja, wahrscheinlich lag es am guten Wetter oder am Zufall, dass die Arbeitslosigkeit über einen längeren Zeitraum deutlich geschrumpft ist. Intellektuell redlich wäre es, die Vor- und Nachteile der Agenda 2010 gegenüberzustellen. Sie hat den Sozialstaat finanzierbarer gemacht, den Deutschen mehr Eigenverantwortung aufgebürdet und so die Grundlagen für Arbeitsplätze geschaffen. Der Preis dafür war eine stärkere Ungleichheit und für manche ein schnellerer sozialer Abstieg. Das kann man diskutieren und sich für oder gegen die Agenda entscheiden, oder für irgendwas dazwischen. Bei Schreiner gibt es kein Abwägen der Vor- und Nachteile, es gibt nur pauschale Ablehnung und plattes Neinsagen. Niedrigere Steuern für Unternehmen sind für ihn genauso generell Teufelszeug wie moderate Lohnabschlüsse oder der Versuch, wegen der Alterung der Gesellschaft den Rentenbeitrag für die heutigen Arbeitnehmer zu stabilisieren. Und was hat Chefökonom Schreiner an Rezepten zu bieten? Das übliche: Höhere Steuern für Reiche, höhere Löhne für alle und was des Sozialromantikers Füllhorn mehr ist. Ganz am Schluss des Buches, auf Seite 224, findet sich ein interessanter Satz:
Wunschkonzerte helfen in der sozialen Wirklichkeit kaum weiter.
Damit hat der Autor völlig recht. Leider versäumt er es, diese Weisheit auf den übrigen Seiten zu beherzigen. Und deshalb ist sein Buch für Parteilinke wie -rechte gleichermaßen eine Warnung. Wenn die SPD auf puren Populismus a la Schreiner einschwenkt, ist sie verloren. Dieses Feld hat sein saarländischer Landsmann Oskar Lafontaine bereits besetzt. Die wirklich spannende Frage nach der Lektüre des Buches ist, warum ihm Schreiner nicht längst zur Linkspartei gefolgt ist.
Alexander Hagelüken hat für uns das Buch von Ottmar Schreiner besprochen. Es heißt: "Die Gerechtigkeitslücke. Wie die Politik die Gesellschaft spaltet", es hat 270 Seiten, ist im Propyläen-Verlag erschienen und kostet Euro 19,90.