Dienstag, 19. März 2024

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Stendhal in Basel
Bärfuss überschreibt erstmals Klassiker

Die Theaterstücke des Schweizer Dramatikers Lukas Bärfuss werden weltweit gespielt. Jetzt hat er sich zum ersten mal einen Klassiker der Weltliteratur vorgenommen. In "Julien - Rot und Schwarz" erzählt er die Geschichte von Stendhals Protagonisten neu. Die Regisseurin Nora Schlocker hält das Ganze aber weniger farbig.

Von Christian Gampert | 18.01.2020
zwei Schauspieler umarmen sich sitzend, der eine scheint verletzt, er hat Blut an seinem Hemd. Die Szene ist in rotes Licht getaucht
Schauspiel von Lukas Bärfuss nach dem Roman «Rot und Schwarz» von Stendhal (Sandra Then)
Rot ist die Liebe, Schwarz der Tod. Rot die Revolution, Schwarz die Reaktion und der Klerus. Stendhals Hauptfigur Julien Sorel ist beides: leidenschaftlich und voller Aufstiegswillen, aber mit rabenschwarzer Seele und immer auch todesnah. Er benutzt die Liebe, um Karriere zu machen, und er will Priester werden, weil er nur so aus dem ärmlichen Verhältnissen herauskommt, in denen er geboren wurde. Aber Rot kommt in der Inszenierung von Nora Schlocker kaum vor, weder als Emotion noch als Deko-Element.
Stattdessen sieht man beige gemusterte Tapetenwände der nachnapoleonischen Ära. Die Kleidung der Figuren und leider auch ihre zunächst starre Spielweise nehmen diese Farblosigkeit auf. Die Regisseurin will die Geschichte des Karrieristen Julien Sorel ganz weit weg von uns rücken, unters Mikroskop der historischen Analyse legen, ins Puppenkabinett einer Gesellschaft um 1830 versetzen. Am ehesten ist noch das Schwarz der priesterlichen Soutane ein Farbfleck, in der Juliens Ratgeber auftritt, der in Basel leicht manierierte Abbé des Michael Gempart. Ihm klagt der ebenfalls schwarzgewandete Julien sein Leid mit dem grausamen Vater, der ihm die Bücher wegnimmt. Dabei kann er doch schon die ganze Bibel auswendig.
"Ich gehöre meinem Vater. Aber gehört ihm deshalb auch das Buch, und alles andere auch? Ist das so, mein lieber Abbé? Was gehört mir denn? Nur mein Hass!"
Frauenfiguren im Vordergrund
Es ist einigermaßen rätselhaft, was Lukas Bärfuss an diesem Stoff theatralisch interessiert hat. Ist es die wilde Radikalität des zum Aufstieg entschlossenen Außenseiters, der der in seiner Jugend zeitweise obdachlose Bärfuss sich verwandt fühlt? Wie auch immer: Bärfuss‘ Theater-Version des Stendhal-Stoffs hat etwas Reader’s Digest-Haftes, sie erzählt lakonisch vor sich hin, ohne allzusehr zuzuspitzen, und sie stellt seltsamerweise nicht unbedingt nur die Hauptfigur aus, sondern rückt vor allem die Frauenfiguren nach vorn.
Der stärkste Teil nicht nur des Stücks, sondern auch der Inszenierung ist der Aufenthalt von Julien Sorel im Haus des bigotten Bürgermeisters de Rênal, dessen Gattin er verführen und verlassen wird. Der Julien des Vincent zur Linden ist ein lauernder, latent aggressiver, zu jeder Untat entschlossener Jugendlicher, der der Frau des Hauses unter die Krinoline schlüpft. Was Julischka Eichel aber aus dieser Madame de Rênal macht, das ist unbedingt sehenswert: sie gibt zunächst die verhärmt-arrogante Ehefrau, die sich mit ihrem trüben Wohlstands-Dasein abgefunden hat, und erwacht dann wider Willen zu einer immer ungebändigteren Sexualität und Abhängigkeit.
"Ich seh Ihr Gesicht, Ihre Augen, aber ich weiß nicht, ob Sie ein guter Mensch sind. Ob Sie aufrecht sind, die Lüge hassen, ob Sie falsche Gedanken haben. Ob Sie etwas im Schilde führen, einen Plan machen, eine Intrige aushecken – diese Augen!"
Chaos nach der Revolution
Was Julischka Eichel spielt, den fast ungläubigen Ausbruch einer sexuell bedürftigen Frau aus der Konvention, ist gerade in dem historisierenden Dekor der Aufführung ein Meisterstück. Andererseits fragt man sich im Verlauf des Abends immer mehr, was der historische Abstand denn soll: Julien Sorel hat genügend Eigenschaften, die auch heute anschlussfähig wären. Er ist gewissenlos, gottlos und selbstsüchtig, und er geht über Leichen, auch über seine eigene. Sein Glaube an die Selbstbefreiung des Einzelnen ist allerdings tief in der wilden Zeit nach der Französischen Revolution verwurzelt, als ein charismatischer Egomane wie Napoleon Kaiser werden konnte und danach Libertinage herrschte – da hat die Aufführung schon recht.
Aber Wildheit und Abgrund wird man in Nora Schlockers Inszenierung nicht finden, sie bleibt auch in den Ausbrüchen seltsam steril. Die gesamte Episode, als Julien in Paris Sekretär des Marquis de la Mole ist, wird relativ flach abgehandelt, auch die Machtkämpfe mit dessen Tochter Mathilde. Der Marquis allerdings wird von Holger Bülow als bleich geschminkter, privilegierter Irrer gespielt, der geradewegs aus dem Hospiz von Charenton zu kommen scheint, das wäre vielleicht ein Ansatz gewesen. So aber verläuft sich die Inszenierung im Labyrinth ihrer Tapetenwände, und man steht ratlos davor.