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Stadt der Fata Morgana

In der Antike pulsierte das Leben in Reggio di Calabria. Doch das Interesse an der Südspitze Kalabriens liess mit der Zeit nach. In den 70er-Jahren verlor Reggio dann seine Bedeutung als Regionshauptstadt - trotz heftigem Widerstand. Seither ist das Leben an der Meerenge ruhig und beschaulich - mit seinen ganz besonderen Eigenheiten, wie der Fata Morgana von Reggio.

Von Karl Hoffmann |
    " Es ist schön heute, aber ein wenig bedeckt. Wenn die Luft klarer ist, dann sieht man ihn ganz besonders gut. Er scheint gleich gegenüber. Wirklich ein Privileg, diese Aussicht, wie auf der Brücke eines Schiffs. "

    Trotz hochmoderner Navigationssysteme gibt es im Stretto immer wieder Kollisionen – nach einem Zusammenstoß zweier Supertanker Mitte der achtziger Jahre entging Sizilien nur knapp einer Umweltkatastrophe. Seitdem ist die Straße von Messina für Schiffe über 50.000 Tonnen gesperrt, alle anderen müssen einen Lotsen an Bord nehmen.

    Die vier Fenster im vierten Stock des Nationalmuseums von Reggio Calabria gehen hinaus auf die Straße von Messina. Zu sehen im Hintergrund, heute etwas verschwommen ist er, der Ätna, ein gewaltiger Kegel mit deutlich sichtbarer Rauchwolke, davor das stets gleißende Meer, der stretto, wo er immer enger wird und direkt gegenüber die grünbraunen Berge Siziliens und an ihrem Fuß die Häuser von Messina. Elena Tettamanzi leitet dieses Museums, das wertvolle Schätze aufbewahrt. Etwa die einmaligen antiken Bronzen von Riace aus der Zeit, als Reggio noch in voller Blüte stand. Die kleine etwas rundlich und sehr gemütlich wirkende ältere Dame öffnet die Türen und tritt hinaus auf ihren Balkon mit der einmaligen Aussicht.

    " Dort unten lag die ganze griechische Stadt samt Stadtmauern, sie fing an dort, wo die Eisdiele von Cesare ist, kann ich ihnen übrigens empfehlen, das beste Eis in der Stadt. Von dort entlang dem Strand breitete sich die antike Stadt aus. Genau gegenüber am anderen Ufer liegt Messina. Es waren zwei Städte, die einen gemeinsamen Ursprung hatten, gegründet von griechischen Einwanderern, die sich im 8 Jahrhundert vor Christus hierher aufmachten. Und über lange Zeit beherrschten sie den Schiffsverkehr vom Mittelmeer zum Rest Italiens, sie waren mächtig, ließen sich Maut bezahlen. Eine gewisse Zeit lebten die beiden Städte in Frieden miteinander, oft aber bekriegten sie sich. "

    Die Römerin Elena Tettamanzi wurde als Soprintende Archeologica, als Leiterin der archäologischen Aufsichtsbehörde, vor 20 Jahren nach Reggio Calabria versetzt. Am Anfang fiel ihr das Leben hier schwer.

    " Das ist schon ein Unterschied. Verglichen mit Rom, einer europäischen Metropole, oder auch einer kleineren Stadt wie Florenz ist die Geschichte hier ganz anders verlaufen. Es gibt viel weniger, weniger Theater und kulturelle Veranstaltungen, etwa Konzerte, das ist das Los aller Provinzstädte. Es gibt nicht viele Traditionen hier. In der Antike war es dagegen ein wichtigstes Zentrum, nicht so wichtig wie Athen, aber es herrschten enge Beziehungen zu Athen. "

    Reggio Calabria war in den letzten 2000 Jahren heftig umkämpft, zwischen Römern, Sarazenen, Normannen und Spaniern und hat dabei ständig an Bedeutung verloren. Anfang der 70er Jahre machte die Stadt allerdings noch einmal Schlagzeilen: weil die Regierung im fernen Rom beschlossen hatte, die Regionsverwaltung von Reggio nach Catanzaro zu verlegen, gingen die Bürger auf die Barrikaden. Militär belagerte die Stadt eineinhalb Jahre lang mit Panzern. Es gab Tote und Verletzte. Enzo Rogolino war damals einer der jugendlichen Protestler:

    " Wir waren von der Außenwelt abgeschnitten, ich war 16. Und ich leugne nicht, dass ich mitgemacht habe hinter den Barrikaden. Ich habe damals ein Stück meiner Familiengeschichte verteidigt, schließlich bin ich reinrassiger Reggino seit vielen Generationen. Auch ich habe – obwohl ich noch so jung war - die Regierungsentscheidung von damals als Unterdrückung empfunden, als Repressalie gegen die Stadt meiner Vorväter, also ging auch ich mit vielen anderen Jugendlichen auf die Straße. Es war eine Guerrillia, das war die erste wirkliche Revolte gegen das schändliche Betragen der Politiker der damaligen Zeit. "

    Viel genützt hat es nicht, Reggio verlor seine Bedeutung als Regionshauptstadt, die Beziehungen zur Zentralregierung sind auch heute alles andere als herzlich. In Reggio überlebt man mit einer Mischung aus Resignation und Lokalpatriotismus. Und dank der Schönheit der Natur an dieser einmaligen Mehrenge. Enzo Rogolino, der einstige Revolutionär, ist heute selbst Regionalpolitiker mit schickem weißem BMW, sportlich elegant gekleidet, mit einer Rolex, die am Handgelenk baumelt. Er deutet hinüber auf die andere Seite und wechselt geschickt das Thema.

    " Reggio Calabria wird auch die Stadt der Fata Morgana genannt. Bei besonderen Wetterbedingungen scheint die Häuserfront von Messina auf der anderen Seite im Wasser zu stehen, sie ragt aus dem Nichts in die Höhe. Ein einmaliges Schauspiel, das man allerdings nicht alle Tage zu Gesicht bekommt. Sondern nur bei ganz bestimmten Bedingungen. Ich bin jetzt 48 Jahre alt und habe die Fata Morgana nur zweimal in meinem Leben gesehen. "

    Vom nahen Dom läuten die Glücken. Die Messe ist aus, in den schnurgraden Straßen von Reggio staut sich für eine halbe Stunde der Verkehr. Danach ist die Stadt wie ausgestorben. Zeit fürs Mittagessen.