Sabine Adler: In Berlin bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft gehen die Marathonläufer in ein paar Minuten an den Start. Wenn Sie Ihre Strecke bis zur Bundestagswahl vergleichen, wo, bei welchem Kilometer auf der Marathonstrecke befinden Sie sich in etwa?
Frank-Walter Steinmeier: Der Startschuss ist gefallen, wir sind gut unterwegs. Am 30.08. bei den Landtagswahlen im Saarland, in Thüringen, in Sachsen werden die ersten Zwischenzeiten genommen. Und dann geht's auf die zweite Hälfte der Strecke. Noch sind nicht alle unterwegs, noch wollen nicht alle mitlaufen. Aber das stört mich nicht. Wir haben das Ziel fest vor Augen und ich bin sicher: Wir werden da am 27. September bei den Bundestagswahlen einen guten Zieldurchlauf haben.
Adler: Ich bin mir nicht sicher, welches Bild das treffendere ist, das des Marathonläufers oder das des Sisyphus, der immer wieder den Stein hochrollt, dann rollt er wieder runter oder jemand grätscht dazwischen, zum Beispiel die eigenen Genossen, die eigenen Genossinnen – in Gestalt von Ulla Schmidt mit ihrer Dienstwagenaffäre, die längst abgeschlossen sein könnte, wenn alle Daten auf dem Tisch gewesen wären. Dann hätte es vielleicht auch gar keinen Termin vor dem Haushaltsausschuss im Bundestag in der kommenden Woche geben müssen. Wie fühlen Sie sich als Sisyphus, der den Stein rollt und die eigenen Genossen sind so zusagen die, die ihn wieder zurückstupsen?
Steinmeier: Sie wissen, es gilt die Behauptung, dass Sisyphus ein glücklicher Mensch war. Literarisch haben darum viele Bemühungen stattgefunden. Ich zweifle manchmal, dass es wirklich so war. Insofern: Der mir entgegenkommende Stein macht mich nicht unbedingt glücklicher – will sagen: Natürlich freue ich mich erstens über gute Umfragen, zweitens wenn der Wahlkampf und die Wahlkampfvorbereitung ungestört verlaufen. Insofern sind solche Debatten, wie über die Dienstwagennutzung natürlich nicht willkommen. Aber wissen Sie, das gehört zum Geschäft, auch damit muss man umgehen können, man darf das Ziel dabei nicht aus den Augen verlieren. Ich bin da mit guten Nerven ausgestattet und selbstbewusst genug, um zu sagen: Das wird die Wahlentscheidungen dann am 27. September nicht entscheidend beeinflussen, selbst wenn es jetzt etwas stört.
Adler: Sie haben die Umfragen gerade angesprochen. Wie kommt das eigentlich bei Ihnen an, wie verkraften Sie es, wenn Sie jeden Donnerstag ganz regelmäßig einen Schlag in die Magengrube kriegen?
Steinmeier: Wenn's nur donnerstags wäre, ginge es. Aber von montags bis mittwochs gibt es auch Umfragen von unterschiedlichen Sendern, unterschiedlichen Zeitungen, manchmal in Regionen. Man darf sich davon einfach nicht kirre machen lassen. Ich tue das nicht, war nie ein Umfragen-Yankee, wenngleich man sie nicht ignorieren darf. Natürlich bilden sich in Umfragen Trends ab und ich muss versuchen, diese Trends positiv zu beeinflussen. Nur eines darf man nicht tun: Seine Politik nur an Umfragen ausrichten. Man muss die Politik vertreten – und das tue ich –, die ich für richtig halte. Und ich glaube, wir sind insbesondere mit den Themen – erstens Beseitigung der Krise, und zweitens: "Wie schaffen wir Arbeit von morgen?" auf den richtigen Weg.
Adler: "Bewältigung der Krise" war auch das Motto für Ihre Deutschlandtour. Sie haben sich vor Ort angeschaut – in mehreren Städten, in Betrieben, Bildungseinrichtungen –, wie der Krisenbewältigungsplan der Bundesregierung ankommt. Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie erfahren haben? Wirkt das Ganze, was Sie da vorhatten?
Steinmeier: Unter zwei Gesichtspunkten ja. Erstens das, was ich selbst sehe. Es gibt ganz augenscheinliche Hinweise darauf, wenn ich im Augenblick quer durch die Landschaft fahre: Auffällig viele Baustellen, die mich manchmal ein bisschen daran hindern, rechtzeitig am Ziel anzukommen. Und fragen Sie die Bürgermeister und Oberbürgermeister, so ist in der Tat vieles jetzt initiiert worden durch das Investitionsprogramm, was wir gegenüber den Städten und Gemeinden ausgereicht haben. Vieles findet jetzt statt an Sanierungen in Schulen und Kindergärten, auch in der kommunalen Infrastruktur, bei den kommunalen Straßen etwa. Insofern kann man mit eigenen Augen sehen, dass da etwas in Gang gekommen ist und dass auf diese Weise auch Arbeitsplätze bei Handwerksbetrieben, bei kleinen und mittelständischen lokalen Unternehmen erhalten bleiben. Aber was ich natürlich auch sehe und mit einiger Genugtuung sehe, ist, dass mittlerweile auch die Experten, selbst der Bundesverband der Banken, sagt, dass das, was wir vorgeschlagen haben zum Konjunkturpaket im Dezember und im Januar gegen viele öffentlich Kritik – ich erinnere mich vor allen Dingen an die Debatte um die Umweltprämie, andere nennen sie Abwrackprämie – das, was wir durchgesetzt haben gegen viele öffentliche Kritik, doch jetzt seine Wirkung zeigt. Denn was sich in den aufhellenden Konjunkturdaten abbildet, ist Folge dieses Konjunkturprogramms, ist Folge der Maßnahmen und Instrumente, die wir auf den Weg gebracht haben, um die Konjunktur in Deutschland zu stützen, um zu verhindern, dass Arbeitsplätze in der Krise jetzt wegfallen. Es zeigt sich, dass das Konjunkturprogramm, das ja im Wesentlichen von sozialdemokratischen Ideen lebt, im Vergleich im internationalen Maßstab offensichtlich das effektivste ist, was auf den Weg gegangen ist.
Adler: Die SPD hat ein Regierungsprogramm vorgelegt, sie hatte einen Deutschlandplan vorgelegt. Wenn man sich die beiden Pläne beziehungsweise Programme anschaut, findet man einen Aspekt nicht besonders breit ausgearbeitet, nämlich den, den Verursachern der Krise tatsächlich etwas entgegenzusetzen, sie auch für künftige Zeiten einzuhegen, ich würde sogar so weit gehen, sie abzustrafen für das, was sie getan haben?
Steinmeier: Das ist ja nicht nur eine Frage des Regierungsprogramms und eines neuen Konzeptes "Deutschlandplan – die Arbeit von morgen", sondern das ist unser tägliches Tun. Wir ringen schon jetzt in der großen Koalition darum, dass wir Lehren aus der Krise ziehen, während andere, insbesondere die Union und die Parteivorsitzende sagen: Wir wollen schnellstmöglich zurück zu den alten Regeln. Ich glaube, das ist kein guter Ratschlag. Wir müssen Regeln ändern, damit sich Krisen wie diese nicht wiederholen.
Adler: Ist es richtig, wenn Sie sagen, die Union möchte zurück zu alten Regeln? Das, was Bundeskanzlerin Angela Merkel tut, zum Beispiel auch im Vorfeld von Pittsburgh, dem Treffen kurz vor der Bundestagswahl Ende September, klingt ja anders. Sie kündigt schon an, für neue Regeln auf der internationalen Bühne zu kämpfen.
Steinmeier: Ich benutze ihre Worte. "Zurück zu den alten Regeln" hat sie selbst in einem Interview öffentlich gesagt. Und Sie sehen ja, da, wo es dann konkret wird, wo wir sagen: Wir müssen Abfindungen steuerlich anders behandeln als bisher. Es kann nicht in Betracht kommen, dass Millionen Abfindungen steuerfrei gestellt werden. Da weigert sich die Union, solche Regelungen mitzutragen. Das macht ja da, wo wir Gestaltungsmöglichkeiten haben, hier in Deutschland, nur zu deutlich, dass die Union nicht gewillt ist, die notwendigen Lehren aus diesen Krisen zu ziehen.
Adler: Versäumen Sie, indem Sie diesen Kampf zum Beispiel um andere Abfindungsregelungen nicht in den Mittelpunkt des Wahlkampfes stellen, eine Möglichkeit, stärker zu polarisieren?
Steinmeier: Ich kann das gar nicht feststellen, dass wir das nicht tun. Ich sage es in meinen öffentlichen Reden bei unzähligen Veranstaltungen, die jetzt schon stattfinden. Peer Steinbrück lässt keine Veranstaltung ungenutzt, um darauf hinzuweisen, dass Lehren aus dieser Krise gezogen werden müssen, dass wir straffere, effektivere Aufsicht über die Finanzmärkte haben müssen und lässt insbesondere keine Möglichkeit ungenutzt, darauf hinzuweisen, dass das mit der Union hier in diesem Lande nicht möglich war. Insofern kann ich nicht erkennen, dass wir dieses Thema auslassen. Ganz im Gegenteil, das ist Mittelpunkt auch unserer Veranstaltungen.
Adler: Angela Merkel, der Sie das Kanzleramt abjagen wollen bei dieser Bundestagswahl, stimmt 80 Prozent Ihres Deutschlandplans zu, inhaltlich. Bleibt Ihnen bei so viel Umarmung überhaupt noch Luft zum Atmen?
Steinmeier: Ich weiß nicht, was ich ernst nehmen soll: Diese Äußerung oder die andere Äußerung, die mich in der Tat ein bisschen geärgert hat, nämlich der Hinweis darauf, dass dieser Deutschlandplan "unredlich" sei in seinen Zielsetzungen. Dies verstehe ich nicht und ich finde es in der Tat auch völlig unangemessen, das Ziel "Massenarbeitslosigkeit" zu reduzieren. Die Perspektive, innerhalb eines Jahrzehnts Vollbeschäftigung wieder anzustreben, das ist nicht nur ein redliches Ziel, es ist ein notwendiges Ziel, wenn wir Zusammenhalt und Solidarität in dieser Gesellschaft aufrecht erhalten wollen. Demokratie lebt letztlich davon, dass eine Gesellschaft nicht in Sieger und Verlierer zerfällt, deshalb bleibt wichtigste Aufgabe, dass wir den Menschen die Möglichkeit geben, Einkommen aus eigener Arbeit zu gewinnen. Und das ist Ziel der Vorschläge, die ich jetzt zur Krisenbewältigung gemacht habe und das ist Ziel des "Deutschlandplans für die Arbeit von morgen", wo sollen die Arbeitsplätze von morgen herkommen.
Adler: 2005 hat der Wahlkampf gezeigt, dass derjenige, der zu konkret wird in seinen Reformvorstellungen, in dem, was er tun möchte nach der Wahl – in dem Fall war das die Union, war es das angestrebte schwarz-gelbe Bündnis –, dass die abgestraft worden sind. Und die Kritik, wenn man die jetzt hört von der Union, geht es nicht um das Ziel Vollbeschäftigung, das kritisiert wird, sondern es geht um die konkrete Zahl vier Millionen Arbeitsplätze, bei dem Sie sagen: Die deutsche Wirtschaft hat das Potential, diese Arbeitsplätze hervorzubringen.
Steinmeier: Das beunruhigt mich nun gar nicht, weil die Zahl wird nur von der politischen Konkurrenz bestritten, nicht aber von der Wirtschaft. Wenn Sie genau hingehört haben in den letzten Wochen, so haben viele Praktiker aus der Wirtschaft, viele Unternehmen, gesagt: 'Nein, die Zahl vier Millionen ist absolut realistisch'. Nur die Unternehmer und Gewerkschaften sagen wie ich, die Zahl vier Millionen ist das Potenzial. Das wird nicht von selbst entstehen, denn das wird nur dann entstehen, wenn wir die Weichenstellungen jetzt richtig vornehmen. Und deshalb sage ich, wir dürfen nicht alleine und isoliert nur den Arbeitsmarkt betrachten. Wir dürfen auch nicht allein und isoliert nur über die neuen Märkte und Leitmärkte reden, auf die wir uns orientieren wollen. Wir müssen vor allen Dingen über das Thema Bildung reden. Ohne Bildung, ohne Veränderung in der Bildungslandschaft wird es uns nicht gelingen, dieses Potenzial von vier Millionen Arbeitsplätzen wirklich zu heben.
Adler: Werden die Wähler im Moment von der SPD mit Papieren überhäuft anstatt Parolen hören?
Steinmeier: Ich glaube, Parolen ist das letzte, was die Menschen im Augenblick hören wollen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung aus den letzten Gesprächen. Ich glaube, wir unterschätzen manchmal hier im politischen Berlin, dass die Menschen echte Sorgen haben. Sie fragen: 'Kommen wir raus aus dieser Krise und wie geht es nach der Krise weiter?'.
Adler: Darauf wollen die Menschen griffige Antworten haben ...
Steinmeier: ... und auf diese Fragen müssen wir Antworten geben. Und das versuche ich nicht nur zu tun, sondern das habe ich getan in all den Vorschlägen zur Milderung der Folgen der Krise in dem Konjunkturprogramm, in der Verlängerung der Kurzarbeit, in der Einführung von Mindestlohn da, wo wir es in der großen Koalition machen konnten. Ich sage nur, das Thema Krise ist nicht beendet, die Krise in den Köpfen ist nicht beseitigt. Also alle diejenigen, die sagen, die Konjunktur verbessert sich, lasst uns die Champagnerflaschen wieder auf machen, die liegen falsch. Wir müssen da auch etwas in den Köpfen tun, auch bei den Beteiligten in der Wirtschaft. Ich wünschte mir, dass das nicht nur eine Diskussion Politik versus Wirtschaft wird; sondern ich wünschte mir eine interne Diskussion in der Wirtschaft: Was sind die ethischen Grundlagen unseres Wirtschaftens, wie kommen wir zurück von einem kurzfristigen Renditedenken in ein Denken über das langfristige Interesse eines Unternehmens ob der Arbeitsplätze hier am Standort in Deutschland. Die Diskussion, wenn sie stattfindet, die jedenfalls nicht laut geführt wird, sie ist aber notwendig.
Adler: Wenn die Menschen zur Wahl gehen sollen, dann werden sie vorher natürlich nicht flächendeckend und allumfassend die Regierungsprogramme der verschiedenen Parteien lesen. Davon gehen Sie vermutlich ja auch nicht aus. Wenn Sie die Möglichkeit haben – und die möchte ich Ihnen natürlich jetzt hier geben –, drei Wahlkampfziele zu nennen, die für Sie in der Reihenfolge am wichtigsten sind, welche wären das?
Steinmeier: Ganz eindeutig: Erstens Arbeit, zweitens Bildung, und das, was beides zusammen bindet, gesellschaftlicher Zusammenhalt.
Adler: Und der gesellschaftliche Zusammenhalt wird dann wie erreicht?
Steinmeier: Wir müssen uns darauf konzentrieren, dass zukünftige Politik darauf ausgerichtet ist, diejenigen, die sich am Rande der Gesellschaft fühlen, wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Das ist der Aspekt Bildungspolitik, und das finden Sie auch in meinem Team wieder. Sie sehen, ich habe Bildung und Wissenschaft nicht isoliert in diesem Team berücksichtigt, sondern ich habe gesagt: Wenn wir alle miteinander wissen, dass das wirkliche Bildungsproblem bei uns in den schwierigen Stadtvierteln der großen Städte besteht, da, wo weniger Deutsch gesprochen wird, da, wo die Kinder mit viel geringeren Startchancen in die Schule kommen, dann müssen wir und darauf konzentrieren. Und deshalb sage ich, das Thema Bildung ist heute in enger Nachbarschaft mit dem Thema Integration. Und deshalb wird Andrea Nales in meinem Team das Thema Bildung und Integration auch als gebündeltes Problem behandeln müssen. Und das wird auch eine Aufgabenstellung in der kommenden Bundesregierung sein.
Adler: Kann es sein, dass das Kompetenzteam zu umfassend ist, ebenso wie die Papiere zu umfänglich sind? Wäre mehr Konzentration auf weniger Inhalt vielleicht besser gewesen?
Steinmeier: Nein, Frau Adler, das ist doch Quatsch. Wir leben doch nicht von Papieren, sondern natürlich sage ich, man muss ein Konzept haben um zu sagen, wo will ich hin. Zweitens leben wir von öffentlicher Rede. Ich muss erklären, was mein politisches Ziel ist. Drittens lebe ich von Kontakten. Sie sehen mich landauf, landab von Nord nach Süd, von Ost nach West in dieser Republik um zu überzeugen, um vorzustellen, was unsere Ideen sind. Also natürlich wird kein Wahlkampf mit Papieren gemacht. Aber ohne ein Konzept, ohne eine Vision, ohne ein ehrgeiziges Ziel entsteht auch keine anspruchsvolle Politik.
Adler: Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Partei, die SPD, mit einer Stimme spricht? Von Ihnen war mehrfach schon zu hören, dass Sie die Kanzlerin nicht persönlich angreifen werden. Vom SPD-Vorsitzenden, Franz Müntefering, hörte man jetzt einen Angriff, der so daneben ging, nämlich der Kanzlerin zu unterstellen, ihr seien die Arbeitslosen egal, ihr ginge es nur um ihre Karriere, dass sich sogar der mit ihr solidarisierte, der es sonst vielleicht nicht getan hätte. War das wirklich klug?
Steinmeier: Ich wundere mich ein bisschen über diese öffentliche Kommentierung einer Aussage von Franz Müntefering, die ja – wenn Sie sich erinnern – an einem Tag stattgefunden hat, nämlich just an dem Tag, nachdem Frau Merkel das Ziel Erreichen der Vollbeschäftigung als unredlich bezeichnet hat. Darüber kann man sich empören und da muss man auch einen deutlichen Satz zurück sagen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass auch wir daran interessiert sind, einen Wahlkampf um Inhalte zu führen, um die Zukunft im nächsten Jahrzehnt zu streiten. Ich wünschte mir manchmal, dass die Union bereit ist, diesen Streit auch aufzunehmen. Die Strategie bei der Union scheint aber eher noch eine andere zu sein, möglichst keinen Wahlkampf zu führen und die Öffentlichkeit eher mit Bildern der Kanzlerin und roten Teppichen zu beschäftigen.
Adler: Sie haben es – neueste Nachrichten zeigen es – mit der mächtigsten Frau der Welt zu tun, wie Forbes in dieser Woche geschrieben hat. Schafft das Beißhemmungen?
Steinmeier: Nein, das schafft keine Beißhemmungen. Frau Adler, Sie haben mich ja selbst nie als Wüterich kennengelernt und ich gehöre sicherlich nicht zu denjenigen, die es als erstes Ziel eines Wahlkampfes begreifen, sich da gegenseitig zu zerfleischen. Im Gegenteil, ich will einen betont inhaltlichen Wahlkampf. Ich will eine Konkurrenz und Konzepte und Ideen. Und deshalb spielt das keine Rolle, ob an der Spitze der Union eine Frau wie Frau Merkel oder ein Mann steht.
Adler: Die Union drängt die FDP, drängt den Chef der Liberalen Guido Westerwelle gerade dazu, einen Schwur zu leisten, sich also auf eine schwarz-gelbe Koalition festzulegen. Westerwelle gibt den Anschein, als wäre er bereit, diesen Schwur auch abzulegen. Was passiert für die SPD dann in diesem Moment? Ist dann sozusagen Feuer frei, wird das Feld dann eröffnet, der Feldzug gegen Schwarz-Gelb richtig losgehen?
Steinmeier: Na ja, Sie können sich vorstellen, dass ich mir die Äußerungen der FDP von Herrn Westerwelle sehr genau angucke. Und ich glaube, die Blütenträume der Union sind nicht so ganz gereift. Die Erwartungen an feste und unabdingbare Erklärungen der FDP zugunsten einer Partnerschaft nach dem 27. September finden so nicht statt. Ich habe Verständnis dafür, dass Westerwelle und die FDP ihre Vorliebe für eine Koalition mit der Union erklären, aber ich sehe auch, man hält sich offen. Das ist ja auch klug genug, denn niemand weiß, welchen Auftrag der Wähler am 27. September geben wird.
Adler: Das Interview der Woche des Deutschlandfunks, heute mit dem Spitzenkandidaten der Sozialdemokratischen Partei, mit Frank-Walter Steinmeier. Herr Steinmeier, kommende Woche debattiert der Bundestag das EU-Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag, der dem Parlament ja mehr Mitsprache einräumen soll, auch sein Informationsrecht stärken soll. Der CSU gehen diese Mitspracherechte immer noch nicht weit genug, trotz des Begleitgesetzes. Sie möchte einen Entschließungsantrag. Wie weit ist die SPD bereit zu gehen bei dieser nachgeschobenen Forderung der CSU, noch stärker die Bundesregierung sozusagen an die Kandare zu nehmen.
Steinmeier: Die CSU ist als bayerischer Löwe gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Aber nun gut, wir haben jetzt einen Kompromiss, und der wird auch nicht zurück gedreht und auch nicht in Entschließungsanträgen zurück gedreht. Es kann nicht sein, dass wir ein Begleitgesetz vereinbaren nach schwierigen Verhandlungen und dann ein Entschließungsantrag gefasst wird, der alles wieder in Frage stellt. Das kann nicht sein, das werden wir auch so nicht mittragen.
Adler: Haben Sie während der Regierungszeit so viel EU-Feindlichkeit von der Union, von der CSU bemerkt?
Steinmeier: Das ist deutlich wahlkampfbezogen aus meiner Sicht. Offenbar gibt es da einige, die glauben, dass man durch billige Kritik an Europa und den Europäern ein paar konservative Stimmen mobilisieren kann. Ich hoffe, dass das nicht funktionieren wird.
Adler: Herr Steinmeier, den Bürgern in Afghanistan ist in dieser Woche wirklich viel Mut abverlangt worden bei den Wahlen. Dutzende Tote hat es gegeben. Aber immerhin, die Taliban haben die Wahl am Ende nicht verhindern können. Sie hat stattgefunden und sie hat stattgefunden im Umfeld der Bundestagswahl. Das hat zu einer Debatte geführt, die man eigentlich im vorigen Jahr im Oktober verhindern wollte, als man das Vorratsmandat geschaffen hat für den Einsatz der Bundeswehr, eben nicht nur für zwölf Monate, sondern für 14 Monate. Jetzt haben wir die Debatte trotzdem bekommen, nicht zuletzt deshalb, weil der ehemalige Verteidigungsminister der CDU, Völker Rühe, diese Debatte noch mal neu angeheizt hat, indem er gesagt hat, der Einsatz der Bundeswehr ist a) ein Desaster und muss b) innerhalb der nächsten zwei Jahre beendet werden. Was sagen Sie dazu?
Steinmeier: Erstens und ganz klar, dass die Wahlen in Afghanistan stattgefunden haben, ist ein Erfolg. Sie haben eben selbst darauf hingewiesen, terroristische Kräfte, die Taliban, haben in wirklich zynischer Art und Weise versucht, diese Wahlen zu verhindern. Die Afghanen haben nicht nur Mut bewiesen, sondern die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung deutlich höher liegt als wir alle annehmen durften, zeugt ja davon, dass ein wirklicher Hunger nach Demokratie dort besteht, ein Hunger nach Demokratie, indem die Leute trotz Drohungen, dass ihnen die Finger abgehackt werden von den Taliban, wenn Wahltinte entdeckt wird, zur Wahl gehen, sich nicht abhalten lassen. Ich finde, das ist zunächst einmal ein ermutigendes Signal, selbst wenn alle diejenigen Recht haben, dass das noch nicht mitteleuropäische Maßstäbe sind, die wir dort anlegen können. Zweitens, was die Debatte über Afghanistan angeht, ist es keine Frage, wir müssen darüber diskutieren. Wir müssen auch darüber diskutieren, wie sich die Sicherheitslage verändert, selbstverständlich erst recht dann, wenn deutsche Entwicklungshelfer, deutsche Soldatinnen und Soldaten gefährdet sind, verletzt werden oder sogar ums Leben kommen. Eine solche Debatte müssen wir führen.
Adler: Da würde ich gerne einhaken wollen. Warum scheut sich die Bundesregierung, diesen Krieg 'Krieg' zu nennen?
Steinmeier: Nicht deshalb, weil er nicht etwa gefährlich wäre, das wäre zynisch. Die Frage, warum wir es nicht 'Krieg' nennen, hängt schlicht und einfach damit zusammen, dass nach herkömmlichem Verständnis der Krieg ein Krieg zwischen Staaten ist. Hier bekämpfen wir gemeinsam mit dem afghanischen Staat Terrorismus in Afghanistan und ich erinnere daran, Terrorismus, der uns am 11.9. und danach auch in den USA und danach in Europa bedrohte.
Adler: Die Niederlande und auch Kanada überlegen dennoch, ihre Truppen auch abzuziehen. Wenn wir die Zielmarke von Peter Struck, ehemaliger Verteidigungsminister ihrer Partei, nehmen, so hat er angekündigt im Jahr 2001, dass der Einsatz vermutlich zehn Jahre dauern würde. Also, wenn man Volker Rühes Worte ernst nehmen würde und sagen würde, innerhalb der nächsten zwei Jahre beginnt der Abzug, würde man sich sozusagen bei Strucks Zielmarke wieder treffen. Was spricht dagegen?
Steinmeier: Das ist ein schwieriger Einsatz in Afghanistan. Und was unsere Soldatinnen und Soldaten am wenigsten verdient haben ist Kakofonie, wie wir sie im Augenblick innerhalb der Union erleben. Volker Rühe, der rät, mit den Soldaten in den Süden des Landes zu gehen, andere, die sagen, dass dort noch mindestens zehn Jahre oder eine CSU, die sagt, wir brauchen jetzt sofort eine Exit-Strategie, das ist keine Konzeption. Was wir tun müssen ist, unsere Anstrengungen zu verstärken, dass der afghanische Staat, und das meint insbesondere die afghanische Armee und die afghanische Polizei, schnellstmöglich in die Lage versetzt werden, für die Sicherheit dort im eigenen Lande zu sorgen. Die Aufgabe ist noch nicht erledigt. Daran werden andere mit tun und da können wir uns auch nicht einseitig heraus ziehen.
Adler: Peter Struck, Ihr Parteifreund, hat gesagt, die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt. Nun ist aber genau der Einsatz in Afghanistan für Terroristen, für Entführer zum Beispiel, ein Argument oder ein Motiv dafür, ihre Handlungen zu begehen. Bedeutet das nicht im Umkehrschluss, dass dieser Einsatz in Afghanistan Deutschlands Sicherheit eher gefährdet denn größer macht?
Steinmeier: Ich zumindest habe noch nicht gehört, dass eine der Geiselnahmen mit dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan begründet worden wäre. Ich glaube, das, was wir an Geiselnahmen aktuelle am Horn von Afrika erleben, hat andere Hintergründe.
Adler: Ich erinnere an die Sauerlandgruppe, ich erinnere an Susanne Osthoff, ich erinnere an die Irak-Geiseln. Das waren jeweils die Begründungen dafür.
Steinmeier: Ich warne davor, in diese Logik einzusteigen, so als würden Terroristen in erster Linie ein Interesse daran haben, eine Sachfrage zu klären und dann wieder zu vernünftigen Menschen zu werden. Das scheint mir doch das Problem des Terrorismus insgesamt zu unterschätzen.
Adler: Das andere Argument war, dass Al Kaida natürlich längst nicht mehr nur in Afghanistan ist, sondern zum Beispiel im Irak, in Nordafrika, in Somalia. Das heißt also, diesen einzelnen Hort Afghanistan zu schützen reicht ohnehin nicht aus.
Steinmeier: Wir müssen uns auf Afghanistan weiterhin konzentrieren, aber Sie sehen ja, und das war immer auch Gegenstand meiner Bemühungen, als Teil der Stabilisierung Afghanistans auch die Neubestimmung des Verhältnisses zu Pakistan zu sehen. Wir in unserer Präsidentschaft G8 haben begonnen, die pakistanische Regierung und die afghanische Regierung in einen Kontakt miteinander zu bringen, den sie bis dahin nicht hatten. Das funktioniert jetzt einigermaßen. Die Anstrengungen in beiden Staaten verstärken sich und das ist der richtige Weg. Das wäre das schlimmste Szenario, was ich mir vorstellen könnte, dass wir uns jetzt mit Blick auf einen bevorstehenden Wahltermin auf einen Abzugstermin in Afghanistan festlegen, der terroristische Kräfte nur ermuntern kann, bis dahin zu überwintern, um dann die Herrschaft wieder zu übernehmen. Ich glaube, das ist nicht das, was ich außenpolitische Verantwortung nenne und so können wir uns auch nicht verhalten.
Adler: In diesen Wochen kurz vor der Bundestagswahl sind Sie naturgemäß mehr im Inland denn im Ausland unterwegs. Sie haben sich an diesem Wochenende in Rheinland-Pfalz bewegt, haben Ihren Parteifreund Kurt Beck getroffen. Wie angeknackst ist das Verhältnis? Wenn wir uns erinnern, ist ja vor knapp einem Jahr Kurt Beck nicht mehr dazu gekommen, Sie zum Kanzlerkandidaten auszurufen. Das hätte er gerne getan. Wie gut ist das Verhältnis jetzt oder muss das zwangsläufig gut sein im Wahlkampf?
Steinmeier: Das war ganz ohne Zweifel im September vergangenen Jahres keine einfache Situation. Aber ich finde, wir sind ordentlich damit umgegangen und wir haben ein freundschaftliches Verhältnis zueinander. Wir haben gestern Abend bei einem Glas Wein zusammen gesessen. Es war eine wunderschöne Atmosphäre. Ich darf Ihnen versichern, das war nicht das erste Mal, dass wir uns seit September vergangenen Jahres getroffen haben. Wir sind erwachsen mit der Situation umgegangen und wir haben das gut hingekriegt.
Adler: Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Steinmeier: Gerne.
Frank-Walter Steinmeier: Der Startschuss ist gefallen, wir sind gut unterwegs. Am 30.08. bei den Landtagswahlen im Saarland, in Thüringen, in Sachsen werden die ersten Zwischenzeiten genommen. Und dann geht's auf die zweite Hälfte der Strecke. Noch sind nicht alle unterwegs, noch wollen nicht alle mitlaufen. Aber das stört mich nicht. Wir haben das Ziel fest vor Augen und ich bin sicher: Wir werden da am 27. September bei den Bundestagswahlen einen guten Zieldurchlauf haben.
Adler: Ich bin mir nicht sicher, welches Bild das treffendere ist, das des Marathonläufers oder das des Sisyphus, der immer wieder den Stein hochrollt, dann rollt er wieder runter oder jemand grätscht dazwischen, zum Beispiel die eigenen Genossen, die eigenen Genossinnen – in Gestalt von Ulla Schmidt mit ihrer Dienstwagenaffäre, die längst abgeschlossen sein könnte, wenn alle Daten auf dem Tisch gewesen wären. Dann hätte es vielleicht auch gar keinen Termin vor dem Haushaltsausschuss im Bundestag in der kommenden Woche geben müssen. Wie fühlen Sie sich als Sisyphus, der den Stein rollt und die eigenen Genossen sind so zusagen die, die ihn wieder zurückstupsen?
Steinmeier: Sie wissen, es gilt die Behauptung, dass Sisyphus ein glücklicher Mensch war. Literarisch haben darum viele Bemühungen stattgefunden. Ich zweifle manchmal, dass es wirklich so war. Insofern: Der mir entgegenkommende Stein macht mich nicht unbedingt glücklicher – will sagen: Natürlich freue ich mich erstens über gute Umfragen, zweitens wenn der Wahlkampf und die Wahlkampfvorbereitung ungestört verlaufen. Insofern sind solche Debatten, wie über die Dienstwagennutzung natürlich nicht willkommen. Aber wissen Sie, das gehört zum Geschäft, auch damit muss man umgehen können, man darf das Ziel dabei nicht aus den Augen verlieren. Ich bin da mit guten Nerven ausgestattet und selbstbewusst genug, um zu sagen: Das wird die Wahlentscheidungen dann am 27. September nicht entscheidend beeinflussen, selbst wenn es jetzt etwas stört.
Adler: Sie haben die Umfragen gerade angesprochen. Wie kommt das eigentlich bei Ihnen an, wie verkraften Sie es, wenn Sie jeden Donnerstag ganz regelmäßig einen Schlag in die Magengrube kriegen?
Steinmeier: Wenn's nur donnerstags wäre, ginge es. Aber von montags bis mittwochs gibt es auch Umfragen von unterschiedlichen Sendern, unterschiedlichen Zeitungen, manchmal in Regionen. Man darf sich davon einfach nicht kirre machen lassen. Ich tue das nicht, war nie ein Umfragen-Yankee, wenngleich man sie nicht ignorieren darf. Natürlich bilden sich in Umfragen Trends ab und ich muss versuchen, diese Trends positiv zu beeinflussen. Nur eines darf man nicht tun: Seine Politik nur an Umfragen ausrichten. Man muss die Politik vertreten – und das tue ich –, die ich für richtig halte. Und ich glaube, wir sind insbesondere mit den Themen – erstens Beseitigung der Krise, und zweitens: "Wie schaffen wir Arbeit von morgen?" auf den richtigen Weg.
Adler: "Bewältigung der Krise" war auch das Motto für Ihre Deutschlandtour. Sie haben sich vor Ort angeschaut – in mehreren Städten, in Betrieben, Bildungseinrichtungen –, wie der Krisenbewältigungsplan der Bundesregierung ankommt. Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie erfahren haben? Wirkt das Ganze, was Sie da vorhatten?
Steinmeier: Unter zwei Gesichtspunkten ja. Erstens das, was ich selbst sehe. Es gibt ganz augenscheinliche Hinweise darauf, wenn ich im Augenblick quer durch die Landschaft fahre: Auffällig viele Baustellen, die mich manchmal ein bisschen daran hindern, rechtzeitig am Ziel anzukommen. Und fragen Sie die Bürgermeister und Oberbürgermeister, so ist in der Tat vieles jetzt initiiert worden durch das Investitionsprogramm, was wir gegenüber den Städten und Gemeinden ausgereicht haben. Vieles findet jetzt statt an Sanierungen in Schulen und Kindergärten, auch in der kommunalen Infrastruktur, bei den kommunalen Straßen etwa. Insofern kann man mit eigenen Augen sehen, dass da etwas in Gang gekommen ist und dass auf diese Weise auch Arbeitsplätze bei Handwerksbetrieben, bei kleinen und mittelständischen lokalen Unternehmen erhalten bleiben. Aber was ich natürlich auch sehe und mit einiger Genugtuung sehe, ist, dass mittlerweile auch die Experten, selbst der Bundesverband der Banken, sagt, dass das, was wir vorgeschlagen haben zum Konjunkturpaket im Dezember und im Januar gegen viele öffentlich Kritik – ich erinnere mich vor allen Dingen an die Debatte um die Umweltprämie, andere nennen sie Abwrackprämie – das, was wir durchgesetzt haben gegen viele öffentliche Kritik, doch jetzt seine Wirkung zeigt. Denn was sich in den aufhellenden Konjunkturdaten abbildet, ist Folge dieses Konjunkturprogramms, ist Folge der Maßnahmen und Instrumente, die wir auf den Weg gebracht haben, um die Konjunktur in Deutschland zu stützen, um zu verhindern, dass Arbeitsplätze in der Krise jetzt wegfallen. Es zeigt sich, dass das Konjunkturprogramm, das ja im Wesentlichen von sozialdemokratischen Ideen lebt, im Vergleich im internationalen Maßstab offensichtlich das effektivste ist, was auf den Weg gegangen ist.
Adler: Die SPD hat ein Regierungsprogramm vorgelegt, sie hatte einen Deutschlandplan vorgelegt. Wenn man sich die beiden Pläne beziehungsweise Programme anschaut, findet man einen Aspekt nicht besonders breit ausgearbeitet, nämlich den, den Verursachern der Krise tatsächlich etwas entgegenzusetzen, sie auch für künftige Zeiten einzuhegen, ich würde sogar so weit gehen, sie abzustrafen für das, was sie getan haben?
Steinmeier: Das ist ja nicht nur eine Frage des Regierungsprogramms und eines neuen Konzeptes "Deutschlandplan – die Arbeit von morgen", sondern das ist unser tägliches Tun. Wir ringen schon jetzt in der großen Koalition darum, dass wir Lehren aus der Krise ziehen, während andere, insbesondere die Union und die Parteivorsitzende sagen: Wir wollen schnellstmöglich zurück zu den alten Regeln. Ich glaube, das ist kein guter Ratschlag. Wir müssen Regeln ändern, damit sich Krisen wie diese nicht wiederholen.
Adler: Ist es richtig, wenn Sie sagen, die Union möchte zurück zu alten Regeln? Das, was Bundeskanzlerin Angela Merkel tut, zum Beispiel auch im Vorfeld von Pittsburgh, dem Treffen kurz vor der Bundestagswahl Ende September, klingt ja anders. Sie kündigt schon an, für neue Regeln auf der internationalen Bühne zu kämpfen.
Steinmeier: Ich benutze ihre Worte. "Zurück zu den alten Regeln" hat sie selbst in einem Interview öffentlich gesagt. Und Sie sehen ja, da, wo es dann konkret wird, wo wir sagen: Wir müssen Abfindungen steuerlich anders behandeln als bisher. Es kann nicht in Betracht kommen, dass Millionen Abfindungen steuerfrei gestellt werden. Da weigert sich die Union, solche Regelungen mitzutragen. Das macht ja da, wo wir Gestaltungsmöglichkeiten haben, hier in Deutschland, nur zu deutlich, dass die Union nicht gewillt ist, die notwendigen Lehren aus diesen Krisen zu ziehen.
Adler: Versäumen Sie, indem Sie diesen Kampf zum Beispiel um andere Abfindungsregelungen nicht in den Mittelpunkt des Wahlkampfes stellen, eine Möglichkeit, stärker zu polarisieren?
Steinmeier: Ich kann das gar nicht feststellen, dass wir das nicht tun. Ich sage es in meinen öffentlichen Reden bei unzähligen Veranstaltungen, die jetzt schon stattfinden. Peer Steinbrück lässt keine Veranstaltung ungenutzt, um darauf hinzuweisen, dass Lehren aus dieser Krise gezogen werden müssen, dass wir straffere, effektivere Aufsicht über die Finanzmärkte haben müssen und lässt insbesondere keine Möglichkeit ungenutzt, darauf hinzuweisen, dass das mit der Union hier in diesem Lande nicht möglich war. Insofern kann ich nicht erkennen, dass wir dieses Thema auslassen. Ganz im Gegenteil, das ist Mittelpunkt auch unserer Veranstaltungen.
Adler: Angela Merkel, der Sie das Kanzleramt abjagen wollen bei dieser Bundestagswahl, stimmt 80 Prozent Ihres Deutschlandplans zu, inhaltlich. Bleibt Ihnen bei so viel Umarmung überhaupt noch Luft zum Atmen?
Steinmeier: Ich weiß nicht, was ich ernst nehmen soll: Diese Äußerung oder die andere Äußerung, die mich in der Tat ein bisschen geärgert hat, nämlich der Hinweis darauf, dass dieser Deutschlandplan "unredlich" sei in seinen Zielsetzungen. Dies verstehe ich nicht und ich finde es in der Tat auch völlig unangemessen, das Ziel "Massenarbeitslosigkeit" zu reduzieren. Die Perspektive, innerhalb eines Jahrzehnts Vollbeschäftigung wieder anzustreben, das ist nicht nur ein redliches Ziel, es ist ein notwendiges Ziel, wenn wir Zusammenhalt und Solidarität in dieser Gesellschaft aufrecht erhalten wollen. Demokratie lebt letztlich davon, dass eine Gesellschaft nicht in Sieger und Verlierer zerfällt, deshalb bleibt wichtigste Aufgabe, dass wir den Menschen die Möglichkeit geben, Einkommen aus eigener Arbeit zu gewinnen. Und das ist Ziel der Vorschläge, die ich jetzt zur Krisenbewältigung gemacht habe und das ist Ziel des "Deutschlandplans für die Arbeit von morgen", wo sollen die Arbeitsplätze von morgen herkommen.
Adler: 2005 hat der Wahlkampf gezeigt, dass derjenige, der zu konkret wird in seinen Reformvorstellungen, in dem, was er tun möchte nach der Wahl – in dem Fall war das die Union, war es das angestrebte schwarz-gelbe Bündnis –, dass die abgestraft worden sind. Und die Kritik, wenn man die jetzt hört von der Union, geht es nicht um das Ziel Vollbeschäftigung, das kritisiert wird, sondern es geht um die konkrete Zahl vier Millionen Arbeitsplätze, bei dem Sie sagen: Die deutsche Wirtschaft hat das Potential, diese Arbeitsplätze hervorzubringen.
Steinmeier: Das beunruhigt mich nun gar nicht, weil die Zahl wird nur von der politischen Konkurrenz bestritten, nicht aber von der Wirtschaft. Wenn Sie genau hingehört haben in den letzten Wochen, so haben viele Praktiker aus der Wirtschaft, viele Unternehmen, gesagt: 'Nein, die Zahl vier Millionen ist absolut realistisch'. Nur die Unternehmer und Gewerkschaften sagen wie ich, die Zahl vier Millionen ist das Potenzial. Das wird nicht von selbst entstehen, denn das wird nur dann entstehen, wenn wir die Weichenstellungen jetzt richtig vornehmen. Und deshalb sage ich, wir dürfen nicht alleine und isoliert nur den Arbeitsmarkt betrachten. Wir dürfen auch nicht allein und isoliert nur über die neuen Märkte und Leitmärkte reden, auf die wir uns orientieren wollen. Wir müssen vor allen Dingen über das Thema Bildung reden. Ohne Bildung, ohne Veränderung in der Bildungslandschaft wird es uns nicht gelingen, dieses Potenzial von vier Millionen Arbeitsplätzen wirklich zu heben.
Adler: Werden die Wähler im Moment von der SPD mit Papieren überhäuft anstatt Parolen hören?
Steinmeier: Ich glaube, Parolen ist das letzte, was die Menschen im Augenblick hören wollen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung aus den letzten Gesprächen. Ich glaube, wir unterschätzen manchmal hier im politischen Berlin, dass die Menschen echte Sorgen haben. Sie fragen: 'Kommen wir raus aus dieser Krise und wie geht es nach der Krise weiter?'.
Adler: Darauf wollen die Menschen griffige Antworten haben ...
Steinmeier: ... und auf diese Fragen müssen wir Antworten geben. Und das versuche ich nicht nur zu tun, sondern das habe ich getan in all den Vorschlägen zur Milderung der Folgen der Krise in dem Konjunkturprogramm, in der Verlängerung der Kurzarbeit, in der Einführung von Mindestlohn da, wo wir es in der großen Koalition machen konnten. Ich sage nur, das Thema Krise ist nicht beendet, die Krise in den Köpfen ist nicht beseitigt. Also alle diejenigen, die sagen, die Konjunktur verbessert sich, lasst uns die Champagnerflaschen wieder auf machen, die liegen falsch. Wir müssen da auch etwas in den Köpfen tun, auch bei den Beteiligten in der Wirtschaft. Ich wünschte mir, dass das nicht nur eine Diskussion Politik versus Wirtschaft wird; sondern ich wünschte mir eine interne Diskussion in der Wirtschaft: Was sind die ethischen Grundlagen unseres Wirtschaftens, wie kommen wir zurück von einem kurzfristigen Renditedenken in ein Denken über das langfristige Interesse eines Unternehmens ob der Arbeitsplätze hier am Standort in Deutschland. Die Diskussion, wenn sie stattfindet, die jedenfalls nicht laut geführt wird, sie ist aber notwendig.
Adler: Wenn die Menschen zur Wahl gehen sollen, dann werden sie vorher natürlich nicht flächendeckend und allumfassend die Regierungsprogramme der verschiedenen Parteien lesen. Davon gehen Sie vermutlich ja auch nicht aus. Wenn Sie die Möglichkeit haben – und die möchte ich Ihnen natürlich jetzt hier geben –, drei Wahlkampfziele zu nennen, die für Sie in der Reihenfolge am wichtigsten sind, welche wären das?
Steinmeier: Ganz eindeutig: Erstens Arbeit, zweitens Bildung, und das, was beides zusammen bindet, gesellschaftlicher Zusammenhalt.
Adler: Und der gesellschaftliche Zusammenhalt wird dann wie erreicht?
Steinmeier: Wir müssen uns darauf konzentrieren, dass zukünftige Politik darauf ausgerichtet ist, diejenigen, die sich am Rande der Gesellschaft fühlen, wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Das ist der Aspekt Bildungspolitik, und das finden Sie auch in meinem Team wieder. Sie sehen, ich habe Bildung und Wissenschaft nicht isoliert in diesem Team berücksichtigt, sondern ich habe gesagt: Wenn wir alle miteinander wissen, dass das wirkliche Bildungsproblem bei uns in den schwierigen Stadtvierteln der großen Städte besteht, da, wo weniger Deutsch gesprochen wird, da, wo die Kinder mit viel geringeren Startchancen in die Schule kommen, dann müssen wir und darauf konzentrieren. Und deshalb sage ich, das Thema Bildung ist heute in enger Nachbarschaft mit dem Thema Integration. Und deshalb wird Andrea Nales in meinem Team das Thema Bildung und Integration auch als gebündeltes Problem behandeln müssen. Und das wird auch eine Aufgabenstellung in der kommenden Bundesregierung sein.
Adler: Kann es sein, dass das Kompetenzteam zu umfassend ist, ebenso wie die Papiere zu umfänglich sind? Wäre mehr Konzentration auf weniger Inhalt vielleicht besser gewesen?
Steinmeier: Nein, Frau Adler, das ist doch Quatsch. Wir leben doch nicht von Papieren, sondern natürlich sage ich, man muss ein Konzept haben um zu sagen, wo will ich hin. Zweitens leben wir von öffentlicher Rede. Ich muss erklären, was mein politisches Ziel ist. Drittens lebe ich von Kontakten. Sie sehen mich landauf, landab von Nord nach Süd, von Ost nach West in dieser Republik um zu überzeugen, um vorzustellen, was unsere Ideen sind. Also natürlich wird kein Wahlkampf mit Papieren gemacht. Aber ohne ein Konzept, ohne eine Vision, ohne ein ehrgeiziges Ziel entsteht auch keine anspruchsvolle Politik.
Adler: Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Partei, die SPD, mit einer Stimme spricht? Von Ihnen war mehrfach schon zu hören, dass Sie die Kanzlerin nicht persönlich angreifen werden. Vom SPD-Vorsitzenden, Franz Müntefering, hörte man jetzt einen Angriff, der so daneben ging, nämlich der Kanzlerin zu unterstellen, ihr seien die Arbeitslosen egal, ihr ginge es nur um ihre Karriere, dass sich sogar der mit ihr solidarisierte, der es sonst vielleicht nicht getan hätte. War das wirklich klug?
Steinmeier: Ich wundere mich ein bisschen über diese öffentliche Kommentierung einer Aussage von Franz Müntefering, die ja – wenn Sie sich erinnern – an einem Tag stattgefunden hat, nämlich just an dem Tag, nachdem Frau Merkel das Ziel Erreichen der Vollbeschäftigung als unredlich bezeichnet hat. Darüber kann man sich empören und da muss man auch einen deutlichen Satz zurück sagen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass auch wir daran interessiert sind, einen Wahlkampf um Inhalte zu führen, um die Zukunft im nächsten Jahrzehnt zu streiten. Ich wünschte mir manchmal, dass die Union bereit ist, diesen Streit auch aufzunehmen. Die Strategie bei der Union scheint aber eher noch eine andere zu sein, möglichst keinen Wahlkampf zu führen und die Öffentlichkeit eher mit Bildern der Kanzlerin und roten Teppichen zu beschäftigen.
Adler: Sie haben es – neueste Nachrichten zeigen es – mit der mächtigsten Frau der Welt zu tun, wie Forbes in dieser Woche geschrieben hat. Schafft das Beißhemmungen?
Steinmeier: Nein, das schafft keine Beißhemmungen. Frau Adler, Sie haben mich ja selbst nie als Wüterich kennengelernt und ich gehöre sicherlich nicht zu denjenigen, die es als erstes Ziel eines Wahlkampfes begreifen, sich da gegenseitig zu zerfleischen. Im Gegenteil, ich will einen betont inhaltlichen Wahlkampf. Ich will eine Konkurrenz und Konzepte und Ideen. Und deshalb spielt das keine Rolle, ob an der Spitze der Union eine Frau wie Frau Merkel oder ein Mann steht.
Adler: Die Union drängt die FDP, drängt den Chef der Liberalen Guido Westerwelle gerade dazu, einen Schwur zu leisten, sich also auf eine schwarz-gelbe Koalition festzulegen. Westerwelle gibt den Anschein, als wäre er bereit, diesen Schwur auch abzulegen. Was passiert für die SPD dann in diesem Moment? Ist dann sozusagen Feuer frei, wird das Feld dann eröffnet, der Feldzug gegen Schwarz-Gelb richtig losgehen?
Steinmeier: Na ja, Sie können sich vorstellen, dass ich mir die Äußerungen der FDP von Herrn Westerwelle sehr genau angucke. Und ich glaube, die Blütenträume der Union sind nicht so ganz gereift. Die Erwartungen an feste und unabdingbare Erklärungen der FDP zugunsten einer Partnerschaft nach dem 27. September finden so nicht statt. Ich habe Verständnis dafür, dass Westerwelle und die FDP ihre Vorliebe für eine Koalition mit der Union erklären, aber ich sehe auch, man hält sich offen. Das ist ja auch klug genug, denn niemand weiß, welchen Auftrag der Wähler am 27. September geben wird.
Adler: Das Interview der Woche des Deutschlandfunks, heute mit dem Spitzenkandidaten der Sozialdemokratischen Partei, mit Frank-Walter Steinmeier. Herr Steinmeier, kommende Woche debattiert der Bundestag das EU-Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag, der dem Parlament ja mehr Mitsprache einräumen soll, auch sein Informationsrecht stärken soll. Der CSU gehen diese Mitspracherechte immer noch nicht weit genug, trotz des Begleitgesetzes. Sie möchte einen Entschließungsantrag. Wie weit ist die SPD bereit zu gehen bei dieser nachgeschobenen Forderung der CSU, noch stärker die Bundesregierung sozusagen an die Kandare zu nehmen.
Steinmeier: Die CSU ist als bayerischer Löwe gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Aber nun gut, wir haben jetzt einen Kompromiss, und der wird auch nicht zurück gedreht und auch nicht in Entschließungsanträgen zurück gedreht. Es kann nicht sein, dass wir ein Begleitgesetz vereinbaren nach schwierigen Verhandlungen und dann ein Entschließungsantrag gefasst wird, der alles wieder in Frage stellt. Das kann nicht sein, das werden wir auch so nicht mittragen.
Adler: Haben Sie während der Regierungszeit so viel EU-Feindlichkeit von der Union, von der CSU bemerkt?
Steinmeier: Das ist deutlich wahlkampfbezogen aus meiner Sicht. Offenbar gibt es da einige, die glauben, dass man durch billige Kritik an Europa und den Europäern ein paar konservative Stimmen mobilisieren kann. Ich hoffe, dass das nicht funktionieren wird.
Adler: Herr Steinmeier, den Bürgern in Afghanistan ist in dieser Woche wirklich viel Mut abverlangt worden bei den Wahlen. Dutzende Tote hat es gegeben. Aber immerhin, die Taliban haben die Wahl am Ende nicht verhindern können. Sie hat stattgefunden und sie hat stattgefunden im Umfeld der Bundestagswahl. Das hat zu einer Debatte geführt, die man eigentlich im vorigen Jahr im Oktober verhindern wollte, als man das Vorratsmandat geschaffen hat für den Einsatz der Bundeswehr, eben nicht nur für zwölf Monate, sondern für 14 Monate. Jetzt haben wir die Debatte trotzdem bekommen, nicht zuletzt deshalb, weil der ehemalige Verteidigungsminister der CDU, Völker Rühe, diese Debatte noch mal neu angeheizt hat, indem er gesagt hat, der Einsatz der Bundeswehr ist a) ein Desaster und muss b) innerhalb der nächsten zwei Jahre beendet werden. Was sagen Sie dazu?
Steinmeier: Erstens und ganz klar, dass die Wahlen in Afghanistan stattgefunden haben, ist ein Erfolg. Sie haben eben selbst darauf hingewiesen, terroristische Kräfte, die Taliban, haben in wirklich zynischer Art und Weise versucht, diese Wahlen zu verhindern. Die Afghanen haben nicht nur Mut bewiesen, sondern die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung deutlich höher liegt als wir alle annehmen durften, zeugt ja davon, dass ein wirklicher Hunger nach Demokratie dort besteht, ein Hunger nach Demokratie, indem die Leute trotz Drohungen, dass ihnen die Finger abgehackt werden von den Taliban, wenn Wahltinte entdeckt wird, zur Wahl gehen, sich nicht abhalten lassen. Ich finde, das ist zunächst einmal ein ermutigendes Signal, selbst wenn alle diejenigen Recht haben, dass das noch nicht mitteleuropäische Maßstäbe sind, die wir dort anlegen können. Zweitens, was die Debatte über Afghanistan angeht, ist es keine Frage, wir müssen darüber diskutieren. Wir müssen auch darüber diskutieren, wie sich die Sicherheitslage verändert, selbstverständlich erst recht dann, wenn deutsche Entwicklungshelfer, deutsche Soldatinnen und Soldaten gefährdet sind, verletzt werden oder sogar ums Leben kommen. Eine solche Debatte müssen wir führen.
Adler: Da würde ich gerne einhaken wollen. Warum scheut sich die Bundesregierung, diesen Krieg 'Krieg' zu nennen?
Steinmeier: Nicht deshalb, weil er nicht etwa gefährlich wäre, das wäre zynisch. Die Frage, warum wir es nicht 'Krieg' nennen, hängt schlicht und einfach damit zusammen, dass nach herkömmlichem Verständnis der Krieg ein Krieg zwischen Staaten ist. Hier bekämpfen wir gemeinsam mit dem afghanischen Staat Terrorismus in Afghanistan und ich erinnere daran, Terrorismus, der uns am 11.9. und danach auch in den USA und danach in Europa bedrohte.
Adler: Die Niederlande und auch Kanada überlegen dennoch, ihre Truppen auch abzuziehen. Wenn wir die Zielmarke von Peter Struck, ehemaliger Verteidigungsminister ihrer Partei, nehmen, so hat er angekündigt im Jahr 2001, dass der Einsatz vermutlich zehn Jahre dauern würde. Also, wenn man Volker Rühes Worte ernst nehmen würde und sagen würde, innerhalb der nächsten zwei Jahre beginnt der Abzug, würde man sich sozusagen bei Strucks Zielmarke wieder treffen. Was spricht dagegen?
Steinmeier: Das ist ein schwieriger Einsatz in Afghanistan. Und was unsere Soldatinnen und Soldaten am wenigsten verdient haben ist Kakofonie, wie wir sie im Augenblick innerhalb der Union erleben. Volker Rühe, der rät, mit den Soldaten in den Süden des Landes zu gehen, andere, die sagen, dass dort noch mindestens zehn Jahre oder eine CSU, die sagt, wir brauchen jetzt sofort eine Exit-Strategie, das ist keine Konzeption. Was wir tun müssen ist, unsere Anstrengungen zu verstärken, dass der afghanische Staat, und das meint insbesondere die afghanische Armee und die afghanische Polizei, schnellstmöglich in die Lage versetzt werden, für die Sicherheit dort im eigenen Lande zu sorgen. Die Aufgabe ist noch nicht erledigt. Daran werden andere mit tun und da können wir uns auch nicht einseitig heraus ziehen.
Adler: Peter Struck, Ihr Parteifreund, hat gesagt, die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt. Nun ist aber genau der Einsatz in Afghanistan für Terroristen, für Entführer zum Beispiel, ein Argument oder ein Motiv dafür, ihre Handlungen zu begehen. Bedeutet das nicht im Umkehrschluss, dass dieser Einsatz in Afghanistan Deutschlands Sicherheit eher gefährdet denn größer macht?
Steinmeier: Ich zumindest habe noch nicht gehört, dass eine der Geiselnahmen mit dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan begründet worden wäre. Ich glaube, das, was wir an Geiselnahmen aktuelle am Horn von Afrika erleben, hat andere Hintergründe.
Adler: Ich erinnere an die Sauerlandgruppe, ich erinnere an Susanne Osthoff, ich erinnere an die Irak-Geiseln. Das waren jeweils die Begründungen dafür.
Steinmeier: Ich warne davor, in diese Logik einzusteigen, so als würden Terroristen in erster Linie ein Interesse daran haben, eine Sachfrage zu klären und dann wieder zu vernünftigen Menschen zu werden. Das scheint mir doch das Problem des Terrorismus insgesamt zu unterschätzen.
Adler: Das andere Argument war, dass Al Kaida natürlich längst nicht mehr nur in Afghanistan ist, sondern zum Beispiel im Irak, in Nordafrika, in Somalia. Das heißt also, diesen einzelnen Hort Afghanistan zu schützen reicht ohnehin nicht aus.
Steinmeier: Wir müssen uns auf Afghanistan weiterhin konzentrieren, aber Sie sehen ja, und das war immer auch Gegenstand meiner Bemühungen, als Teil der Stabilisierung Afghanistans auch die Neubestimmung des Verhältnisses zu Pakistan zu sehen. Wir in unserer Präsidentschaft G8 haben begonnen, die pakistanische Regierung und die afghanische Regierung in einen Kontakt miteinander zu bringen, den sie bis dahin nicht hatten. Das funktioniert jetzt einigermaßen. Die Anstrengungen in beiden Staaten verstärken sich und das ist der richtige Weg. Das wäre das schlimmste Szenario, was ich mir vorstellen könnte, dass wir uns jetzt mit Blick auf einen bevorstehenden Wahltermin auf einen Abzugstermin in Afghanistan festlegen, der terroristische Kräfte nur ermuntern kann, bis dahin zu überwintern, um dann die Herrschaft wieder zu übernehmen. Ich glaube, das ist nicht das, was ich außenpolitische Verantwortung nenne und so können wir uns auch nicht verhalten.
Adler: In diesen Wochen kurz vor der Bundestagswahl sind Sie naturgemäß mehr im Inland denn im Ausland unterwegs. Sie haben sich an diesem Wochenende in Rheinland-Pfalz bewegt, haben Ihren Parteifreund Kurt Beck getroffen. Wie angeknackst ist das Verhältnis? Wenn wir uns erinnern, ist ja vor knapp einem Jahr Kurt Beck nicht mehr dazu gekommen, Sie zum Kanzlerkandidaten auszurufen. Das hätte er gerne getan. Wie gut ist das Verhältnis jetzt oder muss das zwangsläufig gut sein im Wahlkampf?
Steinmeier: Das war ganz ohne Zweifel im September vergangenen Jahres keine einfache Situation. Aber ich finde, wir sind ordentlich damit umgegangen und wir haben ein freundschaftliches Verhältnis zueinander. Wir haben gestern Abend bei einem Glas Wein zusammen gesessen. Es war eine wunderschöne Atmosphäre. Ich darf Ihnen versichern, das war nicht das erste Mal, dass wir uns seit September vergangenen Jahres getroffen haben. Wir sind erwachsen mit der Situation umgegangen und wir haben das gut hingekriegt.
Adler: Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Steinmeier: Gerne.