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Stadt des Weltbürgers Albert Schweitzer

Wenn man in Kaysersberg in Restaurant und Winstub von Olivier Nasti einkehrt, dann isst man wahrlich bei Gott in Frankreich - Spargel mit Langustinen gefüllt, oder Lamm mit Kichererbsenpüree und Minzconsommé, Honig-Hímbeer-Creme an Balsamico.

Von Detlef Urban |
    Monsieur Nasti erhielt 2007 die Auszeichnung "Meilleur Ouvrier de France" – Bester Handwerker Frankreichs – eine Ehrung mit hohem Prestige, die Kochlegende Paul Bocuse erhielt sie 1961. Wer ins Elsass fährt, hat es auf die gute Küche abgesehen oder auf den guten Wein. Oder auf beides. Olivier Nasti, der auf der französischen Kochklaviatur manche Etüde zu komponieren weiß, klärt uns auf über das Wesen der elsässischen Küche.

    "Ich würde sagen: Die elsässische Küche ist eine sehr bodenständige Küche, die sich an Festen orientiert und ganz in der Familie verankert ist. Sie hat viel Tradition, aber sie ist auch so offen, dass man neue Kreationen probieren kann. Wir bieten zum Beispiel in der Weinstube ein wirkliches traditionelles Sauerkraut an. Aber ich kann in der Küche auch gern ein Champagner-Sauerkraut zubereiten, sehr zart, sehr fein, wenn es gewünscht wird."

    Neben den Standards Zwiebelkuchen und Flammkuchen gibt es natürlich Klassiker wie Chucrute alsacienne – Elsässisches Sauerkraut mit Schlachteplatte oder Leberknöpfle, zugegeben alles nichts für Vegetarier, aber auch Bibbelekas oder Siesskas, Münsterkäse mit Crème fraîche und einem Hauch von Kirschwasser. Und natürlich Bäckersuppe, auch Baeckeoffe genannt. Der Küchenchef erklärt:

    "Du tust Schweinefleisch, Lamm und Rind zusammen in eine Terrine, dazu kommt Weißwein, natürlich aus dem Elsass und Gemüse: Zwiebeln, Lauch, Karotten und Kartoffeln, Knoblauch, Nelken, etwas Butter. Deckel drauf und vier Stunden kochen lassen. Das Gericht hat Tradition: Wenn der Bäcker frühmorgens fertig war mit dem Brotbacken, und die Frauen die Wäsche gewaschen hatten, kam die Terrine in den noch warmen Backofen. Deshalb der Name Baeckeoffe."

    Von Colmar, also linksrheinisch, ist man nach gut zehn Kilometern in Kaysersberg, am Fuß der Vogesen. Ein schmuckes Städtchen, viel Fachwerk, geschnitzte Fensterläden, Geranien in Terracotta-Kästen. An den Ortsrändern erheben sich Weinberge. Patisserien und Boulangerien: Ein Junge tritt heraus, schwingt sich aufs Fahrrad, das Baguette unter dem Arm. Ja, wir sind in Frankreich. Man lebt hier von Touristen, zwei Millionen pro Jahr. Kaysersberg liegt am südlichen Ende der elsässischen Weinstraße. Die Stadt hat es zu Wohlstand gebracht, das sieht man ihr an. Stilisierte metallene Ausleger über mancher Tür machen Werbung: eine alte Töpferei, das Restaurant "Le Kaysersberg" mit blechernem Pianospieler auf dem Ausleger, gleich gegenüber 'L'Ami Fritz' – ein Winzer mit Tabakspfeife in der Rechten und drei Weinflaschen in der Linken, und so weiter. Namen von Weinhändlern verbleichen an Fassaden: Salzmann, Haas, Schwach, Sick – elsässische Namen, kein französischer. Francois Stoll ist einer der letzten fünf Winzer in Kaysersberg. Bei ihm kann man im Keller Riesling, Pinot Gris oder Gewürztraminer verkosten. Aber: Zwischen den Fässern gelten klare Regeln. Klopfen ist verboten.
    Francois betreibt ein kleines Weingut, knapp 250 Hektoliter pro Jahr, 25.000 Flaschen, ein Familienbetrieb, der stolz ist, sein Produkt nur ab Keller direkt zu verkaufen. Nichts geht in Warenhäuser oder Supermärkte.

    Auf dem Schlossberg unter der Schlossruine über Kaysersberg gedeiht sein Spitzenwein. Südhänge - die Reben werden nicht höher als 60 Zentimeter und werden regelmäßig zurückgeschnitten, dann tragen sie besser - Trauben und Wein bekommen mehr Zucker und Alkohol. Francois bewirtschaftet sechseinhalb Hektar in seinem Zweimannbetrieb. Gerade soviel, dass man über die Runden kommt und noch ein bisschen investieren kann. Täglich ist er mit dem Schwiegervater, der schon 86 ist, auf der Parzelle. Die intensive Pflege zahlt sich aus.

    Mit Francois lässt es sich lange plaudern, zum Beispiel über den Tokaj, den einst ein Adliger aus Ungarn mitgebracht haben soll und den sie jetzt nicht mehr so nennen dürfen – Brüssel hat es den Elsässern nach einer Klage aus Ungarn untersagt. So heißt ihr Tokaj jetzt Pinot Gris, Grauburgunder. Womit wir bei der Erfahrung des vergangenen Abends wären, dass mancher Elsässer Winzer seinen Grauburgunder mit Zucker anreichert, was er zwar nach dem Gesetz darf, doch für Francois Stoll ist das eine Unsitte, sozusagen Opportunismus gegenüber den Konsumenten. Manche hätten nun mal einen McDonalds-Geschmack, sagt Francois und blickt wie ein Terrier, dem man ein Glas Riesling vor die Nase hält. Hauptsache süß wollten viele, was der Wein noch bringe, spürten die gar nicht mehr. Francois' Riesling ist trocken und auch sein Pinot Gris. Dafür nennt er Gründe, die man ihm abnimmt, je länger man ihn betrachtet.

    Dass Kaysersberg ein Schmuckkästchen ist, verdankt es den Winzern. Der Vater von Francois Stoll hat sich im Gemeinderat vor 30 Jahren dafür eingesetzt, dass die Stadt ihren Charme polierte, als viele Dörfer im Elsass noch ärmlich blieben. Die Weiß, ein Fluss, der aus den Vogesen gespeist wird, schlängelt sich durch Kaysersberg hindurch, hinter vorspringenden Fachwerkhäusern. Bereits die Römer unterhielten hier eine Handelsstraße. Kaysersberg wurde im frühen Mittelalter eine befestigte Stadt, Kaiser Adolf von Nassau verlieh ihr 1293 die Rechte einer freien Reichsstadt. Irgendwie hat die Stadt immer Glück gehabt: Weinbauern siedelten sich an, sie bauten Türme, Fachwerkgehöfte und Burggräben. Den Winzern folgten die Zimmerleute und natürlich Töpfer und Fassbinder, Schmiede und Bäcker. Eine imposante Kirche wurde errichtet, die Kreuzkirche, heute St. Croix. Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert, das Portal im romanischen Stil. Doch die meisten Gebäude sind im Mittelalter entstanden und von der Renaissance geprägt. Kaysersberg lebte vom Handel, und hier wurde Zoll kassiert.

    Kaysersberg hat auch später Glück gehabt: Während des Zweiten Weltkriegs verlief die Frontlinie nur zwei Kilometer entfernt, das östlicher gelegene Ammerschwihr wurde nahezu zerstört.

    Vom Brunnen vor der Kreuzkirche zieht es uns in die Oberstadt. Ein Gewitter staut sich vor den Vogesen, wir retten uns in ein kleines Museum, Zeit für den Besuch einer Ikone. Das "Musee Albert Schweitzer" ist dessen Geburtshaus. Der Arzt von Lambarene im afrikanischen Gabun verbrachte hier die ersten Lebensmonate. 30.000 Touristen besuchen jährlich das Geburtshaus, viele kommen seinetwegen nach Kaysersberg, nur 300 hingegen zieht es ins lokale städtische Museum, das meistens geschlossen ist. Die Stadt wuchert natürlich mit dem Pfund eines so berühmten Sohnes der Stadt, geboren 1875, den ältere Kaysersberger aber erst kennenlernten, wenn er zu Besuch aus Afrika kam, um mit Orgelkonzerten Spenden für sein Busch-Hospital zu sammeln.
    Madame Keller ist stellvertretende Vorsitzende der Albert-Schweitzer-Gesellschaft in Kaysersberg.

    Albert Schweitzer spielte mit Vorliebe Werke von Johann Sebastian Bach. Knapp 500 Orgelkonzerte hat er gegeben. Der studierte Theologe und Arzt war ein begnadeter Musiker. Sogar mit Albert Einstein habe er musiziert, wird hier erzählt, als er sich Ende der 20er-Jahre zu Studien an der Berliner Humboldt-Universität aufhielt. Albert Einstein an der Violine, Albert Schweitzer am Klavier. Was Einstein später tief beeindruckte, war Albert Schweitzers Motto "Ehrfurcht vor dem Leben". Madame Keller bedauert, dass viele junge Leute den großen Humanisten Schweitzer kaum noch kennen, in Frankreich noch viel weniger als in Deutschland.

    Auch wenn Kaysersberg die Touristen anzieht, die Erinnerungen an Schweitzers Lebenswerk liegen doch eher im Dorf Günsbach, 20 Minuten entfernt von Kaysersberg. Dorthin wurde sein Vater, ein lutherischer Pfarrer, versetzt, als der kleine Albert gerade ein halbes Jahr alt war. Günsbach war Mittelpunkt der Familie, hier wuchs Albert Schweitzer auf, hierhin kehrte er stets zurück. Das alte Pfarrhaus ist heute Gedenkstätte. Sonja Poteau, die Museumsleiterin, kannte den Urwalddoktor noch persönlich. Sie hat als Hebamme in Lambarene gearbeitet.

    Das Albert-Schweitzer-Haus ist noch heute Wohnort für seine Tochter Rhéna, wenn sie, inzwischen hoch betagt, zu Besuch kommt. Albert Schweitzer verstand sich immer als Elsässer und damit als Grenzgänger. Deshalb widerstand er nationalistischen Auswüchsen, sagt Sonja Poteau, sei es in Frankreich oder in Deutschland. So schloss er einmal einen Brief nicht "mit deutschem Gruß", wie das bei den Nationalsozialisten üblich war und ihm eine Behörde geschrieben hatte, sondern "mit zentralafrikanischem Gruß". Albert Schweitzer, das lernt man im beschaulichen Elsass, ist durch die Gegensätze seiner Zeit geprägt worden, aber auch durch die Gegensätze seiner Landschaft und deren vielfältiger Kultur.