Freitag, 19. April 2024

Archiv


Stagnation in Kuwait

Das demokratischste Land ist gleichzeitig das wirtschaftliche Schlusslicht in der Golfregion. Trotz Ölexporten müssen die Bürger Energie sparen, der Bau von Flughäfen, Krankenhäuser oder Kraftwerken bleibt aus. Die Infrastruktur liegt brach.

Von Carsten Kühntopp | 03.12.2011
    Mitte November auf den Stufen des Parlaments in Kuwait. Die Menge ruft:

    "Das Volk will den Regierungschef stürzen". Dann schieben einige Dutzend die Polizisten beiseite und bahnen sich den Weg in den Plenarsaal, auch Abgeordnete machen mit - ein Ereignis ohne Beispiel in den arabischen Golfstaaten. Tage später wird der Druck auf den Ministerpräsidenten, Scheich Nasser al-Mohammed al-Sabah, zu groß, mit seinem Kabinett tritt er zurück. Ein Sieg der Opposition: Sie hatte Scheich Nasser Unfähigkeit und Korruption vorgeworfen, und nach monatelangen Protesten hat sie sich durchgesetzt. Keine Frage: Kuwaits Krise - sie schwelt seit Jahren - ist auf ihrem Höhepunkt. Mit Wehmut blickt Haila al-Mekaimi auf die Vergangenheit ihres Landes:

    "Man nannte Kuwait 'die Perle des Golfs'. Kuwait hat eine lange Tradition in Sachen Bildung, Demokratie, Frauenrechte und bei anderen fortschrittlichen Themen. Andere Länder am Golf und in der gesamten arabischen Welt sahen uns immer als Modell."

    Die Kuwaitis sind stolz darauf, in dem demokratischsten Staat der Region zu leben; die öffentliche Debatte ist lebhaft, das Klima liberal, das Parlament hat wirklich etwas zu sagen. Doch in allen anderen Bereichen ist Kuwait längst das Schlusslicht am Golf. Das letzte staatliche Krankenhaus wurde in den Achtzigern gebaut - und das in einem Land, das einer der größten Ölexporteure der Welt ist und seit langem gewaltige Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet. Amer al-Hilal, ein Blogger:

    " Jeden Sommer hält man uns zum Stromsparen an. Ich kann es einfach nicht begreifen, dass man nicht in der Lage ist, Kraftwerke zu bauen, um den Versorgungsengpass zu beseitigen, sondern dass wir Energie aus Katar einführen müssen."
    Im Frühjahr ließ der Emir, Scheich Sabah al-Ahmed al-Jaber al-Sabah, sein Volk beschenken: Jeder Bürger erhielt umgerechnet 2.600 Euro - ein durchschnittliches Monatsgehalt im öffentlichen Dienst. Manch einem kam das wie ein Versuch der Bestechung vor. Der Blogger al-Hilal schrieb im Internet lakonisch, ein neuer Flughafen wäre ihm lieber. Tatsache ist: Der Ölreichtum wirkt nach wie vor sedierend. Abdullah al-Shayji, Politologe an der Universität von Kuwait:

    "Leute, die mit ihrem Leben glücklich und zufrieden sind und im Jahr 50-, 60-, 70-tausend Dollar verdienen, steuerfrei, und die obendrein alle nur denkbaren Subventionen vom Staat erhalten - wieso sollten die revoltieren?"

    Manche sagen, Kuwaits Segen - das starke Parlament - sei zugleich sein Fluch: Allzu populistisch agierende Abgeordnete handelten wie Egomanen und missbrauchten ihre Macht; deshalb kämen Großaufträge zur Modernisierung der Infrastruktur nicht voran. Andere glauben, das Problem sei die Dominanz der Herrscherfamilie. So ist es der Emir, der den Regierungschef ernennt; stets kommt der aus der Herrscherfamilie, nicht etwa aus der größten politischen Gruppierung im Parlament - richtige Parteien sind ohnehin verboten. Der Politologe al-Shayji glaubt, dass es jetzt Zeit wird, das Regierungssystem zu ändern:

    "Ohne grundsätzliche Reformen wird es hier keinen Fortschritt geben. Wir müssen Parteien einführen, die man dann wählen kann; der Ministerpräsident sollte aus dem Volk und nicht aus der Herrscherfamilie kommen; die Partei mit den meisten Stimmen sollte die Regierung bilden können. Ich glaube, das wird kommen, aber es braucht Zeit."

    Al-Shayji warnt jedoch vor einer falschen Schlussfolgerung. Der Emir sei hoch angesehen und sitze fest im Sattel. Niemand stelle die führende Rolle der Herrscherfamilie in Frage.

    "Was wir in vielen arabischen Ländern erleben, ist ein Regimewechsel. Davon ist hier keine Rede. Kuwait hat eine lebendige und gut organisierte Opposition, die einen neuen Ministerpräsidenten wollte - nicht ein anderes Regierungssystem."