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"Stallerhof" fortgeschrieben

40 Jahre ist es her, dass Franz Xaver Kroetz' Stück "Stallerhof" für Aufsehen sorgte. In kurzen, markanten Szenen thematisiert es die folgenreiche Begegnung zweier Außenseiter. In Stuttgart hat Stefan Kimmig das Stück nun neu inszeniert – und ihm ein zweites zur Seite gestellt : "3D" von Stephan Kaluza.

Von Cornelie Ueding |
    Ein kahles Bühnenpodest, grell ausgeleuchtet – und doch ein geschlossener Raum, ein Raum ohne Ausgang. Gefangen darin ist ein Paar, das sich nach 20 Jahren Trennung wiedersieht. Sie, viel jünger als er, war kaum 30, als sie ihn ohne Begründung verlassen hat. Und er ist nun wirklich alt. Und will sie zurück. Sagt er, fleht er. Vibrierend vor Wiedersehensfreude, Verlegenheit und einer selbstherrlichen Schwamm-drüber-Mentalität. Und malt die Zukunft in den verlockendsten Farben aus: ein begüterter Mann, der endlich Zeit hat für seine Frau.

    Doch was wie ein furioses Boulevardstück mit brillanten Dialogen beginnt, mutiert zu einer Enthüllungstragödie. Zwischen den beiden steht der Tod der Tochter. Wie sich herausstellt, eine Hilfskonstruktion, eine Lüge. Jetzt erfährt er, warum sie ihn verlassen hat.

    Vehement weist er ihre Beschuldigungen zurück. Er beschwört sie, wird wütend, schwört, bei allem, was ihm heilig ist. Glaubhaft. Ein zärtlich liebender Vater, ein zu Unrecht verdächtigter Ehrenmann. Sie insistiert. Malt den Tod des Kindes in mehreren Varianten aus. Erregt seine Wut, als sie behauptet, zugibt... das alles seien erfundene Geschichten, die Tochter lebe noch. In New York. Lenkt sein Interesse auf die Tochter, die er sofort zu sprechen, zu sehen wünscht. Und die Falle schnappt zu. Erst wirkt sie plötzlich ganz jung, dünnhäutig und verletzlich, verhaspelt sich, dann nimmt sie die Perücke ab. Und vor ihm steht nicht seine Ex-Frau – sondern die Tochter selbst. Gekommen, um zu sehen, wer ihr Vertrauen zu sich und anderen, ihre Identität unwiderruflich zerstört und ihre Seele gemordet hat.

    Doch wie sehr sie nun auch ihn demütigt, er will immer noch – nur – sie. Black out. Stephan Kimmig hat bei seiner Inszenierung das melodramatische Ende von Stephan Kaluzas Bühnenstück 3D gestrichen. Er bietet den Zuschauern keine Entlastung an, verzichtet auf so etwas wie Rache, und die beiden herausragenden Menschendarsteller Elmar Roloff und Minna Wündrich machen gerade dadurch deutlich, dass sexueller Missbrauch schlimmer ist als das Urteil "lebenslänglich". Selbst in einem Fall, in dem die Mutter wachsam und in der Lage war, das Kind vor dem Vater in Sicherheit zu bringen. In Stuttgart hat man nach einem Pendant zu dieser kurzen, verstörenden Uraufführung gesucht. Und Kimmig hat ihr mit viel Einfühlungsvermögen, brillanten Schauspielern und kunstvollen medialen Brechungen Franz Xaver Kroetz' 40 Jahre altes Sozialdrama "Stallerhof" vorangestellt.

    Hier würgen die Figuren nur ein paar lädierte Wortbrocken aus dem Mund und die Vergewaltigung wird unmissverständlich gezeigt. Das gleiche Podest. Vater und Mutter sitzen, isoliert voneinander, wie festgebannt an kahlen Tischen, starren ins Leere und verschließen die Augen vor dem, was um sie herum geschieht – so lange, bis die Gefahr besteht, die "anderen" könnten etwas merken. Ein an die Rückwand projiziertes Jahrmarkts-Glücksrad suggeriert zuweilen Licht und Bewegung, ein Kontrapunkt zu dieser Stillstandszene. Und der Knecht, der das zurückgebliebene Bauernmädchen in diese Welt voller Verlockungen führt und in ihr so etwas wie die Ahnung eines möglichen Glücks erweckt, stillt vor allem sein Verlangen an ihr. Wohin immer er sich in dem dunklen Rum mit ihr verdrückt, die Kamera folgt ihnen und dokumentiert seine Übergriffe und ihre anrührende Vertrauensseligkeit in riesenhaft projizierten Skizzen. Als er umstandslos rüde vom Hof gejagt wird, verlässt er sie. Ebenso rüde. Fortan ist ihr Spiel-Raum eingeschränkter denn je: Sich-vergebens-reinwaschen, Buße tun und überleben müssen, ausgestellt, im Wortsinn bloßgestellt auf dem Podest.

    Kimmigs einfühlsame Regie von Stillstand und Bewegung, von Wortkaskaden, Sprachfluten und Sprechhemmungen und der ihnen zugrunde liegenden Gefühle vermittelt szenische Strukturanalysen von Zerstörung, nicht mehr und nicht weniger. Er wertet nicht, er urteilt nicht. Keine der Figuren wird denunziert, aber sie alle sind, ob sie zusehen oder wegsehen, leugnen oder agieren, beteiligt daran, was Menschen anderen Menschen antun. Der Appell geht an die Zuschauer.