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Städte
Wie die City tickt

Die Schriftstellerin Hannelore Schlaffer hat in ihrer jüngsten Publikation das öffentliche Leben in der Metropole untersucht. In elf Kapiteln erfasst sie mit analytischer Schärfe Phänomene des aktuellen Großstadtlebens.

Von Martin Krumbholz | 05.02.2014
    Was einst die Hauptattraktion einer großen Stadt ausmachte, war der Boulevard. Der französische Ausdruck leitet sich von "Bollwerk" her, aber längst hatte der Boulevard seinen militärischen Ursprung abgelegt: Er diente dem Flanieren, dem Sehen und Gesehenwerden, dem Betrachten der Schaufensterauslagen. Auch heute gibt es, sogar in Deutschland, noch einige Boulevards, man denke an Unter den Linden, an die Maximilianstraße in München oder die Düsseldorfer Königsallee. Hier existiert bis heute der eine oder andere Kiosk, an dem der Mensch, der Zeit hatte, sich einst eine Zeitung kaufte, sich ins Café setzte und las. Aber das sind nur Reminiszenzen an eine vergangene Epoche.
    Grenzenlose Konsummöglichkeiten
    Was den Bürger – und zumal den Bürger aus dem Umland, aus der sogenannten Provinz – heute in die Metropole zieht, das sind die nahezu grenzenlosen Konsumangebote, die die "City" für ihn bereithält. Und die City mag immer noch in der Innenstadt liegen – dort, wo die Boulevards verlaufen -, aber sie hat nichts mehr mit ihr zu tun. Die City ist ein "Gesamtkunstwerk" aus Glas und Beton, das ausschließlich dem Konsum dient. So sieht es jedenfalls Hannelore Schlaffer, die in den elf Kapiteln ihres handlichen Bändchens Phänomene des aktuellen Großstadtlebens mit analytischer Schärfe erfasst. Das heutige Stadtzentrum sei ein "Knoten", in dem sich die Lebens- und Einkaufskraft des gesamten Umlandes bündele. City sei nicht einfach ein modischer Anglizismus für etwas, das früher Altstadt hieß, schreibt Schlaffer:
    "City bezeichnet eine Novität, ein so noch nie dagewesenes Ensemble aus Architektur, Verkehr und Menschenansammlung."
    Es mischen sich hier Straßenleben und Büroarbeit, Geschäftigkeit und Geschäft. Die Menschen steigen aus dem Untergrund auf – aus der U-Bahnstation oder der Tiefgarage -, laufen durch die Fußgängerzone und fahren auf Rolltreppen in die Glaskuppeln der Kaufhäuser oder in die Büros ihrer Firmen hinauf. Es ist sicher kein Zufall, dass die Glaskuppeln die Steinkuppeln der Kathedralen imitieren, aber dieser architektonische Aspekt interessiert Schlaffer weniger. Sie stellt fest:
    "Die City respektiert keine Aura. Die Andachtsorte der alten Stadt, vor und in denen man stumm, still und staunend verharren konnte, sind abgelöst durch den Lustort Einkaufscenter."
    Zwar bemüht die Autorin sich darum, einen allzu kulturpessimistischen Tonfall zu vermeiden, der den Genuss an der Lektüre trüben würde, aber es ist dennoch unumgänglich, dass es sich um einen dezidiert kritischen Blick handelt, der auf das City-Leben geworfen wird. Spätestens hier:
    "Nicht mehr die Händler und Reisenden aus der großen weiten Welt treffen hier ein; die Bevölkerung aus der Region vielmehr, die hier arbeitet, einkauft und konsumiert, verscheucht alles, was einmal weltstädtische Atmosphäre war."
    Metropole und Provinz
    Damit werde die alte Opposition Metropole/Provinz hinfällig. Die Provinz sucht die Metropole heim, die jene allein durch die Kompaktheit ihres Konsumangebots überbietet. Auch nicht mehr durch die Kleidung heben die Besucher sich von den Bewohnern ab; die City diszipliniere ihre Besucher. Das beginne schon mit der Anordnung der Sitzplätze in den Cafés.
    "Die Stühle der Bistros stehen in Reih und Glied wie in einer Mensa oder Kantine."
    Der Flaneur von einst würde heute lächerlich wirken; das gelte aber auch für den Städter, der in der City die "traditionellen Fähigkeiten der urbanitas vorführen" wollte: Er würde als "Schickeria" verachtet.
    "Sich in der Stadt mondän zu geben, mit dem Auftritt zu spielen, gilt als lächerlich. Die Bühne der Stadt hat längst geschlossen. Der Zuschauerraum ist zwar gedrängt voll, aber unaufmerksam gegen sich selbst."
    Es ist übrigens interessant, wie oft in dieser Phänomenologie der City von der Nahrungsaufnahme die Rede ist. Über die "unentwegte Esslust, die die Menschen in der Stadt befallen hat", kann Hannelore Schlaffer immer noch staunen. Und es trägt nicht wenig zur Freude an der Lektüre bei, dass die enthemmte Esslust des auftretenden Personals die Formulierlust der Autorin anschärft. Die Yuppies wüssten, wie man mit dem Fettgehalt von Fast Food umzugehen habe, schreibt sie:
    "Architektonisch ließe sich der Leibesumfang der Nutzer der Innenstadt an der Höhe der Gebäude ablesen, in denen die Angestellten beschäftigt sind: Je steiler die Vertikale der City, desto schlanker die Menschen auf der Horizontalen ihrer Straßen. Die angereiste, wohlbeleibte Kaufkundschaft wird an den Katzentisch verwiesen."
    Seniorenauftrieb am Morgen, Caféstündchen am Nachmittag, dazwischen aber der High Noon der gutbezahlten Angestellten, die die City temporär in eine Kantine verwandeln: So stelle das Straßenleben in den Zentren sich dar. Übrigens auch in der kalten Jahreszeit: Man sitze dann in Mänteln im Freien, die Fäuste in der Tasche und etabliere "im wörtlichen Sinne Eis-Cafés".
    "In jeder City hat man im Winter die Zugspitze auf der Hauptstraße."
    Und nein: Es ist keine bloße Nörgelei, kein "Rest intellektuellen Hochmuts", der dieses anregende Buch temperiert, sondern die ausgemachte Spottlust seiner Autorin.
    Hannelore Schlaffer: "Die City. Straßenleben in der geplanten Stadt", Verlag zu Klampen, 169 Seiten, 18 Euro.