Donnerstag, 28. März 2024

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Stalins Retuschen

Mit der Erfindung der Fotografie kam die Erkenntnis, daß auch diese Technik nicht unbedingt ein authentisches, wirklichkeitsgetreues, "wahres" Bild der Realität wiedergibt. Auch unter Stalins Herrschaft wurden Bilder bewußt gefälscht. Sie waren einerseits sichtbarer Ausdruck des Terrors, andererseits dienten sie der Propaganda, sie logen.

Sabine Peters | 19.02.1998
    Der Engländer David King, ehemaliger Kunstredakteur der Londoner Sunday Times, archiviert seit über 30 Jahren Fotos aus der Stalinära und hat jetzt einen kommentierten Bildband über diese Zeit herausgebracht, in dem Originalfotos und retuschierte Versionen miteinander konfrontiert werden.

    Nun könnte man noch vor der Ansicht und Lektüre von Kings Buch einwenden: Müssen die verwendeten mehr oder weniger plumpen Fotomanipulationen, entstanden zwischen 1929 und 1953, nicht geradezu harmlos wirken, wenn man bedenkt, in welchem Ausmaß heute ein schlichtes Grafikprogramm Bilder verändern kann, oder wie beispielsweise der Golfkrieg visuell verharmlost werden konnte? Solche Vergleiche taugen allerdings kaum dazu, den anders gelagerten Schrecken zu analysieren, der von den methodisch gefälschten Dokumenten der Stalinzeit ausgeht.

    Seinerzeit war es mit physischen Säuberungen, das heißt mit der Ermordung all derer, die als Rechts- oder Linksabweichler galten, nicht getan. Es durfte keine Alternative zum Stalinismus geben, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart; also mußte auch die Erinnerung, das Andenken tragende Bild, verschwinden. Als hätten Trotzki, Bucharin, Ikramow, Rudsutak und viele andere nie existiert. Unpersonen.

    David King zeigt, wie Bilddokumente mithilfe von Airbrush, also dem Aufsprühen von Tinte, mit dem Skalpell und durch Übermalung bearbeitet wurden, wie sie neu montiert wurden. Etwa: Offenkundig gefälschte Bilder, die eine freundschaftliche Nähe Stalins zu Lenin vortäuschen; dabei fürchtete Lenin, Stalin würde zu mächtig. Oder: Stalin nimmt ein Massenbad - aber die "Masse" reichte nicht: Ein Foto zeigt einen Volksauflauf, bei dem man bei genauem Hinsehen drei Mal dieselbe Gruppe in der Menge bemerkt. Oder: Das Foto des berühmten Eisenbahnzuges "Oktoberrevolution", der zu Agitationszwecken durch das Land fuhr. Ein Genosse verteilt Zeitungen an die Leute. Im Zugfenster daneben eine Art Schatten, eine gespenstische Erscheinung - mehr als dieses "Mal" ließ der Retuscheur nicht übrig von der Person, die sich dahinter befand. "Geisterbahn", schreibt David King. Die Skala dessen, was der Autor sichtbar macht, reicht vom beinahe Komischen bis ins tief Entsetzliche. Komisch wirkt ein Kavallerist, der dem Betrachter stolz ins Auge sieht. Lakonisch sagt der Kommentar: "Leider fällt auf, daß das Pferd ausgestopft ist." Eher erheiternd auch die Abbildung in einer Zeitschrift über die "rote Reiterarmee". Sinnend betrachtet man den scheinbar im Nebel verwischten Hintergrund - ist das Nebel? David King schreibt kurz: "Bemerkenswert ist die Landschaft in Wasserfarben." Wie wahr. Ausserordentlich bemerkenswert. Und wer 1954 eine Ausgabe der großen sowjetischen Enzyklopädie kaufte, las anstelle des schmeichlerischen Artikels über den Chef der Geheimpolizei Berija, der 1953 erschossen wurde, einen sonderbar ausführlichen Artikel über das Beringmeer.

    Das größte Entsetzen, das David Kings Buch auslöst, geht von den zahlreichen grob übermalten Portraits aus. Die ganze Bevölkerung war durch die "Kampagne der Wachsamkeit gegenüber dem Feind" gezwungen, ihre eigenen Bücher und Fotografien, das heißt ihre Erinnerungen zu zensieren. Jedes Dokument konnte von einem Tag auf den anderen illegal werden und seinen Besitzer tödlich gefährden. Ein brutaler Vandalismus war die Folge. Unzählige Portraits und Gruppenbilder, etwa die der nichtstalinistischen Kommunisten, mußten unkenntlich gemacht, entstellt werden. Die Resultate sind makaber und furchterregend.

    Folterer setzen ihren Opfern häufig eine schwarze Kapuze auf, und indem sie solchermaßen das Gesicht löschen, wird die Person entmenschlicht. Nicht anders die Schwärzung der Gesichtszüge auf den Fotografien. Die groben Tuschekleckse oder die scharfen Überkritzelungen wirken wie stumpfe Schläge oder wie wütende Angriffe, sie eliminieren die jeweilige Person noch ein zweites Mal. Es ist nackte Gewalt, die David King hier zeigt. Man kann lange rätseln, warum viele Retuschen derart plump ausgeführt wurden. Der Autor fragt, "wollten die Stalinisten, daß die Leser die Beseitigung bemerkten, als warnendes, drohendes Beispiel? Oder mochte die schwächste Spur eines fast verschwundenen Kommissars, die der Retuscheur absichtlich stehen ließ, zu einer gespenstischen Mahnung werden, der Ausgelöschte könnte immer noch zurückkehren?" Wahrscheinlich gibt es keine erschöpfende Antwort auf diese gleichwohl berechtigte Frage. Das Buch selbst vermittelt einen beispielhaften, gründlichen Eindruck, wie Manipulation, Propaganda und Terror in Bildern zusammenwirken. Kings Kommentare sind wohltuend zurückhaltend und zeigen dabei doch eine große Beteiligung. Sein Blick auf die Dokumente und seine differenzierte, bildreiche Sprache geben den Opfern ein wenig von dem zurück, das ihnen zuallererst genommen wurde: Würde.