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Stammzellen im Testeinsatz

Medizin. - Seit dem Contergan-Skandal muss jedes Medikament vor der Zulassung darauf geprüft werden, ob es Embryonen schädigen kann. Mit der EU-Chemikalien-Richtlinie "Reach" müssen zahlreiche chemische Substanzen ein vergleichbares Verfahren durchlaufen. Das bedeutet mehr Tierversuche, denn die Versuche mit schwangeren Tieren lassen sich nicht vollständig ersetzen. Versuche in Zellkulturen könnten zumindest einige Experimente überflüssig machen.

Von Marieke Degen | 29.05.2008
    "Man behandelt das schwangere Tier bis zu einem bestimmten Zeitpunkt und nimmt dann den Embryo heraus und guckt, ob er irgendwelche Fehlbildungen hat, man kann zum Beispiel gucken, ob die Wirbelsäule richtig ausgebildet ist, ob die Extremitäten richtig ausgebildet sind, man guckt auf Entwicklungsschädigungen."

    So grausam der Tierversuch klingt, er ist unentbehrlich. Pharma-Firmen müssen schließlich nachweisen, dass ihr Medikament keine Gefahr für ungeborene Kinder darstellt. Also testen sie es, an Tausenden Mäusen, Ratten und Kaninchen. Aber es geht auch anders. Andrea Seiler erforscht Alternativen zum Tierversuch am Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin. Käfige mit Versuchstieren gibt hier keine. Denn statt lebendige Mäuse zu testen, sagt Seiler, könne man alternativ auch die Zellen von einer Maus einsetzen. Seiler:

    "Der embryonale Stammzelltest basiert auf einer permanenten Zelllinie, das heißt, es ist praktisch irgendwann mal eine einzige Maus gestorben, und nun können diese Stammzellen in einer Kultur gehalten werden."

    Die Forscher können die Maus-Stammzellen in der Petrischale dann in verschiedene Zelltypen verwandeln. Zum Beispiel in voll funktionsfähige, schlagende Herzmuskelzellen. Unter dem Mikroskop sehen sie aus wie eine gräuliche, zuckende Masse. Für einen Medikamententest braucht Andrea Seiler 24 von solchen Zellhaufen. Sie ordnet sie auf einer Platte mit 24 Kämmerchen an. Dann träufelt sie den Wirkstoff auf die Zellen und wartet ab. Seiler:

    "Und wenn dann alle schlagen, also mindestens 21 von 24, dann können wir sagen, die Testsubstanz hat möglicherweise keinen schädigenden Einfluss auf die Entwicklung. Und findet man gar keine oder nur wenige schlagende Herzmuskelzellen, dann ist das ein Hinweis darauf, dass die Substanz schädigend für den Embryo sein könnte."

    Zurzeit arbeitet Seilers Team daran, den gleichen Test für Nervenzellen zu entwickeln. Das Labor muss steril sein. Alle sieben Minuten wird die Luft ausgetauscht, damit die Nervenzellen in den Petrischalen nicht verunreinigt werden. Die Biologin Anke Visan kniet neben einem mächtigen Stahlschrank auf dem Boden und öffnet die Tür. Visan:

    "Das ist ein Brutschrank, und ich hole die Petrischalen heraus, die werden hier bei 37 Grad inkubiert und bei einer bestimmten Luftfeuchte, bei einem bestimmten CO2-Gehalt, das war zu lang, wenn die Tür zu lange geöffnet ist, dann..."

    ...dann piept es. Fast zwei Wochen lang sind die Nervenzellen im Brutschrank gewachsen, jetzt schiebt sie die Biologin unters Mikroskop. Visan:

    "Hier sieht man auch ein ganz feines neuronales Netzwerk."

    Bislang sind aber nur die schlagenden Herzmuskelzellen als Ersatzmethode wissenschaftlich anerkannt. Sie liefern ähnliche Ergebnisse wie die Tierversuche. Mit den Zellen lässt sich also genauso sicher vorhersagen, ob ein Stoff die Entwicklung schädigt oder nicht. Das gilt allerdings nur für Arzneimittel. Mit Chemikalien hat dagegen kaum jemand Erfahrung. Denn solche Tierversuche waren für Chemikalien so gut wie nie vorgeschrieben, sagt Richard Vogel von Zebet.
    "Ich muss ja diesen Test, den Ersatztest, spiegeln an dem Test, der bislang mit dem Tier gemacht worden ist. Und in dem Bereich Entwicklungstoxizität gibt es leider ganz wenige Untersuchungen. Wir haben ganz wenig, woran der Test gemessen werden kann."

    Noch weiß also niemand, ob der Stammzelltest für Studien im Rahmen der neuen EU-Chemikalienverordnung "Reach" in Frage kommt. 3000 Alt-Chemikalien müssen nachträglich darauf überprüft werden, ob sie Fruchtbarkeit und Embryonen gefährden. Nach den "Reach"-Vorgaben sollen diese Studien mit zwei Tierarten durchgeführt werden: zuerst an Ratten, dann zur Bestätigung noch einmal an Kaninchen. Pro Chemikalie werden Tausende von Tieren sterben. Vogel:

    "Wenn wir aber da hinkommen zu sagen, wir würden die Bestätigung des ersten Testes gerne mit unserem zellulären System machen, das wäre schon ein großer Fortschritt."
    Dass man in absehbarer Zeit ganz auf Versuche mit trächtigen Tieren verzichten kann, daran glaubt Richard Vogel nicht. Dafür sei die Entwicklung von ungeborenem Leben einfach zu kompliziert.