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Stand und Status der Rechtsmedizin in Deutschland

Ulrike Burgwinkel: Welche Aufgaben nimmt die Rechtsmedizin in Deutschland wahr?

Moderation: Ulrike Burgwinkel |
    Stefan Pollak: Die Rechtsmedizin oder gerichtliche Medizin, wie das Fach früher hieß, ist eine Disziplin, die in den deutschsprachigen, aber auch in vielen anderen kontinentaleuropäischen Ländern vorwiegend an Universitäten mit Medizinischen Fakultäten vertreten ist. Dementsprechend stehen Lehre und Forschung im Mittelpunkt. Nach der Approbationsordnung ist die Rechtsmedizin für alle Studierenden der Medizin ein obligates Lehr- und Prüfungsfach, wobei in jüngerer Zeit zunehmend Kleingruppenunterricht gefordert ist. So wie alle anderen Universitätsangehörigen haben sich auch die Rechtsmediziner in der Forschung zu engagieren. Diese ist, der Zweckbestimmung des Faches entsprechend, vorwiegend anwendungsbezogen. Neben Lehre und Forschung bildet die gutachterliche Praxis eine dritte Säule der rechtsmedizinischen Tätigkeit. Auch fallbezogene Arbeit im Dienste der Rechtspflege ist nach unserem Verständnis unverzichtbar: Nur wer sein Wissen im forensischen Bereich anwendet, kann die dabei gewonnenen Erfahrungen für die Lehre nutzbar machen. Außerdem ergeben sich aus den konkreten Anforderungen in der Praxis oft wichtige Fragestellungen für die Forschung.

    Burgwinkel: Was muss ein Rechtsmediziner beherrschen, wenn er sein Fach beherrschen möchte?

    Pollak: In den Weiterbildungsordnungen ist geregelt, welche Kenntnisse der angehende Rechtsmediziner in der mindestens 5-jährigen Weiterbildungszeit nach Abschluss des Medizinstudiums erwerben muss. In diesem Rahmen kann ich nur einige Stichworte nennen. Wesentlich ist natürlich ein fundiertes Wissen auf allen Gebieten der so genannten klassischen Rechtsmedizin: Dazu zählen die frühen und späten Leichenveränderungen, der plötzliche unerwartete Tod unter bedenklichen Umständen, die verschiedenen Formen des gewaltsamen Todes von den Verkehrsunfalltraumen über Suizide bis zur Tötung durch fremde Hand. Diese Themen werden auch in der öffentlichen Meinung mit dem Fach Rechtsmedizin assoziiert. Weniger bekannt, aber ebenso wichtig ist die klinische Rechtsmedizin, die sich mit der Befunderhebung und Begutachtung von lebenden Probanden - zum Beispiel Verletzten, Geschädigten oder Tatverdächtigen - befasst. Weitere Inhalte sind die forensische Toxikologie und Alkohologie: Denken Sie an die Beeinflussung durch Betäubungsmittel, Alkohol und Medikamente bei der Begehung von Straftaten oder in Vergiftungsfällen. Revolutionäre Fortschritte konnten in der jüngeren Vergangenheit auf dem Gebiet der forensischen Spurenkunde, Abstammungsbegutachtung und Identifizierung gemacht werden - Stichwort DNA-Analytik. Schließlich obliegt dem Rechtsmediziner in der universitären Lehre die Weitergabe der wichtigsten medizinrechtlichen Grundlagen für die Arbeit des Arztes wie die notwendige Aufklärung vor einer geplanten Heilbehandlung und die arztrechtliche Haftung.

    Burgwinkel: Welche Folgen haben die Schließungen der Institute, jüngstes Beispiel Göttingen?

    Pollak: Eine Schließung von Rechtsmedizinischen Instituten hat gravierende Auswirkungen auf die Qualität der studentischen Lehre, sie verhindert eine rechtsmedizinische Forschung am betroffenen Standort und sie verschlechtert die rechtsmedizinische Versorgung der Region. Selbst wenn die Pflichtlehre von einem Lehrbeauftragten wahrgenommen wird, so kann dieser ohne den Hintergrund eines Instituts die praktische Seite des Faches nicht kompetent abdecken. In einer Zeit, in der zu Recht eine praxisnahe Ausbildung gefordert wird, wäre das verhängnisvoll und vergleichbar mit einer Chirurgie ohne Operationssaal oder einer Radiologie ohne Röntgengerät. Natürlich würden auch die Dienstleistungen für die Rechtspflege bei einer Ausdünnung der Institute leiden. Schon jetzt ist die Obduktionsfrequenz im internationalen Vergleich bedenklich niedrig und Zufallsentdeckungen weisen immer wieder darauf hin, dass es in Deutschland ein erhebliches Dunkelfeld nicht entdeckter Tötungsdelikte geben muss.

    Burgwinkel: Welchen gesellschaftlichen Dienst leisten die "Anwälte der Opfer"?

    Pollak: Die Berufswirklichkeit des Rechtsmediziners steht in krassem Widerspruch zum Klischee der Kriminalmedizin, das täglich bis zum Überdruss in den Medien propagiert wird. Weniger spektakulär, aber für die Betroffenen umso bedeutsamer ist der prophylaktische Aspekt der rechtsmedizinischen Tätigkeit - zum Beispiel durch systematische Erforschung des plötzlichen Kindstodes, durch Aufdeckung unerkannter Vergiftungen und von nicht diagnostizierten Stromunfällen, durch den autoptischen Nachweis von Tuberkulose-Streuquellen, durch biomechanische Forschung zur Erhöhung der Sicherheit von Verkehrsteilnehmern und vielem anderem mehr. Insofern ist der Ausdruck "Anwalt der Opfer" im übertragenen Sinn passend. Im juristischen Sinn hat der Rechtsmediziner als Gutachter natürlich keine Parteienstellung wie ein Anwalt, sondern er ist zu strikter Neutralität, also zu unparteiischer Beurteilung auf wissenschaftlicher Grundlage verpflichtet.