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Standardwerk zum Ersten Weltkrieg

Neunzig Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, von dem aus das kurze 20. Jahrhundert seinen eigentlichen Ausgang nahm, herrscht kein Mangel an Neuerscheinungen zum Thema. Als Standardwerk für Leser, die nicht unbedingt über alle Verästelungen wissenschaftlicher Forschung über den Krieg informiert werden wollen, stattdessen nach einer gut lesbaren, verlässlichen und übersichtlich gegliederten Gesamtdarstellung suchen, bietet sich ein Band an, den der britische Historiker Hew Strachan bei Bertelsmann vorgelegt hat.

Von Tillmann Bendikowski |
    Zuweilen hat man den Eindruck, der Erste Weltkrieg fand eigentlich nur an der Westfront statt. Stellungskrieg, Schützengräben und Gasangriff, Ypern und Verdun - das alles dominiert unser Erinnern an das große Völkerschlachten. Der britische Historiker Hew Strachan hält nichts von dieser Konzentration auf nur einen - und dann auch noch europäischen - Kriegsschauplatz. Deshalb will er mit seiner Überblicksdarstellung daran erinnern, dass 1914 tatsächlich ein globaler Krieg entbrannte. Und außerdem ist ihm die Feststellung wichtig, dass dieser Krieg entgegen einer heute weit verbreiteten Ansicht damals um großer Fragen willen geführt wurde. Dies zu übersehen, führe eher zu Arroganz der Nachgeborenen denn zu einem Verständnis für das historische Ereignis:

    Dies war ein großer Krieg, weil er um große Ideen geführt wurde. Was auf dem Balkan begonnen hatte und ursprünglich ethnischen und nationalen Problemen entsprang, wurde nun in Prinzipien gehüllt, deren Wirkungsmacht in ihrer vorgeblichen Allgemeingültigkeit lag.

    So nahm etwa Deutschland für sich in Anspruch, sich selbst gegen eine ausländische Invasion und Europa überhaupt vor der Barbarei zu verteidigen. Frankreich hingegen kämpfte für das Erbe der Revolution im Sinne von Demokratie und politischen Rechten, Großbritannien wiederum für das Völkerrecht und das Recht kleinerer Staaten. Überzeugungen, die handlungsmächtig waren:

    Sie wurden für so fundamental gehalten, dass sie den Krieg ungeachtet seiner Länge und Heftigkeit trugen. Die Völker Europas kämpften den Ersten Weltkrieg aus, weil sie an die Sache, die ihr Land verfocht, glaubten oder sie zumindest akzeptierten. Dies war eindeutig kein Krieg ohne Sinn und Ziel.

    Gleichwohl ist der Autor weit davon entfernt, einer breiten Kriegsbegeisterung unter den Menschen Europas das Wort zu reden:

    Die Bilder vom August 1914 suggerieren Festtagsstimmung. Aber das war eine zur Schau getragene Fröhlichkeit. Die meisten Reservisten, die bei der Mobilmachung im August 1914 einberufen wurden, trennten sich nur widerwillig von ihren Familien und ihrer Arbeit. Sie zogen in den Krieg, weil sie es für ihre Pflicht hielten.

    Bald würden sie wieder zu Hause sein, trösteten sich die Männer - noch vor Einbruch des Winters, ganz bestimmt aber zu Weihnachten. Heute wissen wir um diesen Irrtum und die brutale Wirklichkeit an den Fronten, wo dieser industrielle Krieg bald mit bis dahin unbekannter Wucht tobte. Hew Strachan beschreibt kenntnisreich dieses Schlachtgeschehen, bindet aber seine Kriegsgeschichte fortwährend an die politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen der jeweiligen Gesellschaften zurück. So berichtet er von den Problemen vieler Länder bei der notwendigen Steigerung der Munitionsproduktion. Dabei wurde Qualitätskontrolle zuweilen zum Fremdwort - mit Folgen für die kämpfenden Soldaten:

    Im Januar 1915 schätzte ein deutscher Beobachter, dass die Hälfte der von den Franzosen verschossenen Granaten Blindgänger waren. Das lag zum Teil an mangelnder Ausbildung und Arbeitshetze, zum Teil waren aber auch Profitmacherei und Betrug die Ursache. In der Schlacht an der Somme im Juli 1916 versagten 25 Prozent der britischen Geschütze aufgrund von Konstruktionsmängeln und Materialfehlern. 30 Prozent der Granaten explodierten nicht.

    Aber wenn die Granaten explodierten, dann waren auch an der Somme längst nicht mehr nur Deutsche, Franzosen oder Belgier - also Europäer - die Opfer, sondern im Laufe des Krieges immer häufiger auch Soldaten aus den Kolonien: afrikanische Infanteristen im Dienste der Franzosen oder indische Einheiten, die für Großbritannien in den Kampf ziehen mussten. Doch Europa importierte nicht nur Soldaten, vor allem exportierte es den Krieg selbst: Strachan schildert ausführlich, wie dieser im Orient, in Fernost und in Afrika tobte. Allein zwei Millionen Afrikaner waren als Soldaten und Helfer in die Kämpfe verwickelt, die langfristig den afrikanischen Kontinent veränderten:

    Während der Feldzüge kamen Weiße in Gegenden, die sie noch nie betreten hatten. Soldaten verbreiteten Geld und Marktwirtschaft. Sie kartografierten neue Regionen und schufen die Anfänge eines Kommunikationsnetzes. Vor allem aber rekrutierten sie die einheimischen Männer. Der Einsatz von erwachsenen Männern und Halbwüchsigen als Soldaten und Hilfskräfte zerstörte traditionelle Autoritätsmuster.

    Und was es noch schlimmer macht: Es ging den Europäern dabei gar nicht in erster Linie um Afrika - sie wollten mit diesen Kämpfen außerhalb ihres Kontinents vielmehr auf den Kriegsverlauf in Europa Einfluss nehmen. Das war vor allem deutsche Strategie: Die Entente-Mächte sollten durch Angriffe auf ihre Weltreiche geschwächt werden. Dazu wollte Wilhelm II. unter anderem die Moslems der Welt gegen die Engländer aufstacheln. Am 30. Juli 1914 ereiferte er sich:

    Unsere Konsuln in der Türkei und Indien, unsere Agenten etc. müssen die ganze mohammedanische Welt gegen dieses verhasste, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstande entflammen, denn wenn wir uns verbluten sollen, dann soll England wenigstens Indien verlieren.

    Doch "Hadschi" Wilhelm, wie der deutsche Kaiser im Orient seit seinem Besuch in Mekka zuweilen genannt wurde, scheiterte mit seinem Versuch eines Flächenbrandes, und auch der Aufruf zum Heiligen Krieg gegen die deutschen Feinde durch den Scheich von Konstantinopel im November 1914 blieb ohne Folgen. So hielten beispielsweise die muslimischen Soldaten der indischen Armeeeinheiten weiterhin zu den Briten. Stattdessen wurden die Deutschen schließlich nervös, weil der ersehnte "Siegfriede" in immer weitere Ferne rückte. Anschaulich beschreibt der Autor die Zuspitzung dieser Verunsicherung im Spätsommer 1918; vor allem General Ludendorff war dem wachsenden psychischen Druck kaum mehr gewachsen. Als der Kaiser die politische und militärische Führung im August zur Konferenz nach Spa rief, konnte sich Ludendorff schon nicht mehr zu einer realistischen Einschätzung der militärischen Lage durchringen:

    Stattdessen gab er der Stimmung im Land die Schuld. In den darauf folgenden sechs Wochen war Ludendorff zwischen unbegründetem Optimismus und der Suche nach Sündenböcken hin- und hergerissen. Ein Psychologe riet ihm, eine Auszeit zu nehmen und beim Erwachen am Morgen deutsche Volkslieder zu singen.

    Eine Heeresleitung, die in ihrem Realitätsverlust zunächst einmal die "Heimatfront" als Schuldigen ausgemacht hat, und ein Armeeführer, der seelischen Halt in Volksliedern suchte: Da war es nach Revolution und Kriegsende kein weiter Weg zu Dolchstoßlegende und Kriegsunschuldslüge - und zur bis heute in Deutschland landläufigen Einschätzung, der Versailler Vertrag sei in erster Linie eine machtpolitische Demütigung der Deutschen, die quasi zwangsläufig einen neuen Waffengang provozierte. Hew Strachan stellt klar:

    Die Alliierten versagten in Versailles in dem Sinne, dass sie nicht die Entschlossenheit aufbrachten, die Bestimmungen des Friedensvertrages durchzusetzen. Ein direkter Zusammenhang zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zwanzig Jahre später besteht jedoch nicht.

    Die 37 am Vertrag beteiligten Staaten hätten vielmehr nach einer Lösung gerungen, nicht nur die Angelegenheiten Europas, sondern der ganzen der Welt neu zu ordnen.

    Sie führten in diesen Prozess Begriffe ein, die noch heute die Grundlage der internationalen Beziehungen bilden - das Völkerrecht, die Bedeutung multilateraler Lösungen und die Überzeugung, dass Demokratie die Grundlage jeden Fortschritts sein muss.

    Es sind nicht nur Strachans überlegte Urteile, sein ansprechender Erzählstil sowie sein notwendig über Europa hinausreichender Blick, die sein Buch zu einer empfehlenswerten Lektüre machen. Ein besonderer Reiz geht auch von den zahlreichen Abbildungen aus, die diese Geschichte illustrieren. Vor allem die erstmals veröffentlichten Farbfotos, unter denen sich eben nicht nur die in Deutschland immer wieder präsentierten Motive finden, vermitteln einen zusätzlichen Einblick in das Geschehen jener Jahre. Zusammengenommen ein zuverlässiger und attraktiver Überblick über den globalen Ersten Weltkrieg.

    Hew Strachan: Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte
    C. Bertelsmann Verlag Gütersloh 2004, 448 Seiten, 24,90 Euro