Donnerstag, 25. April 2024

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Städteforscher Richard Sennett
Für eine Ethik des Bauens

Kann es eine "offene Stadt" für Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen geben? Der Soziologe und Kulturanthropologe Richard Sennett untersucht die Entwicklung dieses Lebensraums seit vielen Jahren. Im DLF forderte er eine neue Ethik des Bauens.

Von Michael Köhler | 19.03.2019
Richard Sennett beim "Kölner Kongress 2019"
Soziologe Richard Sennett beim "Kölner Kongress 2019" im Deutschlandfunk (Hajo Drees)
Bis 2050 werden voraussichtlich zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Das Wachstum ist weiterhin ungebrochen. Und wenn Menschen - wie in Mexiko-Stadt - drei oder vier Stunden fahren, um ein Krankenhaus zu erreichen, ist das nicht in Ordnung, sagt Soziologe Richard Sennett:
"Ein Teil der Auswirkung ist es, dass ein neuer Schauplatz für kapitalistische Ausbeutung entsteht. Nicht für die allerärmsten Einwanderer in die Stadt, sondern für die stabile Arbeiterklasse und die Schichten darüber. Wir bauen Städte, die sehr standardisiert aussehen - mit geringer Qualität, mit sehr wenig öffentlichen Plätzen, die von Menschen genutzt werden können. So ist das städtische Wachstum eher eine Art des Abbaus, eine Verschlechterung der Stadt."
Integration als eigentliches Problem
Das Problem wachsender Städte sei aber nicht der Verlust an Intimität, der Verlust an Nachbarschaft und Vertrautheit, sagt Richard Sennett:
"Das eigentliche Problem liegt in der Integration. Ob die Menschen Arbeit finden, die außerhalb der lokalen Gemeinschaft ist, in der sie sich niedergelassen haben. Wie sie sich kulturell integrieren mit Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. Oder wie die verschiedenen Religionen im öffentlichen Raum miteinander klar kommen. Das Problem - so erscheint es mir - ist nicht Intimität, sondern Integration."
Wer beabsichtige, soziale Spannungen zu vermeiden, verschiebe nur das Problem:
"Es ist nicht der richtige Weg. Reibungen und Konflikte gehören zum Leben. Man muss sie bewältigen und nicht davor weglaufen. Mit dem Anwachsen der extremen Rechten ist ein falscher Glaube entstanden, zu meinen, wenn man Menschen nur ausschließt, separiert, dann bekäme man auch sozialen Frieden. Nein, das bekommen sie nicht. Ich denke, die Herausforderung in Europa ist, wie man miteinander in Berührung kommt. Der Weg, den ich in meinem Buch vorschlage, ist nicht liberales Gutmenschentum und über Unterschiede zu reden, sondern etwas sehr Handfestes: nämlich dass Menschen eine körperliche, eine physische Erfahrung machen, mit Menschen zu leben, die anders sind - sogar dann, wenn wir gar nicht miteinander reden."
Grenzen durchlässiger machen
Vielmehr müssten die Grenzen zwischen den Stadtteilen durchlässiger werden, offener. Dazu zähle auch, dass an großen Plätzen mehr geschehen müsse. Ein Stadtzentrum, das nur aus einer Einkaufsmeile besteht, bedeute für Leute ohne Geld, dass sie nicht teilhaben können am Angebot. So könnten auch Schulen zwischen verschiedenen ethnisch oder religiös geprägten Stadtteilen zum Miteinander beitragen. Es gäbe viele solcher Werkzeuge, aber sie würden kaum genutzt, erklärt Sennett. Was also tun gegen Verteuerung und Entmischung der Stadtteile, was tun gegen Gentrifizierung: Gesetze, Mietpreisbremse, dritte Orte schaffen?
"Alles! Einige Probleme mit der Gentrifizierung sind rasch gelöst. Wenn der Eigentümer von Büros oder Geschäften nicht das Recht hat, die Mieten in kurzer Zeit zu erhöhen, verlangsamen sie den Prozess der Gentrifizierung."
Was wir bräuchten, sei eine Art Ethik des Bauens für unsere Städte, meint der Soziologe. Das fordert Richard Sennett auch in seinem jüngsten Buch: "Das versuche ich ja zu durchdenken. Wie finden sie zwischen dem Nirgendwo und dem Überall, ihr Irgendwo, ihren Platz?"