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Steinerne Tradition

Seit Jahren boomt Chinas Wirtschaftsmetropole Schanghai am Delta des Yangtze-Flusses. Das Stadtbild heute gleicht dem vieler anderer asiatischer Metropolen: Ein ungebändigtes Chaos aus Hochhäusern und Stadtautobahnen, die sich auf Stelzen ihren Weg durch das Häusermeer suchen. Und doch liegen in Schanghai mehrere Welten ganz nah beieinander.

Von Silke Ballweg |
    Denn zwischen den glänzenden, verspiegelten Hochhaus-Fassaden gibt es immer noch Gassen mit kleinen, einstöckigen Steinhäusern, den sogenannten Shikumen mit einer eigenen Lebensweise, die sich dort während der letzten Jahrzehnte herausgebildet hat. Der Fotograf Wang Geng Feng wurde vor mehr als 40 Jahren in solch einem Shikumen geboren. Heute lebt er am Stadtrand von Schanghai, hat die Beziehungen in seine alte Nachbarschaft jedoch nie abgebrochen. Und um ausländischen Besuchern ein Bild des Lebens in den alten Häusern zu vermitteln, nimmt er manchmal Interessierte mit in das Labyrinth der kleinen Gassen. Silke Ballweg hat ihn bei einer Exkursion begleitet:

    Ein öffentlicher Parkplatz im Zentrum der 20-Millionen-Metropole, direkt hinter der polierten Hochaus-Fassade eines westlichen Luxushotels. Der Boden ist mit weißen Steinen geschottert, aber immer wieder gibt es einige Quadratmeter große Flächen, die mit bemalten Bodenfliesen bedeckt sind. Hier und da stehen Autos in der Sonne:

    "Das ist ein perfekter Parkplatz, und wir stehen gerade auf einem Stück Boden, der bis vor Kurzem das Wohnzimmer von jemandem war. Hier, die Kacheln auf dem Boden, sehen sie, die sind in England hergestellt worden, und man hat sie vor rund hundert Jahren hier verlegt."

    Vor einigen Monaten lebten hier noch Menschen. Mittlerweile sind die Häuser abgerissen, demnächst rücken die Bagger an um Hochhäuser zu bauen. Von dem Parkplatz nur durch eine kleine Gasse getrennt ist ein kleiner Wohnblock, der vom Bauboom bislang verschont geblieben ist.

    "Die meisten dieser Shikumen sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, als immer mehr Chinesen in die schon damals pulsierende Metropole drangen und Wohnraum benötigten. Die Shikumen wurden von westlichen Investoren, sie beauftragten britische und französische Architekten um die Häuser zu entwerfen. Shi bedeutet Stein, Ku bedeutet Rahmen und men heißt Tür, also, die Tür, die durch Stein eingerahmt ist. Diese Häuser existieren nirgends sonst auf der Welt, nur in Schanghai."

    Die meisten Shikumen waren in den sogenannten ausländischen Konzessionen erbaut, in jenen Vierteln also, in denen nicht das chinesische Recht galt, sondern das der ausländischen Mächte, der Briten, Franzosen oder Amerikaner. Die hatten sich in Verträgen mit dem schwächelnden Kaiserreich längst außerordentliche Sonderrechte einräumen lassen, so dass sie in Schanghai eigene kleine Städte innerhalb der Stadt gründen konnten.

    "1884 kaufte ein Engländer hier dieses Land von einem Fischer und ließ anfangs einen Garten anlegen, und dann ließ er mehrere Gebäude bauen, Ausstellungshallen, Vergnügungszentren, etc, er nannte es Arcadia. Sich selbst ließ er auch ein Haus bauen, das war damals das höchste Haus in Schanghai. Arcadia wurde der beliebteste Ort für Ausländer und für Schanghaier, es wurde zu DEM Zentrum der Stadt überhaupt. Die Leute kamen um sich zu vergnügen, ins Restaurant zu gehen, manche hörten sich hier auch politische Reden an. Und wenn man wissen wollte, was modisch gerade "in" war, dann kam man hierher, um die Paare beim Flanieren zu beobachten."

    Dieses internationale Flair wollten auch viele Chinesen miterleben, deswegen zogen schon damals viele in die neugebauten Shikumen.

    Auch heute noch sind die Shikumen übervölkert, doch um liberales Denken geht es längst nicht mehr. In den Häusern lebt, wer sich keine bessere Wohnung leisten kann. Mit mehreren Personen in einem einzigen Zimmer. An den Wänden des Hausflurs ein Kabelgewirr, von der Decke baumeln sechs bis acht Glühbirnen, jede Familie hat ihren eigenen Schalter, Strom, Gas und Wasser werden getrennt gezahlt. Die Küche des Hauses, einst für eine Familie gedacht, ist zur Gemeinschaftsküche umfunktioniert. Die Hängeschränke an den Wänden mit einem Vorhängeschloss versperrt, jede Familie hat auf der Ablage ihren eigenen Gaskocher stehen.

    In den kleinen Gassen sitzen ältere Menschen vor dem Haus, jeder kennt jeden, das hat auch seine Vorteile. Eine junge Frau geht mit einem Blutdruckmessgerät vorüber, sie kümmert sich um einige ältere Familien. In dem Viertel befindet sich ein kleines Krankenhaus, ein Friseur, ein kleiner Lebensmittel-Laden:

    "Der Mann hier repariert Schuhe und macht das schon seit über 40 Jahren. Er kennt die Größen seiner Kunden auswendig, von allen."

    Noch vor knapp 20 Jahren war Schanghai eine Stadt mit eingeschossigen Häusern, heute wird die Skyline von den Wohnhaus-Türmen dominiert. Und der Abbruch der Shikumen geht weiter, auch, weil es sich kaum lohne, die alten Häuser zu sanieren, sagen die, die lieber Hochhäuser wollen. Dennoch: die Stadtregierung hat längst bemerkt, dass das komplette Verschwinden der alten, ruhigen Viertel nicht nur die Lebensqualität in der Innenstadt beeinträchtigt, sondern China auch in die internationale Kritik bringt. Und so hat die Regierung einigen Wohnblocks den Status schützenswerten, kulturellen Erbes zugestanden. Und das Ziel ausgegeben: bis zur Expo im Jahr 2010 in Schanghai sollen alle Shikumen eine eigene Toilette erhalten.