Moskau 1937, ein Schlüsseljahr in der Geschichte Russlands, in der Geschichte der Sowjetunion: 20 Jahre nach der Oktoberrevolution der Bolscheviki Lenins, nach dem bewaffneten Umsturz, wie die Gegner der Kommunisten den Machtwechsel bezeichnen. 1937: Optimismus ist das erwünschte Alltagsmotto, es geht aufwärts im Land der Sowjets, so soll die Botschaft lauten. Doch das ist nur die eine, die glänzende Seite der Medaille.
Ein Butterbrot, eingewickelt in ein Stück Zeitungspapier, auf dem ein Stalin-Foto abgedruckt ist - das reichte damals schon aus, um verhaftet und Repressionen unterzogen zu werden, weiß die Museumsführerin im westsibirischen Lager Perm-39, eine der wenigen Gedenkstätten an das GULag-System, die es heute im Russland des Vladimir Putin und Dmitrij Medvedev noch gibt.
Für die Massenrepressionen der Stalin-Ära, auch dafür steht das Jahr 1937, ein Jahr des geradezu irrwitzigen Wechselbades zwischen lauthals verkündeten wirtschaftlichen und sozialen Erfolgen, einer fast atemberaubenden Dynamik in vielen Bereichen des Alltags und einem oft kafkaesk-anonym daher kommenden Bedrohungs- und Verfolgungsszenario, das für ganze Bevölkerungsschichten Leid, Not und Tod bereithält.
Beeindruckende Zeugnisse von Alltagsabläufen aus jener Zeit, den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Akteure, die nicht selten zu Betroffenen werden, hat Karl Schlögel über lange Zeit akribisch und sicher auch mühsam aus russischen Archiven zusammengetragen, mit den historischen Makro-Bedingungen jener Tage verknüpft und am Ende ein faszinierendes Kaleidoskop zu installieren vermocht: "Terror und Traum - Moskau 1937", lautet der lakonische, die Dimension des Gegenstands aber exakt treffende Titel seiner imponierenden Arbeit.
Individuelle wie auch kollektive psychologische russische Befindlichkeiten bis in die Gegenwart hinein gewinnen mit Schlögels Hilfe klarere Konturen. Etwa eine jederzeit abrufbar erscheinende spezifische Wagenburg-Mentalität: Künstliche, mindestens aber übertrieben beschworene Ängste vor diffusen inneren und äußeren Feinden Russlands, die schuld seien an objektiven Versorgungsproblemen, werden 1937 vom Regime als Unterfutter in eine staatlich gelenkte Massenpsychose eingewoben.
So möchte der Kreml-Herrscher Terror und Repression legitimieren - bis hin zum Vernichtungskrieg gegen große Teile des eigenen Volkes. Der Verlauf der Moskauer Schauprozesse jener Zeit, die sich vor allem gegen angebliche Anhänger des schon zehn Jahre zuvor ins Exil verjagten Leo Trotzkij richten, lege nahe:
"Manchmal konnte es scheinen, als verbürgten lediglich Bedrohung und Gefahr Kontinuität. Die Gewissheit des Feindes gab der Verzweiflung und dem diffusen Hass auf das, was den Menschen angetan worden war, eine Richtung. Je phantastischer die drohende Gefahr, desto fester der Zusammenhalt.
Triumphierend rief (Generalstaatsanwalt) Wyschinski in den Saal: 'Und sind nicht auch die mächtigsten Wogen des Volkszornes gegen die niederträchtigen Mörder, die Wogen, die jetzt unser ganzes Land durchfluten, ein klarer Beweis dieser Einheit?!'
Der Beginn zu einer radikalen Dehumanisierung der Ausgeschlossenen war gemacht. Und Hunderttausende versammelten sich in Fabriken, strömten auf die Plätze, um den Tod der Angeklagten zu fordern. Der wahre Erfolg des Schauprozesses als eines 'Rituals der Liquidation' zeigte sich erst jetzt, in den Kundgebungen der Hunderttausenden, die zu einer 'aufgebrachten
Hetzmasse' geworden und auf dem Roten Platz zum 'Tötungsplebiszit' aufmarschiert waren."
"Wenn jemand glaubt, dass damals die Trotzkisten oder andere Oppositionelle kleine Kinder in kurzen Hosen waren ... - das waren sie ganz bestimmt nicht! Sie waren glühende Gegner des Regimes! Ob uns das Regime gefällt oder nicht! Die Sicherheits-Organe waren Waffen des damaligen Regimes. Und ihre Aufgabe war es, das Regime zu verteidigen. Sonst hätte man sie auseinanderjagen müssen."
So noch jüngst die Worte von Aleksandr Zdanovitsch, einem Sprecher des heutigen russischen Inlands-Geheimdienstes FSB, der Nachfolge-Behörde des sowjetischen KGB, dessen Vorgänger wiederum das NKWD gewesen ist, das bereits während der Massen-Repressionen ab den 30er Jahren gerne auch als "Schild und Schwert der Partei" bezeichnet wird.
Höchst aufschlussreich ist Schlögels Arbeit auch deshalb, weil sie - im Wesentlichen konzentriert auf Moskau, das schon damals das politische Epizentrum des Riesenreiches gewesen ist - eindrucksvoll illustriert, auf welch unterschiedlichen Ebenen sich Anspruch und Wirklichkeit begegnet sind. Parallelität und diametrale Gegenläufigkeit - "Terror und Traum" in einer bizarren Dialektik offenkundig unentwirrbar miteinander verbunden:
"Eine Topographie des Verschwindens. Das Moskauer Adressbuch von 1936."
"Blindheit und Terror: Die unterdrückte Volkszählung von 1937"
"Gastmahl in Zeiten der Pest: Das Puschkin-Jubiläum 1937"
... aber ebenso auf andere Bereiche des Alltags macht Schlögel aufmerksam:
"Chopin-Konzert und Tötungsritual: Radifikazija: Das Radio als Hintergrundgeräusch der neuen Zeit"
"Schaufenster Moskau: Die Fülle der Welt, Warenhunger und schwindlig vor Hunger."
Kunst im weitesten Sinn, Wissenschaft, Technik, Sport und Freizeit, das Alltagsleben im russischen Stalinismus - diese willkürliche Auswahl einiger Kapitel-Überschriften vermag lediglich anzudeuten, welch breiter Basis sich Schlögel bedient.
War es der sprichwörtliche Zufall, dass fast zeitgleich zu Schlögels Buch eine zweite und - in buchstäblich doppelter Hinsicht - ebenso gewichtige Arbeit zum selben Grundthema erschienen ist?
Soviel jedenfalls vorab: Die Lektüre Schlögels sollte keinesfalls den Inhalt von: "Die Flüsterer - Leben in Stalins Russland" aus der Feder von Orlando Figes ersetzen - auch er ist wie Schlögel ein renommierter Kenner der russisch-sowjetischen Geschichte.
Während Schlögel sich nicht nur auf den Stalin’schen Terror vornehmlich der 30er Jahre konzentriert sondern vorwiegend am Beispiel Moskaus das Gesamtphänomen des stalinistisch-totalen Herrschaftsanspruches untersucht, vertraut Figes der Methode der Zeitzeugen-Interviews - wenn auch nicht ausschließlich.
Denn auch er greift auf vorher unbekannte russische Archivbestände zurück. Das Ergebnis, zu dem er kommt, liest sich nicht weniger spannend als bei Schlögel. Präsentiert werden berührende aber auch schockierende Antworten und Erzählungen.
Figes erkundet die Reaktionen der Zeitgenossen auf äußere Anforderungen, auf Zumutungen und Zwänge seitens der Diktatur. Viele Menschen damals erinnern sich schließlich noch an die vor-sowjetischen Zeiten. Doch auch das Verhalten der Nachgeborenen, der damals jungen Sowjetbürger der ersten Generation eröffnet aufschlussreiche Einsichten.
Memoiren über die Stalin-Zeit - auch aus der Opfer-Perspektive - sind schon seit den 60er/70er Jahren bekannt, räumt Figes ohne Weiteres ein:
"Es gab fantastische, literarische Arbeiten - etwa die Erinnerungen von Jevgenija Ginsburg oder Nadjeschda Mandelschtam. Aber die einfachen Menschen: Wie haben sie die Zeit erlebt? Das wussten wir nicht. Sie schwiegen. Sie schrieben keine Memoiren."
Schon vor gut 20 Jahren hat der englische Historiker Figes bei Aufenthalten in der UdSSR versucht, Zeitzeugen des "Großen Terrors" der 30er Jahre/folgende zum Erzählen zu bringen. Und oft war er erfolgreich.
Doch auf Angstreflexe treffe er auch immer noch, auf Schweigen oder allenfalls Flüstern. Das Titel gebende Wort "Flüsterer" ist im Russischen in doppelter Hinsicht lesbar und mit zwei Begriffen übersetzbar: "Scheptschuschtschij" bezeichnet einen Menschen, der leise spricht, um nicht belauscht zu werden. Ein "Scheptun" hingegen ist jemand, der anderen etwas zuflüstert, etwas heimlich mitteilt, womöglich denunziert. Beide Verhaltensweisen sind damals kultiviert, perfektioniert worden:
"In einer Gesellschaft, in der Menschen wegen ihrer losen Zunge verhaftet werden konnten, überlebten Familien dadurch, dass sie sich abkapselten. Sie lernten, ein Doppelleben zu führen, in dem sie nicht nur vor den Augen und Ohren gefährlicher Nachbarn, sondern manchmal sogar vor denen ihrer eigenen Kinder Informationen und Meinungen, religiöse Überzeugungen, Familienwerte und -traditionen sowie private Lebensumstände verbargen, die von den öffentlichen Normen der Sowjetunion abwichen. Sie lernten - zu flüstern."
Für Russland aber bedeutet laut Figes dies bis heute:
"Eine sich in Stillschweigen hüllende konformistische Bevölkerung ist eine der dauerhaften Konsequenzen von Stalins Herrschaft."
Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937
Hanser Verlag,
811 Seiten, 29,90 Euro
Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland
Berlin Verlag,
1088 Seiten, 34 Euro
Ein Butterbrot, eingewickelt in ein Stück Zeitungspapier, auf dem ein Stalin-Foto abgedruckt ist - das reichte damals schon aus, um verhaftet und Repressionen unterzogen zu werden, weiß die Museumsführerin im westsibirischen Lager Perm-39, eine der wenigen Gedenkstätten an das GULag-System, die es heute im Russland des Vladimir Putin und Dmitrij Medvedev noch gibt.
Für die Massenrepressionen der Stalin-Ära, auch dafür steht das Jahr 1937, ein Jahr des geradezu irrwitzigen Wechselbades zwischen lauthals verkündeten wirtschaftlichen und sozialen Erfolgen, einer fast atemberaubenden Dynamik in vielen Bereichen des Alltags und einem oft kafkaesk-anonym daher kommenden Bedrohungs- und Verfolgungsszenario, das für ganze Bevölkerungsschichten Leid, Not und Tod bereithält.
Beeindruckende Zeugnisse von Alltagsabläufen aus jener Zeit, den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Akteure, die nicht selten zu Betroffenen werden, hat Karl Schlögel über lange Zeit akribisch und sicher auch mühsam aus russischen Archiven zusammengetragen, mit den historischen Makro-Bedingungen jener Tage verknüpft und am Ende ein faszinierendes Kaleidoskop zu installieren vermocht: "Terror und Traum - Moskau 1937", lautet der lakonische, die Dimension des Gegenstands aber exakt treffende Titel seiner imponierenden Arbeit.
Individuelle wie auch kollektive psychologische russische Befindlichkeiten bis in die Gegenwart hinein gewinnen mit Schlögels Hilfe klarere Konturen. Etwa eine jederzeit abrufbar erscheinende spezifische Wagenburg-Mentalität: Künstliche, mindestens aber übertrieben beschworene Ängste vor diffusen inneren und äußeren Feinden Russlands, die schuld seien an objektiven Versorgungsproblemen, werden 1937 vom Regime als Unterfutter in eine staatlich gelenkte Massenpsychose eingewoben.
So möchte der Kreml-Herrscher Terror und Repression legitimieren - bis hin zum Vernichtungskrieg gegen große Teile des eigenen Volkes. Der Verlauf der Moskauer Schauprozesse jener Zeit, die sich vor allem gegen angebliche Anhänger des schon zehn Jahre zuvor ins Exil verjagten Leo Trotzkij richten, lege nahe:
"Manchmal konnte es scheinen, als verbürgten lediglich Bedrohung und Gefahr Kontinuität. Die Gewissheit des Feindes gab der Verzweiflung und dem diffusen Hass auf das, was den Menschen angetan worden war, eine Richtung. Je phantastischer die drohende Gefahr, desto fester der Zusammenhalt.
Triumphierend rief (Generalstaatsanwalt) Wyschinski in den Saal: 'Und sind nicht auch die mächtigsten Wogen des Volkszornes gegen die niederträchtigen Mörder, die Wogen, die jetzt unser ganzes Land durchfluten, ein klarer Beweis dieser Einheit?!'
Der Beginn zu einer radikalen Dehumanisierung der Ausgeschlossenen war gemacht. Und Hunderttausende versammelten sich in Fabriken, strömten auf die Plätze, um den Tod der Angeklagten zu fordern. Der wahre Erfolg des Schauprozesses als eines 'Rituals der Liquidation' zeigte sich erst jetzt, in den Kundgebungen der Hunderttausenden, die zu einer 'aufgebrachten
Hetzmasse' geworden und auf dem Roten Platz zum 'Tötungsplebiszit' aufmarschiert waren."
"Wenn jemand glaubt, dass damals die Trotzkisten oder andere Oppositionelle kleine Kinder in kurzen Hosen waren ... - das waren sie ganz bestimmt nicht! Sie waren glühende Gegner des Regimes! Ob uns das Regime gefällt oder nicht! Die Sicherheits-Organe waren Waffen des damaligen Regimes. Und ihre Aufgabe war es, das Regime zu verteidigen. Sonst hätte man sie auseinanderjagen müssen."
So noch jüngst die Worte von Aleksandr Zdanovitsch, einem Sprecher des heutigen russischen Inlands-Geheimdienstes FSB, der Nachfolge-Behörde des sowjetischen KGB, dessen Vorgänger wiederum das NKWD gewesen ist, das bereits während der Massen-Repressionen ab den 30er Jahren gerne auch als "Schild und Schwert der Partei" bezeichnet wird.
Höchst aufschlussreich ist Schlögels Arbeit auch deshalb, weil sie - im Wesentlichen konzentriert auf Moskau, das schon damals das politische Epizentrum des Riesenreiches gewesen ist - eindrucksvoll illustriert, auf welch unterschiedlichen Ebenen sich Anspruch und Wirklichkeit begegnet sind. Parallelität und diametrale Gegenläufigkeit - "Terror und Traum" in einer bizarren Dialektik offenkundig unentwirrbar miteinander verbunden:
"Eine Topographie des Verschwindens. Das Moskauer Adressbuch von 1936."
"Blindheit und Terror: Die unterdrückte Volkszählung von 1937"
"Gastmahl in Zeiten der Pest: Das Puschkin-Jubiläum 1937"
... aber ebenso auf andere Bereiche des Alltags macht Schlögel aufmerksam:
"Chopin-Konzert und Tötungsritual: Radifikazija: Das Radio als Hintergrundgeräusch der neuen Zeit"
"Schaufenster Moskau: Die Fülle der Welt, Warenhunger und schwindlig vor Hunger."
Kunst im weitesten Sinn, Wissenschaft, Technik, Sport und Freizeit, das Alltagsleben im russischen Stalinismus - diese willkürliche Auswahl einiger Kapitel-Überschriften vermag lediglich anzudeuten, welch breiter Basis sich Schlögel bedient.
War es der sprichwörtliche Zufall, dass fast zeitgleich zu Schlögels Buch eine zweite und - in buchstäblich doppelter Hinsicht - ebenso gewichtige Arbeit zum selben Grundthema erschienen ist?
Soviel jedenfalls vorab: Die Lektüre Schlögels sollte keinesfalls den Inhalt von: "Die Flüsterer - Leben in Stalins Russland" aus der Feder von Orlando Figes ersetzen - auch er ist wie Schlögel ein renommierter Kenner der russisch-sowjetischen Geschichte.
Während Schlögel sich nicht nur auf den Stalin’schen Terror vornehmlich der 30er Jahre konzentriert sondern vorwiegend am Beispiel Moskaus das Gesamtphänomen des stalinistisch-totalen Herrschaftsanspruches untersucht, vertraut Figes der Methode der Zeitzeugen-Interviews - wenn auch nicht ausschließlich.
Denn auch er greift auf vorher unbekannte russische Archivbestände zurück. Das Ergebnis, zu dem er kommt, liest sich nicht weniger spannend als bei Schlögel. Präsentiert werden berührende aber auch schockierende Antworten und Erzählungen.
Figes erkundet die Reaktionen der Zeitgenossen auf äußere Anforderungen, auf Zumutungen und Zwänge seitens der Diktatur. Viele Menschen damals erinnern sich schließlich noch an die vor-sowjetischen Zeiten. Doch auch das Verhalten der Nachgeborenen, der damals jungen Sowjetbürger der ersten Generation eröffnet aufschlussreiche Einsichten.
Memoiren über die Stalin-Zeit - auch aus der Opfer-Perspektive - sind schon seit den 60er/70er Jahren bekannt, räumt Figes ohne Weiteres ein:
"Es gab fantastische, literarische Arbeiten - etwa die Erinnerungen von Jevgenija Ginsburg oder Nadjeschda Mandelschtam. Aber die einfachen Menschen: Wie haben sie die Zeit erlebt? Das wussten wir nicht. Sie schwiegen. Sie schrieben keine Memoiren."
Schon vor gut 20 Jahren hat der englische Historiker Figes bei Aufenthalten in der UdSSR versucht, Zeitzeugen des "Großen Terrors" der 30er Jahre/folgende zum Erzählen zu bringen. Und oft war er erfolgreich.
Doch auf Angstreflexe treffe er auch immer noch, auf Schweigen oder allenfalls Flüstern. Das Titel gebende Wort "Flüsterer" ist im Russischen in doppelter Hinsicht lesbar und mit zwei Begriffen übersetzbar: "Scheptschuschtschij" bezeichnet einen Menschen, der leise spricht, um nicht belauscht zu werden. Ein "Scheptun" hingegen ist jemand, der anderen etwas zuflüstert, etwas heimlich mitteilt, womöglich denunziert. Beide Verhaltensweisen sind damals kultiviert, perfektioniert worden:
"In einer Gesellschaft, in der Menschen wegen ihrer losen Zunge verhaftet werden konnten, überlebten Familien dadurch, dass sie sich abkapselten. Sie lernten, ein Doppelleben zu führen, in dem sie nicht nur vor den Augen und Ohren gefährlicher Nachbarn, sondern manchmal sogar vor denen ihrer eigenen Kinder Informationen und Meinungen, religiöse Überzeugungen, Familienwerte und -traditionen sowie private Lebensumstände verbargen, die von den öffentlichen Normen der Sowjetunion abwichen. Sie lernten - zu flüstern."
Für Russland aber bedeutet laut Figes dies bis heute:
"Eine sich in Stillschweigen hüllende konformistische Bevölkerung ist eine der dauerhaften Konsequenzen von Stalins Herrschaft."
Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937
Hanser Verlag,
811 Seiten, 29,90 Euro
Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland
Berlin Verlag,
1088 Seiten, 34 Euro