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Stachel und Speer

Soziale Regeln gehören zum nicht verbalisierten Inventar des Menschen. Er macht sich im allgemeinen keine Gedanken darüber, warum er im Beruf anders kommuniziert als zu Hause, wie oft und in welcher Situation er die Rolle wechselt und wo er im gesellschaftlichen Machtgefüge steht. All dies läuft implizit ab, und die Wissenschaft, die sich explizit mit diesen Regeln beschäftigt, hat sich nach einem kurzen Popularitätsschub Ende der sechziger Jahre wieder ins Korps der akademischen Randfächer eingeordnet. Wer heute Wissen und Rat über alltägliche soziale Verhaltensweisen sucht, wendet sich an die Psychologie, nicht an die Soziologie. Deren Urväter und Klassiker, allen voran Georg Simmel, waren dem Leben freilich schon einmal näher, als es der heutigen Sozialwissenschaft der Drang nach quantifizierbaren Ergebnissen erlaubt.

Florian Felix Weyh |
    Da tut eine Neuerscheinung gut, die die essayistischen Tugenden der eigenen Beobachtung und des Selberdenkens pflegt, ohne deswegen gleich als unwissenschaftlich zu gelten. Der Berliner Soziologe Rainer Paris legt mit seiner Sammlung "Stachel und Speer" ein solches Werk vor. "Dreierlei Schimpfklatsch" etwa lautet einer der Aufsätze, "Negatives Organisieren" ein anderer, der sich mit der Kunst der Intrige befaßt, "Solidarische Beutezüge" betitelt er drittens seine "Theorie der Seilschaft". Die Sprache verrät, daß hier ein geschliffener, scharfzüngiger Geist die Messer wetzt, denn alle zehn Aufsätze – zusammengefaßt unter dem Obertitel "Machtstudien" – sezieren ohne persönliche Vorliebe für die eine oder andere Gruppierung Dominanzstrategien im Wettkampf um die Macht. "Welche Macht?" ist man geneigt zu fragen, und das führt zu einer verblüffenden Antwort: jede Macht nämlich, die Überlegungen des Autors lösen sich bei der Lektüre von den Umständen, an die sie ursprünglich geknüpft waren. In der Entstehungszeit von 1985 bis 1998 geschah im politischen Leben so manches, was die Texte hätte überholen können; statt dessen erweisen sie mit zunehmendem Abstand ihre Überzeitlichkeit. Wo Paris sich in einem Text von 1987 mit der Struktur von Drohungen auseinandersetzt, läßt sich mühelos das Reagansche SDI-Projekt als Anlaß ausmachen, doch ebenso mühelos kann man damit das Scheitern der aktuellen Balkanpolitik nachzeichnen, ja die Thesen sogar auf jeden beliebigen Ehe- und Beziehungskonflikt übertragen. Im "Kurzen Atem der Provokation" von 1989 schimmern der Aufstieg der Grünen und ihre regelmäßigen Orientierungskrisen zwischen Tabubruch und bürgerlicher Anpassung durch. Man kann diesen Aufsatz aber genauso gut auf die DDR-Opposition anwenden, oder damit das Dilemma des aktuellen, in der Sackgasse der Provokation stagnierenden Theaterbetriebs analysieren.

    Aufschlußreich sind Paris' Texte vor allem deshalb, weil sie sich mit den Strategien der Minder- und Mittelmächtigen auseinandersetzen, und wenn auch so nicht gedacht, wirkt der Band an vielen Stellen wie Machiavelli fürs Fußvolk. Denn Wissen um die Systeme des Machttransfers – und um die Grenzen der eigenen Wirksamkeit – erhöht die Zielgenauigkeit sozialen Widerspruchs. Mit den Erfolgen ist es allerdings nicht weit her. "Oftmals müssen sich die Provokateure den Erfolg ihrer Provokation nachträglich selber erst einreden, um die erwünschte Bestätigung zu bekommen", notiert Rainer Paris süffisant; auch Drohungen führen selten zum Ziel. Ihre Folgekosten – nämlich das Dilemma, bei Nichterfüllung Sanktionen ausüben zu müssen – sind für den Mindermächtigen verheerend; ihm fehlt es ja genau an der Macht zu Sanktionen. Zu allem Überfluß muß er bei Rainer Paris auch noch einen distanziert ironischen, manchmal schadenfrohen Ton ertragen, den sich der Soziologe beim Betrachten der aussichtslosen Machtambitionen nicht verkneifen kann. Die Repressionsmöglichkeiten von unten nach oben sind eben denkbar gering, es gilt: "Ein Stachel ist nur ein Stachel und längst noch kein Speer"; nur angeschlagene Machthaber stürzen über Nadelstiche, gut etablierte halten sogar Schwerthieben stand.

    Bleibt als Guerillataktik nur die Seilschaft und das "negative Organisieren" via Intrige. Auch hier ist das unterste Glied einer Gemeinschaft chancenlos; um zu intrigieren, um in eine Seilschaft aufgenommen zu werden, muß man ein Mindestmaß an Einfluß und Informiertheit mitbringen, denn Seilschaften sind kosten/nutzen-orientiert, und Intriganten finden nur Partner, wenn sie ihrerseits etwas bieten können. Dem gänzlich Machtlosen steht nur der "Schimpfklatsch" offen, oder dessen Steigerung, das Keifen. Ihm ist im vorliegenden Band eine soziologische Preziose gewidmet, ernsthaft und doch einen Hauch satirisch. Gekeift wird vornehmlich von alten Frauen, die in patriarchalischen Ehegefängnissen eingemauert sind und ihr Leiden wahllos an der Welt abtragen. "Glück gibt es nur, wo zwei sind", vermerkt Rainer Paris. "Das Keifen zeigt an: Hier sind zwei ohne Glück." Glück für die Menschheit: Es ist im Aussterben begriffen.