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Ständiger Hunger

Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa hält die weite Verbreitung von Übergewicht für eine Folge der Beschleunigung des Lebens. In der modernen Konsumgesellschaft bleibe der Mensch beständig hungrig, hungrig nach Erfahrungen und Erlebnissen, sagte Rosa. Konsum sei ein Kompensationsversuch. "Und ich denke, Ernährung ist da ein wesentlicher Bereich davon", schlussfolgerte der Soziologe.

Moderation: Christoph Schmitz |
    Christoph Schmitz: Die Deutschen gelten ja als Exportweltmeister und als Reiseweltmeister. Zum Exportieren und Reisen muss man sich natürlich viel bewegen. Dennoch leidet man bei uns unter Bewegungsmangel. Unsere Landsleute sind zu dick, auch weil sie sich zu schlecht ernähren. Mit dem nationalen Aktionsplan "Fit statt fett" will die Bundesregierung den 39 Millionen dicken Deutschen Beine machen und in ihnen zum einen die Lust an gesunder Nahrung wecken und zum anderen erreichen, dass jeder Bürger am Tag 3000 Schritte zusätzlich zurücklegt. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hat dafür schon einmal 380.000 Schrittzähler herausgegeben.

    Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa hat die Geschichte der Moderne als eine Geschichte der dynamisierten Bewegung, der Beschleunigung beschrieben. Herr Rosa, technische, kommunikationstechnische und gesellschaftliche Beschleunigung einerseits und individueller Bewegungsmangel, also Behäbigkeit und Stillstand anderseits, wie passt das zusammen?, war meine erste Frage.

    Hartmut Rosa: Man würde auf den ersten Blick vermuten, dass das ein Gegensatz sei zu behaupten, auf der einen Seite, dass die Bewegung immer mehr zunehme und allgegenwärtig sei, auf der anderen Seite, dass wir an Bewegungsmangel leiden. Tatsächlich ist es aber bei genauerem Hinsehen überhaupt kein Widerspruch, weil es tatsächlich so ist, dass unser Bewegungsbedürfnis unsere körperlichen Fähigkeiten bei weitem überschritten hat, sprich, die Eigenbewegung unseres Körpers - sei es durch tatsächliche Fortbewegung, was in den 1000 Schritten oder 3000 Schritten zum Ausdruck kommt, aber auch bei der täglichen manuellen Arbeit, da sind unsere Körper so veraltet, so langsam und so zurückgeblieben, dass wir nicht mehr auf die Eigenkraft und die Eigenbewegung des Körpers setzen, sondern auf Maschinen, auf Fortbewegungsmaschinen, auf Produktionsmaschinen. Und deshalb bewegen wir uns nicht mehr selbst, weil wir viel höhere Dynamik, viel höhere Geschwindigkeiten durch den Einsatz der Technik erreichen können, so dass das Ergebnis ist also bewegungsunfähige oder bewegungsunwillige oder kaum bewegte Körper auf der einen Seite und eine hoch dynamische Welt auf der anderen Seite.

    Schmitz: Doch zugleich sagen Sie, durch den technischen Fortschritt entsteht kein Zeitgewinn, sondern Zeitnot vielmehr, weil man die vielen sich bietenden Möglichkeiten in einem Leben gar nicht mehr ausschöpfen kann. Und weil das gerade Erlebte schon nicht mehr up to date ist, hat der Mensch heute längst keine Chance mehr, lebensgesättigt zu sterben - eine Ihrer Vokabeln. Er bleibt also immer hungrig?

    Rosa: Ja, er bleibt hungrig, übrigens nicht nur hungrig nach Erfahrungen und Erlebnissen, vielleicht weil aufgrund der hohen Dynamik, auch aufgrund der hohen Dichte von Erlebnissen, die wir machen, die Erlebnistiefe abnimmt oder weil Erlebnisse nicht mehr zu Erfahrungen werden. Die Wahrnehmung, das wird zwar immer reicher an Gütern und auch an Erlebnissen, zum Beispiel an Erlebnisepisoden, pro Zeiteinheit werden, aber immer ärmer an Zeit ist ja eines der großen Paradoxien der modernen Gesellschaft, der nachzugehen es sich durchaus lohnt.

    Schmitz: Wird denn dieser Hunger kompensiert möglicherweise mit zu viel Essen?

    Rosa: Ja, ich denke, dass man das durchaus sagen kann. Es lässt sich nicht nur im Bereich des Essens, sondern auch überhaupt in unserem Konsumtionsverhalten feststellen. Dabei konsumieren wir nicht nur Nahrung in zu hohem Maße vermutlich, oder ganz gewiss, wie uns die Ernährungswissenschaftler sagen, sondern wir konsumieren auch alle möglichen anderen Dinge. Es gibt fast in allen Bevölkerungsschichten Phänomene von Kaufsucht. Der eine kauft viel zu viel CDs, die er gar nicht hören kann, der andere kauft viel mehr Bücher, als er lesen kann, der Dritte erwirbt ständig irgendwelche Heimwerkerprodukte, die er gar nie einsetzen kann. Also man kann solche Konsumationsakte als Kompensationsversuche überall beobachten. Und ich denke, Ernährung ist da ein wesentlicher Bereich davon.

    Schmitz: Bei Bewegung denkt man auch an Paul Virilios "Rasenden Stillstand", auf der Seite des Kulinarischen hieße das dann "hungrige Saturiertheit"?

    Rosa: Ja, das scheint mir durchaus zutreffend zu sein, aber diese Diagnose des "Rasenden Stillstands" bei Paul Virilio passt natürlich insofern auch zum Thema, als er ja tatsächlich voraussagt, dass wir irgendwann völlig bewegungslos werden. Die Virilio'sche These oder eine Überlegung, die man da anschließen kann, ist, dass in der ersten Phase der Beschleunigungsgeschichte, in der moderne Menschen selbst angefangen haben, sich schnell über die Erdoberfläche zu bewegen, das war die Transportrevolution, in der zweiten Phase, die immer noch andauert, ist es jedoch eher so, dass wir die Welt schnell zu uns hereinholen mittels E-Mail und Internet und Fernsehen und Computer und solchen, Radio und Mobilfunk und so weiter. Das heißt, es gibt immer weniger Gründe, sich zu bewegen.

    Schmitz: Gibt es einen Ausweg oder ein Mittel auszugleichen?

    Rosa: Also ich meine, zunächst hat jeder Einzelne natürlich die Möglichkeit, den unmittelbaren physischen und körperlichen negativen Folgeerscheinungen entgegenzuwirken. Bleibt er aber dabei, dass diese Bewegung eine Art von Luxusbewegung ist, sie hat keine Funktion, wenn Menschen joggen gehen, dann hat dieses Joggen keine andere Funktion als die, den Körper zu bewegen, weil der Körper das eben braucht, weil er ein veraltetes Tier ist sozusagen, eine veraltete Maschine. An dieser Paradoxie wird sich nichts ändern, und deshalb ändert sich auch nichts an dem Grundproblem, dass wir ja das Gefühl haben, wir haben ganz wenig Zeit und uns dann noch mit Luxusaktivitäten wie Bewegen zu beschäftigen, erscheint erst mal unlogisch. Deshalb tun es die meisten Menschen ja auch nicht.

    Es gibt aber vielleicht auch ein individuelles Motiv oder ein kulturelles Motiv: Und dieses kulturelle Motiv liegt darin, dass dieses Beschleunigungsprogramm eine Antwort ist, vielleicht die moderne Antwort auf die Todesproblematik, auf das Problem der menschlichen Endlichkeit. Wir haben uns nämlich in der Moderne vielleicht schleichend und unbemerkt eine Sichtweise zu Eigen gemacht, bei der die Idee, dass schneller Leben bedeutet, den Tod hinauszuschieben, ziemlich stark geworden ist. Die Vorstellung ist die: Ich kann ein Leben definieren durch eine bestimmte Summe an Erlebnismöglichkeiten oder an Erlebnissen, und wenn ich schneller mache, also wenn ich doppelt so oft in Urlaub fahre und doppelt so viele Hobbys ausübe und so weiter, kann ich praktisch zwei Lebenspensen in eine Lebensspanne unterbringen. Das heißt, ich glaube, die säkulare Gesellschaft der Moderne folgt heimlich irgendwie einem Programm, ein ewiges Leben vor dem Tode zu haben. Also der Tod wird zwar irgendwann kommen und alle Optionen vernichten, ich kann aber noch möglichst viel - und wenn ich unendlich schnell werde - unendlich viel erleben, erfahren und tun, bevor ich sterben muss. Und dieser Versuch, diese Logik, möglichst viel noch unterzubringen, bevor wir sterben müssen, als eine Weise, mit der menschlichen Endlichkeit umzugehen, hat ihre Fallstricke und negativen Umschlagpunkte, an denen wir heute leiden, unter anderem körperlich durch Übergewicht.