Wir Jüngeren, wir haben die Probleme anders gesehen, und dann natürlich auch andere Meinungen und andere Urteile gefällt als die Älteren, die in den Denkgewohnheiten zum Teil noch der preußischen Zeit gelebt haben. Das ist ein Generationenproblem, das ja wohl mit jeder Generation auftaucht. Aber ich muss gestehen, auch wir Jüngeren, die wir sehr viel skeptischer waren und sehr viel mehr Sorge hatten, auch wir Jüngeren hatten völlig unterschätzt, was die Nazis dann getan haben.
Für den Exilvorstand in Prag hält Fritz Heine die Verbindungen zu den sozialdemokratischen Widerstandsgruppen im Reich. 1938 organisiert er die Übersiedlung des Parteivorstands nach Paris. Nach dem Überfall der deutschen Truppen auf Frankreich kann er sich in den unbesetzten Süden absetzen. Ab Mitte 1940 kümmert er sich in Marseille um die Ausreise zahlreicher Sozialdemokraten, Gewerkschafter und anderer Flüchtlinge, die von der Auslieferung an die Deutschen bedroht sind. Letzte Exil-Station ist Großbritannien, wo Heine ab Herbst 1941 für die Propagandasender der Psychologischen Kriegsführung arbeitet. Die politischen Vorstellungen Heines über die Zukunft der deutschen Sozialdemokratie orientieren sich wie die der anderen England-Emigranten am Beispiel der Labour-Party. Nur durch die Erschließung neuer Wählerschichten und das bedeutet: durch ein Bündnis mit dem liberalen Bürgertum könne die Arbeiterpartei regierungsfähig werden. So schreibt er damals an einen Freund:
Ich glaube, dass uns nach wie vor der unbedingte Wille zur Macht fehlt. Die geistige Kleinbürgerei ist noch nicht überwunden und noch immer bilden wir einen höchst isolierten festen Block, der wenig wirkliches Bemühen um andere Schichten erkennen lässt.
Die persönliche Tragik von Fritz Heine besteht darin, dass er diese Erkenntnis nicht in die politische Praxis umsetzen konnte. Nach der Rückkehr nach Deutschland leitet er das Büro von Kurt Schumacher. Er ist der engste Mitarbeiter des SPD-Vorsitzenden in einer Phase, als die SPD aus ihrem Widerstand gegen das NS-Regime praktisch eine natürliche Legitimation ableitet, Regierungspartei zu werden. Die erste Bundestagswahl geht jedoch knapp verloren. Nach dem Tod Kurt Schumachers ist das Büro der hauptamtlichen Vorstandsmitglieder das eigentliche Machtzentrum der Partei und Fritz Heine als Propaganda-Chef für die Wahlkämpfe der SPD verantwortlich. Die Sozialdemokraten, in den Verhältnissen der Weimarer Republik verhaftet, kommen aus dem 30-Prozent-Turm ihrer Stammwählerschaft nicht heraus. Außerdem haben sie mit Erich Ollenhauer einen Kanzlerkandidaten ohne jegliches Charisma. Die Wahlen 1953 und 1957 gehen verloren. Der Abstand zur CDU wird bei jeder Wahl größer. Die Verantwortung dafür wird aber nicht dem Parteivorsitzenden Ollenhauer angelastet, sondern Fritz Heine. Auf dem Stuttgarter Parteitag 1958 wird er im Zuge einer Parteireform nicht mehr in den Vorstand gewählt. Einer seiner wichtigsten Gegenspieler war damals Herbert Wehner:
Wehner war in vieler Beziehung und in vielen Punkten völlig anderer Meinung als ich, und es bestand eine beiderseitige Aversion, die eben dazu führte, dass ich abgewählt wurde, weil Wehner sich als der Stärkere erwies ... aber der Mann ist tot, und ich habe nicht die Absicht, über ihn herzuziehen.
Von 1958 bis 1971 leitet Fritz Heine die 'Konzentrations-GmbH' und ist damit verantwortlich für die SPD-Pressebetriebe. Deren Niedergang im Spannungsfeld zwischen Partei-Räson, Marktbedingungen und gesellschaftlichen Veränderungen kann er nicht verhindern. Stefan Appelius hat mit seiner Heine-Biographie zugleich eine materialreiche Geschichte der SPD vorgelegt. Allerdings ist dies zugleich auch die entscheidende Schwäche des Buches, das zudem leider etwas nachlässig lektoriert ist. Appelius lässt sich von der Fülle der Fakten und Dokumente mitreißen und drückt sich vor Auswahl und Gewichtung. Dadurch stimmen die Proportionen nicht, zum Beispiel, wenn er die gesamte SPD-Politik von 1946 bis zum Sturz Heines 1958 in 56 Seiten abhandelt, aber dem Wiederaufbau und dem Untergang der SPD-Presse 144 Seiten widmet.
Fritz Heine ist im Januar 95 Jahre alt geworden und lebt in einem kleinen Dorf zwischen Rheinbach und Bad Münstereifel; ein sehr liebenswürdiger rüstiger alter Herr, etwas gebeugt, aber immer noch behände und hellwach. Die Sozialdemokratie ist seine politische Heimat geblieben, ohne Abstriche, auch unter einem Vorsitzenden und Bundeskanzler Gerhard Schröder. Trauert er der guten alten Arbeiterpartei SPD nach?
Nein, das wäre auch erstens unsinnig, weil es nie wieder eine alte Arbeiterpartei in dem Sinne von vor 33 oder auch vor 1950 geben wird. Ich glaube, dass es Aufgabe jedes Menschen ist, die Situation, die sich einstellt zu akzeptieren, den Versuch zu machen, es so gut wie möglich zu gestalten, was man dazu beitragen kann. Aber es hat keinen Sinn, alten Zeiten nachzutrauern. Das bringt nichts.
Peter Lange besprach: Stefan Appelius: Fritz Heine. Die SPD und der lange Weg zur Macht. Erschienen ist das Buch im Klartext Verlag in Essen und kostet 49.90 Mark.