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Startklar für Olympia 2010?

Der 12. Februar 2010 ist das magische Datum – dann beginnen in Vancouver die XXI. Olympischen Winterspiele, vom 12. bis zum 21. März schließen sich die Winter-Paralympics an.

Von Thomas Schmidt | 26.10.2009
    Wer in der Stadt allerdings ein Spalier vor Baukränen und hektischen 24-Stunden-Betrieb auf halbfertigen Sportstätten erwartet, der irrt: Am 12. Dezember 2008 wurde die Olympia-Eislaufhalle von Vancouver eröffnet. Damit war die letzte der neuen Wettkampfarenen für die Winterspiele fertig gestellt - genau ein Jahr und zwei Monate vor der Eröffnungsveranstaltung im nächsten Frühjahr.

    "Wir wollten den Heimvorteil, wir wollten, dass unsere Athleten die Sportstätten schon frühzeitig nutzen können", gibt Dan Doyle relativ unverblümt zu, er ist Vize-Chef des Organisationskomitees in Vancouver, kurz Vanoc genannt. Womit er nur einen Teil der überraschenden Pünktlichkeit erklärt: Die Organisatoren wollten auch schneller sein als der rasante Preisauftrieb im Baugewerbe an Kanadas Westküste – und sie beschränkten sich innerhalb des 400-Millionen-Euro-Olympia-Etats auf eher unspektakuläre Zweckbauten ohne architektonische Grandezza.

    Sie sitzen in einem traditionellen Longhouse – einem indianischen Langhaus – und singen eines ihrer seit Generationen überlieferten Lieder: Angehörige der Squamish und Lil-wat, Stämme aus dem heutigen Gebiet von Vancouver, die hier seit hunderten von Jahren zuhause sind. Lieder wie diese haben sie begleitet, wenn sie mit langen Kanus, aus einem einzigen Baumstamm gehauen, an der Pazifikküste entlang bis in den Süden des heutigen Kaliforniens gepaddelt sind. Sie gaben den Takt vor auf der wochenlange Reise, und sie halfen, andere Seefahrer schon vor Sichtkontakt zu erkennen – an der Melodie ließ sich ausmachen, ob man Freund oder Feind begegnen würde.

    Wenn das Lied heute erklingt, dann nicht um die vielleicht besseren alten Zeiten herauf zu beschwören – es ist eine Übungsstunde, denn das Lied ist Teil einer geplanten CD, die demnächst in einem Tonstudio in Vancouver produziert werden soll. Dabei geht es allerdings nicht um billige Folkore für ein buntes olympisches Rahmenprogramm.

    "Hier geht es nicht um Holzperlen und Federschmuck", sagt Gibby Jacob, "wir sind dabei, wir sind gleichberechtigte Partner." Gibby sagt das mit großer Würde und natürlichem Stolz. Um den Hals trägt er eine Kette mit eindrucksvollen Bärenklauen und ein schweres silbernes Amulett.

    Er ist erblicher Häuptling der Squamish und damit Angehöriger des Hochadels der nordamerikanischen Ureinwohner, aber - fast wichtiger noch – er ist Repräsentant einer bislang einmaligen Erfolgsstory. Denn zum ersten Mal in der Olympischen Geschichte werden in Vancouver die vier Indianerstämme, auf deren Territorium die Wettbewerbe ausgetragen werden, auch als offizielle Gastgeber auftreten – auf Augenhöhe also mit den Vertretern der kanadischen Regierung.

    Und damit dieses Four Host Nations Agreement – die Vereinbarung über die vier indigenen Gastgeber-Nationen auch wirklich gewahrt bleibt, sitzt Gibby Jacob schon seit Beginn der Vorbereitungsphase mit am Tisch – als Mitglied im Organisationskomitee für die Winterspiele. Dass das machbar sein würde, hatten selbst optimistische Vertreter der Stämme nicht für möglich gehalten.

    "Wir, die anderen Häuptlinge und ihre Vertreter hier haben geschlossen unsere Interessen vertreten, nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft", sagt Gibby. Die Verhandlungen verliefen zunächst zäh, die Gegenseite war nicht uneingeschränkt aufgeschlossen gegenüber den Forderungen der Stämme: der Verhandlungsmarathon von mehr als 25 Sitzungen erstreckte sich über ein ganzes Jahr, erst dann war die Vereinbarung perfekt. Möglich wurde sie, weil die Ureinwohner einerseits Konflikte und Rivalitäten untereinander überwinden konnten und die kanadischen Regierungsvertreter andererseits den Erfolg der Vancouver-Bewerbung nicht gefährden wollten.

    "Sie haben wahrscheinlich eine Risiko-Analyse gemacht und sind zu dem Schluss gekommen, dass sie – anstelle eines Konflikts – besser mit den Ureinwohnern zusammenarbeiten und ihre Interessen einbeziehen sollten", so lautet Häuptling Gibby Jacobs - durchaus nachvollziehbare und durchaus pragmatische Analyse.

    Vancouver ist jung, nicht nur als Stadt, sondern auch in ihrem Flair, und sie hat nach dem Zuschlag für die Olympischen Winterspiele 2010 einen zusätzlichen Boom erlebt: Die Apartments, die an der Südseite der Innenstadt für das neue olympische Dorf gebaut werden, waren innerhalb weniger Stunden an private Investoren verkauft – von Immobilienkrise keine Spur.

    Das liegt nicht nur an den kommenden Winterspielen – Wohnraum ist in Vancouver auch deshalb latent knapp, weil der Zuzug vermögender Einwanderer hauptsächlich aus Hongkong, den Mietspiegel drastisch nach oben getrieben hat. Die Folge: Im Großraum Vancouver sind gegenwärtig an die 100.000 Menschen von Obdachlosigkeit bedroht, in der Stadt selbst leben rund 2200 Menschen dauerhaft auf der Straße. Und dieses Elend ist nicht zu übersehen: Wenn man sich nur ein paar Schritte vom historischen Stadtkern von Vancouver, der malerischen Gastown, entfernt, gelangt man an die Ostseite, die Downtown-Eastside.

    Und hier sieht man schnell, dass Obdachlosigkeit nur ein soziales Teilproblem ist: Prostitution und vor allem Drogenmissbrauch sind allgegenwärtig – Heroin wird hier offen auf der Straße gespritzt, Suchtopfer stehen in langen Schlangen vor offiziellen Drückerstuben, um sich ihre Dosis wenigstens mit sterilen Nadeln injizieren zu lassen. Leere Fensterhöhlen längst geschlossener Geschäfte, bettelnde Junkies, Suff und Verwahrlosung: es ist – nur wenige Schritte von teuren Galerien und szenigen Straßencafes entfernt – eine erschreckende Zombiewelt, ein völlig anderes Universum. Und es ist ein Zentrum der olympischen Totalverweigerer, die die Winterspiele für eine Heimsuchung halten.

    "Die Obdachlosigkeit ist in der Provinz Britisch Columbia zwischen 2002 und 2008 um 337 Prozent angestiegen, das ist entsetzlich", sagt Wendy Peterson, sie ist Sozialarbeiterin, ihr Büro ist in einer Art Stadtteilzentrum mitten in der Downtow-Eastside untergebracht. Für die agile Mittdreißigerin ist die Wohnraum-Misere eine klare Folge des Olympia-Booms – und einer verfehlten Sozialpolitik:

    "Mit den sechs Milliarden Dollar, die für die Olympischen Spiele in Vancouver ausgegeben werden, hätte man Obdachlosigkeit und Armut in der gesamten Provinz British Columbia beheben können", so Wendys Rechnung. Und damit, sagt sie, wäre man auch dem Drogenproblem beigekommen:

    Obdachlosigkeit, mangelnde Sozialhilfe, niedriges Einkommen – das alles führt zur Drogensucht, der Stress frisst die Menschen auf, und sie betäuben sich, um damit fertig zu werden. Wendy Peterson weiß, dass das hässliche Gesicht der Downtown-Eastside auch Sorge bei der Stadtverwaltung auslöst – aber sie bestreitet, dass die Kommunalpolitik daraus auch die richtigen Schlüsse zieht: Es gehe nämlich nicht darum, den Menschen auf der Straße wirklich zu helfen – es gehe um die Optik: Weil Obdachlose und Junkies das Bild von der schönen, wohlhabenden Gastgeberin der olympischen Winterspiele überschatten könnten, wolle man sie vorübergehend wegsperren, so Wendys Vorwurf – nach den Spielen würde man sie dann – ohne die Weltöffentlichkeit als Zuschauer – wieder ihrem Schicksal überlassen.

    Diese Vorwürfe richten sich gezielt an Vancouvers Bürgermeister Gregor Robertson, der erst seit November 2008 im Amt ist. Während des Wahlkampfs ließ sich der kanadische Sozialdemokrat auch als "Vancouvers Obama" preisen – und machte eine klare Ansage:

    Sein Ziel sei es, die Obdachlosigkeit bis 2015 zu beseitigen – so sein Wahlkampfversprechen, zu dem er auch heute noch steht. Wendy Petersons Vorwurf, ihn kümmere dabei nur die bessere Optik, weist er entschieden zurück:

    Moralisch ist es für jeden in der Stadt inakzeptabel – wir müssen uns darum kümmern, es hat nichts mit den Winterspielen oder gar mit der Optik zu tun, sagt Bürgermeister Robertson. Früher gab es an der Downtown Eastside zahlreiche Absteigen, in denen man für kleines Geld – 350 Dollar Monatsmiete - ein schmutziges Zimmer mit Kakerlaken bekam. Viele dieser Billig-Hotels mussten jedoch teurem Wohnraum Platz machen. Die Provinzregierung hat zwar vor einiger Zeit einige schäbige Hotels mit 650 Zimmern als billigen Wohnraum aufgekauft, aber das reicht längst nicht aus - früher gab es 12.000 solcher Zimmer. Zusätzliche Unterkünfte sollen nun gebaut werden, erschwinglich und akzeptabel, sagt Robertson, und das wolle er keineswegs vor der Öffentlichkeit verbergen:

    "Wir wollen ganz offen sein und der Welt zeigen, wie wir mit dem Problem umgehen, wie wir Schritt für Schritt den Menschen helfen, von der Straße zu kommen und im Leben wieder Tritt zu fassen", sagt Bürgermeister Robertson. Sein Wahlkampfversprechen, das Problem bis 2015 zu beheben, will er auf jeden Fall einlösen. Wie – das hat er bisher noch nicht detailliert dargelegt, aber selbst wenn, sagt Wendy Petersen – Obdachlosigkeit hat eine Dimension, die weit über die Zuständigkeit von Vancouvers Bürgermeister hinaus geht:

    Wir sind die einzige Nation im Kreis der wohlhabenden G-8-Staaten ohne ein Programm für sozialen Wohnungsbau – Schande über Kanada! Streitbare Worte ohne jeden versöhnlichen Unterton – aber nicht überall im Stadtteilzentrum von Vancouvers Downtown-Eastside stehen die Zeichen derart auf Sturm. Im Gegenteil: Nur zwei Etagen unter dem bescheidenen Büro von Wendy Peterson wird ganz bewusst nach Einklang und Harmonie gesucht:

    In einem Raum im Kellergeschoss sind ein gutes Dutzend Stühle im Halbkreis aufgestellt, alle sind besetzt, und vor diesem kleinen gemischten Chor steht Beverley Debrinsky mit einer Stimmgabel in den Hand. Die kleine rundliche Frau mit den flinken Bewegungen und den wachen freundlichen Augen gibt den Einsatz – unterstützt von Anschlägen auf einem Keyboard.

    Dies ist kein fester Kreis aus Sängerinnen und Sängern – manche kommen regelmäßig, andere zufällig, wieder andere wollen gar nicht mitsingen, nur zuhören – oder sich an einem vergleichsweise angenehmen Ort vorm Wetter oder dem alltäglichen Elend auf der Strasse schützen.

    Eigentlich geht es Beverly Debrinsky darum, verschiedene Kulturen über Musik zusammenzubringen: Jeder, der kommt ist eingeladen, den anderen vorzusingen – mag es ein russisches Wiegenlied sein oder ein nordamerikanischer Folksong. Aber Beverly hat auch erkannt, dass dieser kleine Kreis nach mehr verlangt, als einem rein kulturellen Brückenschlag:

    "Es geht auch darum, die Isolation vieler Menschen zu überwinden und in diesem Viertel gibt es nicht so viele Möglichkeiten, alle und alles zusammenzubringen - und das ist ganz klar auch unsere Absicht." Bislang hat Beverly – soweit man das unter den gegebenen Umständen überhaupt beurteilen kann – ganz guten Erfolg gehabt. Auf jeden Fall ist sie dem selbst gesetzten Ziel, ein Lied gemeinsam so gut einzustudieren, dass man es öffentlich aufführen kann, schon ein großes Stück näher gekommen. Beverly hat einen Titel ausgesucht, der zum Gesicht von Vancouvers Downtown Eastside passt – ‚As tears go by’:

    Vancouver gilt mittlerweile ganz selbstverständlich als die Stadt der kommenden Winterspiele – dabei ist sie alles andere, als ein klassischer Wintersportort. Ganz im Gegenteil: Es ist die erste Stadt der Winterspiele, die direkt am Meer liegt. Schnee gibt es angesichts des milden Pazifikklimas selbst im tiefsten Winter höchst selten. Das stört wenig bei den traditionellen Hallensportarten, nur beim Skifahren, da ist man hier völlig an der falschen Adresse. Und deshalb werden über die Hälfte der olympischen Goldmedaillen auch gar nicht in Vancouver vergeben, sondern in Whistler, knapp zwei Autostunden entfernt. Hier erstreckt sich, an den Hängen von Whistler- und Blackcomb-Mountain das größte Pistenrevier Nordamerikas: Die Abfahrten sind bis zu 11 Kilometer lang bei einem Höhenunterschied von 1600 Metern. Die 38 Lifte haben eine Stundenkapazität von 65.000 Skifahrern, und – nur der Ordnung halber – auch hier ist natürlich alles längst startklar für Olympia 2010.

    Neben besten Bedingungen bietet sich hier auch das atemberaubende Bergpanorama einer unberührten hochalpinen Welt – das es schwer nachvollziehbar macht, dass man gerade mal 100 Kilometer von der Pazifik-Küste entfernt ist. Es sei denn, man schlägt die Speisekarte in einem der zahlreichen guten Restaurants in Whistler auf.

    Günter: "Eigentlich sind wir spezialisiert auf Fisch und Wild so wie Carbo und Reh, wir haben Hummer auf dem Menü und wir haben, was halt immer so in Saison ist, eigentlich."

    Rolf Günter ist Mitbesitzer des Rimrock Cafes in Whistler, wobei ‚Cafe’ ein leichtes Understatement ist, wie Günters kleine Auswahl aus dem Speiseangebot des renommierten Restaurants erkennen lässt. Frischer Fisch und Hummer, natürlich Austern und Jacobsmuscheln, Lachs aus dem Pazifik – das ist ein durchaus exklusives Angebot direkt am Pistenrand.
    Frische Ware hat bei Günter oberste Priorität – und er schaut deshalb auch nicht ganz sorgenfrei auf die kommenden Winterspiele. Es führt nämlich nur eine einzige Straße von Vancouver nach Whistler, und die wird während der Spiele tagsüber für den öffentlichen Verkehr gesperrt – aus Sicherheitsgründen, aber auch um den Shuttle-Verkehr von Zuschauern und Athleten reibungslos zu gewährleisten.

    Whistler, Vancouver – wie Rolf Günter vom Rimrock Cafe stellen sich alle darauf ein, auf das große Spektakel vom 12. bis zum 28. Februar nächsten Jahres. Es ist das dritte Mal, dass eine kanadische Stadt die Jugend der Welt zu sich gerufen hat - 1976 war Montreal Gastgeber der Sommerspiele, 1988 fanden schon einmal Winterspiele in Calgary statt – und zumindest in einem Punkt sind sich Gegner wie Befürworter einig: Vancouver wird ein einmaliges Beispiel abgeben:

    "Unsere Regierung hat sich entschieden, Geld für eine zweiwöchige Party auszugeben und dafür eine Infrastruktur zu errichten, anstatt Menschenrechtseinrichtungen zu schaffen", so das Urteil von Olympia-Gegnerin und Obdachlosen-Aktivistin Wendy Peterson.

    Es gibt diese Kontroverse in der Stadt, ob das nun positiv oder negativ ist, aber – wissen Sie, sagt Bürgermeister Robertson, wenn die Spiele erst einmal da sind, beginnt eine total aufregende Zeit, und wir werden tun was wir können, um das Positive herauszuholen. Für Gibby Jacob, den Squamish-Häuptling im Organisationskomitee von Vancouver, ist dieses Ziel schon erreicht:

    "Man hat uns gesagt: Ohne Euch hätten wir diese Spiele nicht bekommen. Ohne die kanadischen Ureinwohner – wir hätten die Spiele nicht bekommen." Und für Tewanee Joseph, den traditionsbewussten Olympia-Manager mit den Maori-indianischen Wurzeln und dem Hang zu Blues und Rock ist 2010 nur ein Zwischenziel. Er blickt schon auf den Weg in die nächste Generation:

    Er freue sich darauf dabei zu sein, wenn Kinder der Ureinwohner kanadische Athleten und Athleten aus aller Welt anfeuern, und dabei den Blick in ihren Augen zu sehen, denn er wisse: Wenn sie dann nach Hause gehen, werden sie diesen Eindruck nie wieder vergessen.