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Sterbehilfe einmal anders

Die Theatertexte des Schweizer Dramatikers Lukas Bärfuss wirken nach. "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" wurde vor zwei Jahren uraufgeführt und innerhalb kürzester Zeit in zwölf Sprachen übersetzt. Jetzt hat Bärfuss ein neues Schauspiel für das Theater Basel geschrieben: "Alices Reise in die Schweiz". Die Geschichte einer jungen Frau, die sich das Leben nehmen möchte und dafür eine Hilfe beansprucht, die in dieser Form wohl nur in der Schweiz zu haben ist.

Von Christian Gampert | 05.03.2005
    Früher, in den alten Zeiten, schrieb man Bücher, weil man eine Geschichte erzählen wollte, und die Leute lasen sie. Darauf folgte eine Epoche, da schrieb einer ein Buch, und es gab dann den Film zum Buch für das große Publikum. Und danach noch mal das Buch zum Film. Heute gibt es sogenannte Themen: die New Economy, die Glo-balisierung, die Arbeitslosigkeit. Und es gibt dann Dramatiker, die schreiben das Stück zum Thema, wie in einer Zeitungsredaktion.

    Ich weiß nicht, ob Shakespeare sich gesagt hat "Wir müssen mal was über Königsmorde machen, über die Macht und das schlechte Gewissen" und dann den Macbeth geschrieben hat. Scheint eher unwahr-scheinlich. Plausibler ist es, dass er einfach eine bestimmte Geschichte zeigen wollte und bestimmte Figuren - und dass der entscheidende große Rest, die Philosophie des Ganzen, die Form und, sagen wir es geradheraus: die Kunst, sich daraus ergab.

    Am Theater Basel hat nun in irgendeiner Dramaturgiesitzung offensichtlich irgendjemand irgendwann gesagt: wir müssen mal was zum Thema Sterbehilfe machen. Schließlich gibt es diesen Sterbe-Tourismus in die Schweiz, wo man sich ganz legal um die Ecke brin-gen lassen kann, wenn man keine Lust mehr hat. Möglich ist auch, dass der Dramatiker Lukas Bärfuß, übrigens einer der begabteren Jungautoren, mit dem Thema ankam und daraufhin den Stückauftrag erhielt. Auftragswerke sind immer problematisch: man muß etwas abgeben, obwohl man möglicherweise gar keine Geschichte zum Thema hat.

    Unter diesen Voraussetzungen ist das, was Bärfuß geschrieben hat, völlig adäquat: es ist die Bebilderung eines Problems, die Problemati-sierung eines Zustands, eine didaktische Hinführung des Publikums. Nur: die Figuren leben (und sterben) nicht wirklich, sie sind Bedeutungsträger und Demonstrationsobjekte. Bärfuß hat die Kurzszenen-Dramaturgie seines besten Stücks "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" beibehalten und durch allerlei Monologe und lehrhafte Einschübe veredelt. Aber die Anarchie der Figuren, ihre Eigenständigkeit und Widerborstigkeit, die er in den "sexuellen Neurosen" so wunderbar hinbekommen hatte, in einem Stück über (sagen wir es wieder mit dem thematischen Label:) Behinderten-Sexualität, die fehlt hier völlig.

    Die chronisch depressive junge Deutsche Alice will sterben, weil sie mit ihrer Mutter, einem ältlichen, zwangsneurotischen Putzteufel, in psychotischem Double-Bind verklammert ist. Jeder, der zwei Semester Psychologie studiert hat, wird die klinischen Klischees erkennen, die hier auf Bühnenniveau heruntergebrochen werden. Gustav Strohm, ein Schweizer Arzt und Sterbehelfer, ein geschäftstüchtiger Todesengel, der sich selbst zum Freiheitskämpfer und Retter der Bedürftigen stilisiert, will Alice ins Jenseits befördern. Man bespricht die Details. Alices Mutter reagiert auf den Todeswunsch ihrer Tochter mit jener Ambivalenz aus Zustimmung und Ablehnung, aus Zuneigung und Zurückweisung, die Menschen wahnsinnig macht. Außerdem gibt es noch einen skurrilen Briten, der zum Sterben in die Schweiz kommt, eine eifrige Sterbehilfe-Assistentin und den Vermieter der Sterbehilfe-Wohnung. Was man in der Schweiz auch tut, man tut es gründlich und jedenfalls mit finanziellem Erfolg.

    Wie könnte das weitergehen? Vielleicht so: der lebensmüde Brite möchte im entscheidenden Moment lieber erst mal einen Whisky kippen. Und Alice zieht sich ein kurzes Kleid über und bandelt ein bisschen mit ihrem Sterbehelfer an. Überraschenderweise nämlich geht es ihr besser, seit sie weiß, dass sie sterben wird. Am Ende ist Alice tot, mit einer Plastiktüte überm Kopf, der Sterbehelfer hat seine Approbation verloren, und Alices Mutter spricht zwecks Reise ins Nirvana bei der bewährten Adresse vor.

    Es ist gut und verdienstvoll, diese komplizierte Sterbehilfe-Problematik auf die Bühne zu bringen. Und die Schweizer werden - auch aufgrund dieses Stückes - intensiver diskutieren müssen, wo die Grenze verläuft zwischen Mord und Nächstenliebe, zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Da wir aber Theaterkritiker sind und nicht Sterbehilfe-Kritiker, bleibt als müdes Fazit: Stefan Müller hat eine nahezu klösterliche Inszenierung abgeliefert, Bernhard Hammer einen modern designten Wartesaal zum Tod hingebaut. Einzig der Martha-ler-Schauspieler Graham Valentine skizziert als exzentrischer Brite Ansätze einer Figur. Die anderen sind, dem Anlaß entsprechend, würdevolle Bedeutungsträger, die den Ernst der Sterbestunde gebührend ausstaffieren. Und nach diversen Foyergesprächen kann man nun ganz sozialpädagogisch sagen: es ist gut, dass wir darüber geredet haben.