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Stark in schlechten Zeiten?

Mit der Wirtschaftskrise wächst die Macht der Gewerkschaften - sollte man meinen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Krise hat die Gewerkschaften in eine tiefe Ratlosigkeit gestürzt. Und sie fürchten, dass ihre Machtbasis weiter bröckelt.

Von Gerhard Schröder |
    "Erst reiten uns die Banken in die Krise rein, dann lassen sich die Banken mit dem Geld der Steuerzahler retten und jetzt kümmern sich die Vorstände der Banken nur um ihre eigenen Bilanzen, statt Unternehmen und Arbeitsplätze zu retten."

    Wir zahlen nicht für eure Krise, diese Parole ist oft zu hören an diesem Tag. Wut und Empörung über die Finanzzocker in den Geldhäusern bricht sich Bahn. Aber auch neu erwachtes Selbstbewusstsein wird sichtbar. Ein Selbstbewusstsein, das sich aus dem Wissen speist, nicht mehr am Rande zu stehen.

    Vorbei die Zeiten der Agenda 2010, als die Gewerkschaften vielen als Blockierer und Ewiggestrige galten, die die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt hatten. Plötzlich sind Gewerkschaftliche Positionen wieder salonfähig, sagt Michael Sommer, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, mit Genugtuung. Auch in Berlin finden die Ratschläge des obersten Gewerkschaftsmannes wieder Gehör:

    "Dass die Bundesregierung relativ frühzeitig angefangen hat, unserem Drängen nach Konjunkturprogramm nachzugeben, halte ich für richtig. Sie hat einiges auf den Weg gebracht. Dazu gehören die direkt wirkenden Maßnahmen im Bereich des Konsums, insbesondere die Abwrack-Prämie, die ja auch von der Bevölkerung in breitem Maße angenommen wird, dazu gehört die von uns geforderte Kurzarbeitergeld-Regelung, die tatsächlich viele, viele Menschen in ihrer Existenz sichert. Ich glaube, da ist einiges passiert."

    Plötzlich reden wieder viele vom starken Staat, von Konjunkturpaketen und öffentlichen Investitionen, um die Krise zu überwinden. Staatliche Eingriffe, um Unternehmen und Arbeitsplätze zu retten, sind en vogue. Positionen, mit denen die Gewerkschaften lange Zeit ziemlich allein da standen. Jetzt in der Krise sind solche Rezepte wieder gefragt.

    "Und ich bin zutiefst davon überzeugt, diejenigen, die jetzt sagen, sie wollen kein drittes Konjunkturprogramm, werden spätestens im Sommer eins machen müssen. Die Frage der Konsumgutscheine wird wieder hochkommen. Das zweite ist, wir sind der Meinung, dass man deutlich die Hartz IV-Regelsätze aufstocken sollte, erstens weil die Menschen besonders auch von der Krise betroffen sind und zum zweiten auch um dort auch zusätzliche Konsumanreize zu schaffen. Das würde richtig was bringen."

    Und auch in den Konzernzentralen erwacht unerwartete Zuneigung zu den Arbeitnehmerorganisationen, Konzernlenker suchen plötzlich die Nähe zu Betriebsräten und Gewerkschaftsführern, hat Reinhard Bispinck von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung beobachtet:

    "Tatsächlich sind die Gewerkschaften im Moment ein Stück wichtiger geworden. Man braucht sie gewissermaßen als Bündnispartner um im politischen Prozess für Unterstützung zu sorgen. Wenn es darum geht, Standorte zu sichern, wenn dafür Geld mobilisiert werden muss, dann ist es immer gut, wenn ich als Unternehmensführung den Betriebsrat an meiner Seite habe. Und tatsächlich kämpfen ja in vielen Betrieben Geschäftsführung und Betriebsrat gleichermaßen für die Erhaltung von Arbeitsplätzen, von Produktionsstandorten."

    Selbst bei ausgewiesenen Gewerkschaftsskeptikern stehen die DGB-Organisationen plötzlich wieder hoch im Kurs. Bei Maria-Elisabeth Schaeffler zum Beispiel. Die Chefin der Schaeffler-Gruppe hatte sich mit der Übernahme des Konkurrenten Continental verhoben, nun sucht die Patronin den Schulterschluss mit den ungeliebten Gewerkschaften, um staatliche Hilfen zu mobilisieren.

    "Die IG -Metall und wir sind uns bewusst, dass wir Bund und Länder zur zeitlich begrenzten finanziellen Überbrückung brauchen. Aber wir glauben auch, dass die dazu notwendigen politischen Entscheidungen leichter fallen, wenn Gesellschafter und Gewerkschaft an einem Strang ziehen."

    Die Gewerkschaften also als Krisengewinner? Können sie Nutzen aus der globalen Rezession ziehen, weil neoliberale Rezepte derzeit nicht in Mode sind? Gibt die Krise ihnen Rückenwind, weil eine kapitalismuskritische Grundhaltung neuerdings zum guten Ton zu gehören scheint? Der frühere IG Metall-Chef Franz Steinkühler, hält das für einen gefährlichen Irrglauben:

    Krisenzeiten, so warnt Steinkühler, waren immer schwierige Zeiten für die Gewerkschaften. Wenn die Wirtschaft schrumpft und die Arbeitslosenzahlen steigen, dann weht auch den Arbeitnehmerorganisationen ein schärferer Wind entgegen.

    Beispiel Daimler. Die Krisenstrategie des Stuttgarter Konzerns könnte stilprägend werden in dieser Krise. Das Autohaus steckt in argen Nöten, der Absatz der Luxuskarossen stockt, die Bilanz ist in die roten Zahlen gerutscht. Nun zückt das Management um Vorstandschef Zetsche den Rotstift. Tausende von Beschäftigten befinden sich schon in Kurzarbeit - aber das reicht offenbar nicht. Alle sollen nun weniger arbeiten - und weniger verdienen. Um knapp neun Prozent sollen die Einkommen gekürzt werden, ein Kurs ohne Alternative, das sagt auch Gesamtbetriebsratschef Erich Klemm:

    "Ich glaube, dass wir in einer so schwierigen Situation sind, dass es überhaupt keine Alternative gibt, wenn wir unser oberstes Ziel mit dem wir in diese Gespräche gegangen sind, durchsetzen wollen, nämlich die Beschäftigung in diesem Unternehmen durch die Krise hindurch zu retten."

    Im Gegenzug hat sich der Konzern verpflichtet, auf Entlassungen zu verzichten. Die Beschäftigten reagieren überwiegend erleichtert.

    "Größere Anschaffungen, da muss man halt jetzt wieder länger drauf sparen, um sich das leisten zu können. Aber wir können trotzdem so weiter leben, wie seither auch."

    "Es sind knapp neun Prozent, die jetzt einfach weniger auf dem Konto sind. Doch ich denke, die kann man irgendwo einsparen, das geht."

    "Meine Meinung ist halt, dass das Management was falsch gemacht hat. Wer zahlt diese Manager, die so einen Unsinn daher planen, sage ich mal. Also unglaublich."

    Das Modell Daimler könnte Schule machen. Auf Lohn verzichten, um Arbeitsplätze zu retten, das könnte in vielen Betrieben zur Krisenstrategie erkoren werden. Sehr zum Verdruss der Gewerkschaften allerdings. IG Metall-Chef Berthold Huber:

    "Zusätzliche Lohnverzichte, dafür gibt es im Moment gar keinen Anlass dazu. Die Entlastung der Arbeitgeber ist groß, und wenn sie im Einzelfall nicht ausreicht, dann muss man sich hinsetzen und unter der Übersicht "Beschäftigungssicherung" schauen, was man noch tun kann."

    Die Bundesregierung geht davon aus, dass die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr um sechs Prozent schrumpfen wird. Die Zahl der Arbeitslosen könnte im nächsten Jahr auf über fünf Millionen steigen. Kein gutes Umfeld, um machtvolle Arbeitskämpfe zu führen, ahnt auch IG Metall-Chef Huber.

    "Wir müssen alles tun, dass es nicht zu einer solchen Massenarbeitslosigkeit in Deutschland wieder kommt. Wir müssen alles tun, und das kann man leisten, und das kann Politik leisten, und das können die Tarifvertragsparteien mithelfen, das kann die Wirtschaft leisten."

    Wie der Fall Daimler zeigt, sind Betriebsräte und Gewerkschaften durchaus zu Zugeständnissen bereit, wenn dadurch Arbeitsplätze gesichert werden können. Das aber sollen Ausnahmefälle bleiben, betont Gewerkschaftsboss Huber. Eine generelle Lohnzurückhaltung sei auch volkswirtschaftlich nicht sinnvoll, das sagt Reinhard Bispinck von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung:
    "Je stärker es den Unternehmen gelingt, Lohnkosten zu senken, Ansprüche zurückzuschrauben, Löhne abzusenken, Sonderzahlungen zu kürzen, um so mehr schneiden sie sich gesamtwirtschaftlich ins eigene Fleisch. Das ist dann gleichzeitig nämlich auch fehlende Nachfrage und ein krisenverschärfendes Moment. Eigentlich müsste die Lohnpolitik das dritte Konjunkturpaket sein."

    Und so ist scheint es nur konsequent, wenn sich die Gewerkschaften mit ihren Lohnforderungen auch im Jahr der Krise ganz unbescheiden geben: Die IG BAU fordert für die Gebäudereiniger etwa 8,7 Prozent, die Bahngewerkschaft Transnet ruft acht Prozent auf, und die Dienstleistungsgewerkschaft verdi zeigt im baden-württembergischen Einzelhandel mit 6,8 Prozent auch keine übertriebene Angst vor der Krise. Forderungen, die schwer durchzusetzen sein werden, meint der frühere IG Metall-Chef Franz Steinkühler:

    "Ohne Kampf gibt es keine guten Ergebnisse. Wer nicht kämpfen kann, der hat eigentlich schon verloren, ehe er anfängt. Daran müssen sich Arbeitnehmer erst gewöhnen, sie werden nichts geschenkt kriegen und jetzt angesichts der aktuellen Krise sind die Kräfteverhältnisse zwischen der Sozialpartei noch mehr zu ungunsten der Gewerkschaft verschoben worden und man darf sich nichts vormachen. Die andere Seite wird diese gewundene Kraft schamlos nutzen, die Gewerkschaften sollten sich auf schwere Verteilungskämpfe vorbereiten."

    Schon die vergangenen Jahre waren aus Gewerkschaftssicht ziemlich magere Jahre. Selbst in der Aufschwungphase waren die DGB Organisationensie kaum in der Lage, das Lohnniveau zu sichern. Die 2,4 Prozent Lohnzuwachs des vergangenen Jahres wurden von der Inflation mehr als aufgezehrt - die Reallöhne sanken. Ein ernüchterndes Ergebnis, räumt auch DGB-Chef Sommer ein:

    "Das Lohnniveau stagniert, die Einkommens- und Vermögensverteilung in diesem Land hat sich uns aufgrund politischer Maßnahmen und dieses Kasino-Kapitalismus sehr zu ungunsten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und kleinen Leuten entwickelt. Das ist teilweise frustrierend. Bloß sagen Sie mir die Alternative. Die Alternative ist doch nicht, dass die Gewerkschaften aufhören in ihrem Kampf Existenz zu sichern und Existenzen zu verbessern. Wir können uns die Bedingungen unter denen wir arbeiten nicht aussuchen. Das sind unsere Bedingungen derzeit."

    Nur in den klassischen Industriebranchen wie Metall und Chemie gelingt es den Gewerkschaften noch, ordentliche Lohnzuwächse durchzusetzen. Im Dienstleistungssektor, im Handel und im Handwerk dagegen mussten sich die Beschäftigten selbst in den Boomjahren 2005 bis 2008 mit ziemlich mageren Ergebnissen zufrieden geben. Und selbst die mächtige IG Metall muss anerkennen, dass sie verwundbar ist.

    Massive Mitgliederverluste haben die Schlagkraft der Gewerkschaften gemindert, und das hinterlässt tiefe Spuren. Die Lohnquote, also der Anteil der Löhne und Gehälter an der Wirtschaftsleistung sinkt stetig. In keinem anderen Land in Europa ist der Niedriglohnsektor so stark angeschwollen wie in Deutschland. Ein besorgniserregender Befund, sagte Sybille Stamm von der Dienstleistungsgewerkschaft verdi und nennt Gründe:

    "Sechzig Prozent derzeit im Einzelhandel sind Teilzeitbeschäftigte, überwiegend Frauen, die auf den Job angewiesen sind. Wir haben zunehmend mehr Leih-Arbeiter, auch im Einzelhandel. Wir haben Prekär-Beschäftigte, also eine wachsende Anzahl befristet Beschäftigter und das macht es natürlich für eine Gewerkschaft viel, viel schwieriger, weil die Angst auch sehr groß ist, da einen Schulterschuss hinzubringen und eine bedeutungsvolle Masse auf die Straße zu bringen."

    Es gelingt den Gewerkschaften offenbar immer weniger, Druck auf die Gegenseite auszuüben. Im Einzelhandel, im Handwerk oder in der Zeitarbeit ziehen sich die Tarifverhandlungen inzwischen oft über ein Jahr hin, weil die Gewerkschaften nur begrenzt kampffähig sind, das sagt Reinhard Bispinck von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung:

    "Es hat da ganz fantasievolle Aktionen gegeben, zum Teil auch längere Streikaktionen. Das Hauptproblem ist nur, die Arbeitgeber gerade im Einzelhandel sind sehr findig geworden im Unterlaufen von Streikmaßnahmen. Das ist natürlich bei einem niedrigen Organisationsgrad auch immer leicht zu machen. Es gibt da nicht die anfällige, verkettete Produktion die wir aus den Industriebetrieben, etwa der Automobilindustrie kennen. Sondern da werden Leih-Arbeitskräfte eingesetzt, da werden Belegschaften umdirigiert von einer Filiale in die andere. Deswegen ist dieses berühmte Schwert des Streiks stumpf geworden in dem Bereich."

    In vielen Branchen sind die Gewerkschaften nicht mehr in der Lage, existenzsichernde Einkommen durchzusetzen. Für das brandenburgische Friseurhandwerk zum Beispiel hat die Dienstleiustungsgewerkschaft verdi Stundenlöhne von 2 Euro 75 ausgehandelt. Das ergibt nicht einmal 500 Euro Brutto pro Monat. Tarifverträge, die arm machen. IG Metall-Chef Berthold Huber nennt ein anderes Beispiel: Durch Leiharbeit ist selbst in Hochlohnbranchen das Tarifgefüge ins Rutschen geraten. Denn Leiharbeiter werden meist deutlich schlechter bezahlt als die Stammbelegschaften:

    "Es ist unwürdig, dass auf der linken Seite des Montagenbandes die Hälfte verdient wird, wie auf der rechten Seite. Das spaltet die Belegschaften, das gefährdet tendenziell feste tarifvertraglich regulierte Arbeitsplätze und es ist im Interesse aller Arbeitnehmer, dass diese Spaltung, dass der Einhalt geboten wird."

    Die ernüchternde Bilanz aus Gewerkschaftssicht: In keinem anderen europäischen Land fielen die Lohnzuwächse in den vergangenen zehn Jahren so schmal aus wie in Deutschland. Für die Unternehmen war das natürlich erfreulich. Sie haben ihre Wettbewerbsposition deutlich verbessert, sagt Hagen Lesch, Tarifexperte des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft.

    "Die Gewerkschaften haben erkannt, dass sie aufgrund der starken Exportorientierung Deutschlands nun mal etwas tun mussten, um die Wettbewerbsfähigkeit der Deutschen Industrie zu sichern. Wir haben hier ein sehr hohes Arbeitskostenniveau und wir haben durch die Tarifpolitik der vergangenen Jahre dafür gesorgt eigentlich, dass die Arbeitskostenposition wesentlich besser geworden ist und wir im Gegensatz zu anderen Exportnationen einen viel höheren Exportanteil an der Wertschöpfung uns erhalten haben."

    Kein Wunder, dass die Bilanz im Arbeitgeberlager in mildem Licht erscheint. Die Tarifautonomie in Deutschland habe sich in sechs Jahrzehnten bewährt, Arbeitgeber und Gewerkschaften hätten auch auf die Herausforderungen der Globalisierung die richtigen Antworten gefunden, sagt Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt:

    "Wir haben die Arbeitslosigkeit abgebaut, wir haben die Beschäftigung aufgebaut, wir haben insbesondere auch Langzeitarbeitslose in beträchtlichem Umfang wieder in Arbeit gebracht und ich denke, wir haben durch die Anpassung der Tarifautonomie auch Werkzeuge dafür geschaffen, dass wir in der jetzigen schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit die Beschäftigten möglichst lange in den Unternehmen halten."

    Nicht alle im Arbeitgeberlager bewerten das so positiv. Tarifexperte Hagen Lesch sieht mit Sorge, dass die vielgelobte deutsche Tarifautonomie immer mehr erodiert. Und das nicht nur, weil die Gewerkschaften schwächeln. Auch die Arbeitgeberverbände stecken in einer tiefen Krise. Immer mehr Unternehmen entziehen sich der Tarifbindung, indem sie aus den Arbeitgeberverbänden austreten.

    "Wir können froh sein, wenn wir das Tarifsystem zu mindest in den industriellen Sektoren erhalten können oder auch in den klassischen Dienstleistungssektoren wie im Bankgewerbe oder im Handel. Wenn dort die Flächentarifverträge überleben, wäre das aus meiner Sicht schon ein Erfolg. Wir werden in den anderen Bereichen vermehrt eben gesetzliche Regulierung haben, weil ich auf absehbarer Zeit nichts sehe, wie Gewerkschaften hier Fuß fassen sollen und vor allen Dingen sehe ich nicht das Interesse auf Arbeitgeberseite auch in diesen Dienstleistungssektoren oder auch im Handwerk funktionierende Tarifverträge wieder einzusetzen."

    Arbeitgeber und Gewerkschaften sind immer weniger in der Lage, verbindliche Regeln für einzelne Branchen festzulegen. Nur noch jeder fünfte Beschäftigte ist gewerkschaftlich organisiert. Damit schwindet die prägende Kraft der Tarifverträge. Nur noch 61 Prozent der Beschäftigten sind tariflich gebunden. In den 90er-Jahren waren es noch über 80 Prozent. Auch Arbeitgeberpräsident Hundt hält das für keine gute Entwicklung:

    "Für größere Unternehmen benötigen wir Regelungen und da gibt es als Alternative zur Tarifautonomie eben die Entgeltfestsetzung und die Regelung der Arbeitsbedingungen durch den Staat und nach aller Erfahrung ist dies die deutlich schlechtere Alternative."

    Was aber geschieht, wenn den Tarifparteien die Autorität immer mehr abhanden kommt, um grundlegende Bedingungen wie Arbeitszeiten und Entgelte festzulegen? Dann muss der Staat die Lücke füllen, sagt Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft. Denn ein Minimum an Regulierung sei schon notwendig.

    Auch die Gewerkschaften haben längst anerkannt, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die Erosion des Tarifgefüges zu stoppen. Auch sie sind der Ansicht: Nun soll der Staat es richten. Er soll das Lohngefüge durch Untergrenzen stabilisieren und die Tarifflucht der Unternehmen stoppen, indem er Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt.

    Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt hält davon allerdings nicht allzu viel, die Tarifparteien seien gut beraten, diese Probleme selbst zu lösen, meint er und sieht dafür auch gute Chancen.

    "Die Akzeptanz der Tarifbindung nimmt in Deutschland wieder zu. Nicht zuletzt auch als Folge der neuen Balance die wir in der Tarifautonomie gefunden haben. In einer neuen Balance zwischen tarifvertraglicher Regelung auf der einen Seite und betrieblicher Gestaltungsmöglichkeit auf der anderen Seite."

    Tatsächlich haben die meisten Flächentarifverträge inzwischen sogenannte Öffnungsklauseln eingebaut, die den Unternehmen Abweichungen von den Branchenregeln erlauben, wenn die Betriebe in schweres Fahrwasser geraten. Die Gewerkschaften haben dies lange Zeit nur zähneknirschend hingenommen. Inzwischen merken sie, dass die Verlagerung der Tarifpolitik auf die betriebliche Ebene einen ganz eigenen Reiz entfalten kann.

    "Ja, die Gewerkschaften versuchen in der Tat Tarifpolitik und betriebliche Interessenvertretung neu miteinander zu verknüpfen. Also im Betrieb die Mitglieder zu aktivieren, um ihren Tarifvertrag auch lebendig zu machen, dass er nicht nur auf dem Papier steht. Und mit dieser neuen Verknüpfung von Tarif- und Betriebspolitik haben die Gewerkschaften in vielen Betrieben durchaus Erfolge. So gesehen ist die Krise auch ein Stückchen eine Chance."

    Die IG Metall, die mit dem Pforzheimer Abkommen 2004 erstmals tarifliche Öffnungsklauseln zustimmte, hat mit der Verlagerung der Auseinandersetzungen in die Betriebe ziemlich gute Erfahrungen gemacht. Wenn die Gewerkschaft dort mit der Firmenleitung über Lohnzuschläge oder längere Arbeitszeiten verhandelt, dann wird sie auch für die Beschäftigten interessanter. Den Mitgliederschwund hat die IG Metall inzwischen gestoppt.

    Dieser Trend könnte sich in den kommenden Monaten allerdings schnell wieder umkehren. Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, dann verlieren die Gewerkschaften Mitglieder, dann sinkt ihre Schlagkraft. Das sieht nicht nur IG Metall-Chef Berthold Huber mit Sorge. Auch im Dachverband wächst die Nervosität. DGB-Chef Michael Sommer macht sich bereits öffentlich Sorgen um den sozialen Frieden im Land:

    "Ich glaube schon, dass es dann auch Unruhen geben würde, wenn die Menschen massenhaft ihre Existenz verlieren, wenn ihre Betriebe geschlossen werden, wenn sie gleichzeitig sehen, die Krisenlasten sollen auf ihrem Rücken abgewickelt werden. Das wäre ein gefährliches Gebräu. Wenn man dieses Gebräu vermeidet, dann wird es auch in diesem Land nicht dazu kommen. Ich will das nicht, niemand will das, der verantwortlich ist."

    Sommer sorgte mit seiner Mahnung auch in den eigenen Reihen für Verwunderung. Franz Steinkühler, der einstige IG Metall-Chef, hätte nichts dagegen, wenn die Gewerkschaften ein bisschen frecher aufträten. Für eine Radikalisierung in den Belegschaften kann er aber kaum Anzeichen erkennen - anders als in Frankreich, wo zornige Beschäftigte schon mal den Unternehmenschef festsetzen.

    "Offensichtlich tragen die sozialen Sicherungssysteme - und da wird die Politik sicherlich auch viel Geld reinstecken, weil sie das auch weiß - dazu bei, das die schlimmsten Folgen einer zunehmenden Arbeitslosigkeit auf fünf Millionen nicht dazu führt, dass in Deutschland massenweise auf die Straße gegangen wird. Spontan, wie das in Frankreich der Fall ist."

    So drückt die Warnung Sommers vor allem eines aus: Die tiefe Ratlosigkeit der Gewerkschaften. Sie wissen nicht, wie sie der Krise begegnen sollen. Und fürchten, dass ihre Machtbasis weiter bröckelt.

    "Wir haben eine ökonomische Krise, die sich gewaschen hat, wie wir sie möglicherweise nach dem Krieg in Deutschland noch nicht hatten und ich sehe voraus, dass der Druck auf die Gewerkschaften noch massiv zunehmen wird und dafür sind sie nicht gut gerüstet."