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Sternmarsch nach Bonn

Bei Grundrechten wie Freizügigkeit und Vereinigungsfreiheit sollte der Notstandsfall Einschränkungen erlauben, die Bundeswehr sollte auch im Inneren eingesetzt werden können: Die sogenannten Notstandsgesetze waren die spektakulärste und umstrittenste Aktion der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD in den 60er Jahren. Weil sie sich von keiner parlamentarischen Opposition vertreten sahen, versammelten sich am 11. Mai 1968 mehr als 10.000 Demonstranten zu einem Sternmarsch auf die damalige Hauptstadt Bonn.

Von Rolf Wiggershaus | 11.05.2008
    "Lasst das Grundgesetz in Ruh - SPD und CDU..."
    Mehr als 60.000 Menschen kamen an jenem Tag mit Bussen, Bahnen und Pkws aus allen Teilen der Bundesrepublik in die damalige Hauptstadt am Rhein. Mit einer Großkundgebung der außerparlamentarischen Opposition sollte im letzten Augenblick doch noch die Verabschiedung der Notstandsgesetze verhindert werden, von denen sich ihre Befürworter die Sicherstellung der Handlungsfähigkeit des Staates bei Kriegen, Aufständen und Katastrophen versprachen. Die Straßen der Bonner Innenstadt waren an diesem wolkenverhangenen Samstag wie leergefegt.
    "Halten Sie Ihre Türen geschlossen, wenn die Demonstranten zu Diskussionen in Ihre Wohnungen eindringen wollen",
    hatte die örtliche CDU die Bevölkerung in Hauswurfsendungen ermahnt. Kurt Georg Kiesinger, der Kanzler der Großen Koalition, hatte am Vortag im Bundestag das Parlament vor dem Druck der Straße gewarnt – dem Druck also der Zehntausenden, die dem Aufruf des Komitees "Notstand der Demokratie" folgten, weil sie sich mit ihren Einwänden gegen die bis dahin - und bis heute - gravierendste Änderung des Grundgesetzes von keiner wirksamen parlamentarischen Opposition vertreten sahen. Selbst Gustav Heinemann - einst entschiedener Gegner der westdeutschen Wiederaufrüstung, nun Justizminister der Großen Koalition - hatte sich für die Notstandsregelung eingesetzt:
    "Wenn eine der für morgen empfohlenen Parolen lautet: 'Schütze Deine Freiheit gegen den Notstand', so antworte ich: 'Es geht um den Schutz der Freiheit auch und gerade im Notstand.' (Beifall.) Wenn eine andere Parole lauten soll: Notstandsgesetze sind Kriegsrecht in Friedenszeiten', so antworte ich: 'Es geht um Freiheitsrechte auch in einer Kriegszeit'. (Beifall.)"
    Die grundsätzlichen Bedenken der Notstandsgegner konnte das nicht entkräften. Ihr prominentester Redner im Bonner Hofgarten war der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll:
    "Als Person aufgrund meiner Erfahrungen mit verschiedenen Notständen der deutschen Geschichte bin ich der Überzeugung, dass Notstände – was hier bedeutet Krieg oder Bürgerkrieg – durch Gesetze nicht zu regeln sind. Das Bösartige an dieser Gesetzesvorlage ist außerdem, dass ihre letzte Fassung bis vor wenigen Tagen fast geheimgehalten, dass die Öffentlichkeit fast gar nicht informiert wurde. (Beifall.) Das Gesetz erscheint den meisten Bürgern dieses Staates als eine Art Verkehrsregelung bei Naturkatastrophen (Beifall.), während es in Wahrheit fast alle Vollmachten für eine fast totale Mobilmachung enthält."
    Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates hatten 1949 angesichts der schlechten Erfahrungen mit dem Notverordnungsartikel 48 der Weimarer Verfassung auf die ursprünglich vorgesehene Notstandsregelung verzichtet. Seit den 50er Jahren hatte es mehrere Anläufe gegeben, diese Regelung nachzuholen. Sozialdemokratische und vor allem gewerkschaftliche Vorbehalte führten zu immer neuen Entwürfen. Doch die Kritiker sahen die Gefahr einer Entmachtung des Parlaments und einer präventiven Beschränkung der Grundrechte dadurch nicht gebannt.

    Das Misstrauen saß tief - zumal nach den Osterunruhen. Bei einem Attentat war Rudi Dutschke, den die BILD-Zeitung zum "Volksfeind Nr. 1" erklärt hatte, schwer verletzt worden. Zehntausende junger Menschen versuchten daraufhin in zahlreichen westdeutschen Städten, die Auslieferung von Zeitungen des Axel-Springer-Verlags zu verhindern. Sie sahen sich mit mehr als 20.000 Polizisten konfrontiert, die mit Wasserwerfern, Tränengas, Gummiknüppeln, Stacheldraht und Hundestaffeln als Werkschutz Springers in Aktion traten. Das erschien vielen wie eine vorweggenommene Notstandsübung.
    Auf eine offene Konfliktaustragung ohne Gewaltanwendung bedacht, beschloss Böll seine Rede im Bonner Hofgarten mit dem Appell:
    "Sollte es zur Verabschiedung kommen, so lassen Sie sich nicht zu gewalttätigen Aktionen hinreißen oder verleiten. (Protest, Buhrufe, Beifall. Böll leise: 'Ja, pfeift nur’.) Sie müssen sich verständlich machen - so artikulieren, dass die Gesellschaft, die Sie verändern wollen, zum Gespräch gezwungen wird."

    Der Tag ging ohne Zwischenfälle zu Ende. Notstandsverfassung und Notstandsgesetze wurden am 30. Mai vom Parlament verabschiedet. Der Test darauf, wer mehr Recht hatte, Heinemann oder Böll, steht bis heute aus und wird hoffentlich nie stattfinden.