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Stalin als kalter Macchiavellist

"Die Kinder vom Arbat" galten als Aufbruchsymbol in der damaligen Sowjetunion, als Bestätigung dafür, dass der gesellschaftliche Umbruch Gorbatschows nicht nur Propaganda war. Der Verfasser des vielbeachteten Romans, Anatolij Rybakow, wurde am 14. Januar 1911 Jahren geboren.

Von Klaus Kuntze |
    Anatolij Rybakows literarisches Werk wird von der Politik Stalins geprägt, von der seines Nachfolgers Nikita Chruschtschow und nach 1986 von Michail Gorbatschow, vom Umbau der Gesellschaft, von Perestrojka und Glasnost.

    Seinen Namen macht sich Rybakow mit einem einzigen Roman, den die Zensur zwanzig Jahre lang unterdrückt. Die Frage, ob er überhaupt veröffentlicht werde, wird zu einem Prüfstein für Gorbatschow. Sensationell schließlich sein Erscheinen Anfang November 1987 in der Zeitschrift "Drushba narodow ". Rybakow notiert:

    "In der Redaktion Alarm: Die Druckereiarbeiter rafften jeder zehn Exemplare, da würde ja nichts für den freien Verkauf übrigbleiben. Auch bei der Post Alarm: Die Zeitschriften wurden aus den Briefkästen gestohlen. Den Abonnenten wurde erklärt: Die 'Drushba narodow' werde nur noch in den Postämtern gegen Vorlage des Passes ausgegeben ... Auf dem Schwarzmarkt wurden astronomische Preise für das Heft verlangt."

    Und das, bei einer Auflage von einer Million Exemplaren! Das Buch verkauft sich ebenso gut im neugierigen Westen; der Titel: "Deti Arbata", zu deutsch: "Die Kinder vom Arbat".
    Anatolij Rybakow, geboren am 14. Januar 1911 im ukrainischen Tschernigow, wächst im traditionsreichen Moskauer Arbat-Viertel auf. Er bejaht das Sowjetsystem, beginnt Transportökonomie zu studieren und stolpert über einen studentischen Scherz, der zum Politikum hochstilisiert wird, in ein Schicksal, wie es Millionen Sowjetbürger in den 30er-Jahren zu erleiden hatten.

    "Ich stieg in das Auto, das auf dem Arbat wartete, rechts und links je ein Posten mit Gewehr, der Wagen jagte durch das nächtliche Moskau, fuhr durch das Gefängnistor.
    Sie sperrten mich in eine Einzelzelle, holten mich zu Verhören, erklärten mich zum Konterrevolutionär, Antisowjetisten und Volksfeind."

    Nach drei Jahren Verbannung in Sibirien und den folgenden Einschränkungen findet er erst als Soldat der Roten Armee wieder gesellschaftliche Anerkennung. Er darf 1946, im Range eines Majors, wieder nach Moskau zurückkehren.
    Der 35Jährige glaubt weiter an das Sowjetsystem, Fehler rechnet er menschlicher Schwäche zu. Erste schriftstellerische Versuche haben Erfolg – Rybakow, ganz auf Linie, wird gelesen, übersetzt, verfilmt. Anfang der 50er-Jahre erhält er sogar den Stalinpreis. Die Mitgliedschaft im Schriftstellerverband bringt Privilegien, dann – ein Einschnitt:

    "Im Februar 1956 hielt Chruschtschow seine berühmte Geheimrede auf dem 20. Parteitag. Nach dem Parteitag schrieb ich den Roman 'Die Kinder vom Arbat'. Chruschtschows Rede hatte mein Leben, wie auch das vieler anderer, gewendet."

    Entstalinisierung! Rybakow sieht sie als Chance. Er will eine für den Sozialismus begeisterte Jugend beschreiben, die an der engstirnigen Parteibürokratie scheitert. Der Roman seiner Generation, seiner Jugend in den 30er Jahren entsteht, die Geschichte der "Kinder vom Arbat."

    "Dem Helden der Trilogie, Sascha Pankratov, habe ich die Ereignisse meines Lebens zugeschrieben, mit Abwandlungen, welche die Prosa erfordert."

    Erklärt das allein die Beachtung, die der Roman bei Erscheinen 1987 erfährt?

    Stalin. Rybakow hatte den sowjetischen Diktator in einen Handlungsstrang des Romans eingeflochten, ihn als brutal charakterisiert, als gewissenlos, selbstherrlich und heimtückisch. Der Kritiker Gregor Ziolkowski schreibt:

    "Den Diktator beim Namen zu nennen und dabei nicht seine Glorifizierung, sondern seine Entlarvung als kalter Macchiavellist mit Blut an den Händen zu betreiben, hatte gewiss mancher vor Rybakow versucht. In der Sowjetunion offiziell veröffentlicht worden war keiner dieser Versuche."

    Daher hofft Rybakow seit Mitte der achtziger Jahre auf Perestrojka und Glasnost. Ja, er nimmt Gorbatschow beim Wort und schickt ihm das Manuskript. Gorbatschow erinnert sich:

    "Bereits als Manuskript wurde es von zahlreichen Menschen gelesen, die das ZK daraufhin mit Briefen geradezu überschütteten und das Buch als 'Roman des Jahrhunderts' bezeichneten. Auch der Name des Verfassers, dessen Schaffen ich kannte, galt etwas, und so setzte ich mich am Ende dafür ein, dass das Buch erscheinen sollte."

    Anatolij Rybakow überlebte den Erfolg um ein gutes Jahrzehnt.