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Stalin und die Folgen (nicht nur) für die DDR

Vor 50 Jahren starb Stalin, und der heutige Jahrestag bewegt die Geschichts-maschine. Seit Tagen wird in Diskussionsrunden, in Vorträgen und natürlich in den Feuilletons nach den Folgen des Endes der stalinistischen Herrschaft gefragt.

Arnulf Baring im Gespräch |
    Karin Fischer: Herr Professor Baring, lassen Sie uns das Pferd von hinten aufzäumen – wäre der Volksaufstand in der DDR überhaupt möglich gewesen ohne Stalins Tod am 5. März?

    Arnulf Baring: Nein, gewiss nicht. Das kann man ja daran sehen, dass man im Jahr vorher, im Jahr 1952 erhebliche Anstrengungen der Sowjetunion hatte, aufgrund einer Initiative Stalins eine deutsche Lösung, eine Wiedervereinigung, wie er meinte, in Freiheit zustande zu bringen, was eigentlich nur propagandistisch gemeint war und deshalb auch keine Wirkung hatte. 1953 gab es möglicherweise sehr viel mehr eine Chance, und die ist dann durch die verbliebenen Kräfte, die miteinander aber auch eben gegeneinander wirkten, zerstört worden.

    Fischer: In den letzten Tagen hat man dennoch unterschiedliche Stimmen gehört über den Einfluss und die Rolle Stalins in der DDR der frühen 50er Jahre. Unbestritten ist ja, dass die DDR von außen, also etwa von Dissidenten, die zu jener Zeit schon Zuflucht in anderen sozialistischen Bruderstaaten gesucht hatten, als der stalinistischste Staat überhaupt wahrgenommen wurde. Andrerseits heißt es, Stalin selbst habe in der DDR damals eigentlich keine Rolle mehr gespielt. Er war als eine Art bedrohlicher Schattenriss präsent, aber nicht als Politiker.

    Baring: Ja, bedrohlicher Schattenriss ist natürlich ein höflicher Ausdruck für das, was sie da erlebt haben. Es gibt - da haben Sie vollkommen Recht - in der Erinnerungsliteratur, vor allem früherer Kommunisten, eine geradezu euphorische Grundstimmung, was für eine großartige Chance nach 1945 in der späteren DDR bestanden hätte. Aber wenn man das selber erlebt hat - und das gilt ja für mich, der ich damals mit meinen Eltern in Berlin lebte und weiterhin da lebe -, das war natürlich in jenen Jahren eine Massenflucht, vor allem nach 1952, nachdem in der zweiten Parteikonferenz der Aufbau des Sozialismus beschlossen worden war, und das war nun eine erhebliche Verschärfung des schon vorhandenen pro-sozialistischen Kurses mit der Folge, dass die Flüchtlingszahlen in die Höhe schossen, und das zeigt natürlich, in welcher krisenhaften Lage sich das Land befand.

    Fischer: Wenn man Stalinismus sagt, dann meint man die von oben und mit Gewalt durchgesetzte Umgestaltung einer Gesellschaft, ein autoritäres, zugleich bürokratisches System, das in den Gullags mündete, in denen zwischen 15 und 25 Millionen Menschen starben, so genau weiß man das nicht. Eine frühe Form des Staatsterrorismus steht also gegenüber der Mobilisierung der Massen und der Unterordnung des Einzelnen unter einer Idee, die allein schon die Sowjetunion zu so etwas wie dem Anderen des Westens gemacht hätte. Was sind Ihrer Ansicht nach die Spätfolgen dieser Idee und ihrer Pervertierung?

    Baring: Ich glaube, dass man das übrigens als Faktor am ernstesten nehmen muss und am allerwenigsten bisher öffentlich diskutiert hat. Ich glaube, dass die Veränderung, die in den Seelen und in den Herzen der Menschen angerichtet worden ist durch den Stalinismus, durch die Diktatur, vor allem durch diese unendlich lange - fast ein halbes Jahrhundert - auf deutschem Boden andauernde Diktatur eine unglaubliche Desorientierung, eine Antriebsarmut, eine tiefe Lethargie erzeugt hat. Einer der Gründe der höchst bedauerlichen Tatsache, dass aus der früheren DDR wirtschaftlich nichts wird, jedenfalls auf weite Strecken hin - Sachsen und Thüringen sind bekanntlich besser dran, aber der nördliche Teil wird doch ein Notstandsgebiet auf unabsehbare Zeit bleiben -, hängt meiner Ansicht nach mit diesen mentalen Veränderungen in der Bevölkerung zusammen, wobei natürlich auch eine große Rolle gespielt hat, dass etwa vier Millionen Menschen, also die Unternehmungslustigen, die Bürgerlichen, die Aktiven, der Mittelstand, in breiten Kreisen auch die Bauern natürlich das Land verlassen haben.

    Fischer: Wenn man jetzt mal an das größere Europa denkt, ist es unter anderem diese Art mentaler Deformation, die das neue, größere Europa heute so schwer zusammenwachsen lässt?

    Baring: Na ja, es ist ja noch zu früh, um das zu sehen. Ich glaube, dass das hier unterschiedlich von Land zu Land gesehen werden muss. Also mein Eindruck war immer, dass in Polen der starke Katholizismus, der ja schon in der Zeit der polnischen Teilung die Nation zusammengehalten und aufrechgehalten hat, auch in der Stalinzeit und danach eine große Rolle gespielt hat, dass Polen also viel weniger selig beschädigt ist, als es für andere Teile gilt wie den ostdeutschen Teil oder Tschetschenien. Ich glaube, da muss man von Land zu Land sehr genau hinsehen, aber man muss eben sehen, dass die Wiedervereinigung Europas ein unglaublich schwieriges Erbe zu verweisen uns aufgibt, was die meisten noch gar nicht als Aufgabe voll in den Blick genommen haben.

    Fischer: Was halten Sie von der Theorie, dass Stalin und die Folgen ein notwendiger Bestandteil einer Nachkriegsordnung waren, die trotz allem zu den stabilen Verhältnissen geführt haben, die wir auf dem Kontinent seit nun 60 Jahren erleben?

    Baring: Völliger Unsinn. Das ist eine im Grunde genommen in der Abscheulichkeit ihrer Verbrechen mit Hitler durchaus vergleichbare ja Massenvergewaltigung Osteuropas und Mitteleuropas gewesen, und das ist ein großes Unglück. Man muss natürlich auch beklagen, dass die Westmächte nicht viel weiter und energischer nach Osten vorgedrungen sind, um die eigenen Leute zu schonen. Das tun ja Demokratien nun mal, und das wollen wir ihnen nicht übel anrechnen, aber im Grunde genommen war natürlich das Vordringen der Roten Armee, einer noch primitiven Feuerwalze, über den Kontinent ein großes Unglück für Europa und vor allem für die von ihnen betroffenen Völker. Daran gibt es für mein Gefühl gar keinen Zweifel.

    Fischer: Vielen Dank für das Gespräch.

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