Montag, 29. April 2024

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"Sternstunde der deutschen Geschichte"

Klaus Bölling war unter Bundeskanzler Helmut Schmidt Regierungssprecher und Leiter des Bundespresseamtes. 1981 wurde er Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der DDR, 1982 wieder Regierungssprecher bis zum Ende der sozialliberalen Koalition. Klaus Bölling ist seither als Publizist in Berlin tätig.

29.09.2011
    Sprecher: Klaus Bölling, geboren am 29. August 1928 in Potsdam, deutscher Publizist und ehemaliger Regierungssprecher der sozialliberalen Bundesregierung zwischen 1974 und 1982 mit einer Unterbrechung von einem Jahr. Nach dem Besuch des Zehlendorfer Gymnasiums in Berlin studierte Bölling an der Humboldt-Universität Germanistik und Geschichte. Eine erste Berufsstation führte ihn zu einer Ostberliner FDJ-Zeitung, bevor er 1947 als Redakteur beim Berliner "Tagesspiegel" seine journalistische Laufbahn begann. Weitere berufliche Stationen von Klaus Bölling waren: politischer Redakteur und Kommentator im RIAS, danach Wechsel zum Westdeutschen Rundfunk WDR, wo er zusammen mit Gerd Ruge die Sendung "Weltspiegel" entwickelte und dort auch als Moderator wirkte. Zwischen 1969 und 1973 leitete er das ARD-Studio in Washington und war von 1973 bis 1974 Intendant von Radio Bremen. 1974 wurde Klaus Bölling unter Bundeskanzler Helmut Schmidt Regierungssprecher und Leiter des Bundespresseamtes. Am 9. Februar 1981 wurde er Nachfolger von Günter Gaus als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der DDR und kehrte am 24. Mai 1982 wieder in sein Bonner Amt des Regierungssprechers zurück, das er bis zum Ende der sozialliberalen Koalition 1982 ausübte. Klaus Bölling ist seither als Publizist in Berlin tätig.

    Klaus Bölling: Es ist eines der deutschen Wunder, eine Sternstunde der deutschen Geschichte gewesen.

    Sprecher: Deutsche Spaltung, deutsche Einheit – vom schwierigen Zusammenwachsen der Nation.

    Rainer Burchardt: Herr Bölling, Sie sind in Potsdam geboren, Sie haben an der damals Ostberliner Humboldt-Universität studiert, Sie sind jetzt hier in der Hölle des Kalten Krieges, wir nehmen dieses Gespräch auf im alten Gebäude des RIAS, Radio im amerikanischen Sektor, hieß es damals, jetzt im Besitz des Deutschlandradios, nach der Wiedervereinigung. Vielleicht sollte man auch das noch hinzufügen: Ihre Ostberliner Erfahrung wurde sicherlich sehr intensiv, als Sie das Amt des Ständigen Vertreters in Ostberlin wahrgenommen haben. Vielleicht ganz unversehens auf den Punkt gefragt: Wenn Sie sich heute, 20 Jahre, 21 Jahre nach der Einheit den Zustand dieser Republik vergegenwärtigen, was geht Ihnen da als erstes durch den Kopf?

    Bölling: Das ist, wenn Sie mir das durchgehen lassen und verzeihen, eine ganz einfache, eine schlichte aber doch wohl zutreffende Meinung: Ich bin immer noch sehr, sehr glücklich, denn ich habe zu denen gehört, und es gab große Männer, die das genauso wenig geglaubt haben wie ich, dass es zu meinen Lebzeiten nicht mehr zu der deutschen Einheit kommen werde, obwohl manche von uns in Bonn, in ganz Westdeutschland gewusst haben, wie miserabel die ökonomische Lage in der DDR war in den ganzen letzten Jahren, dass es womöglich zu einem Zusammenbruch kommen werde. Aber auch bedeutende Politiker aller Parteien waren so wie ich davon überzeugt: Auch wenn es den Deutschen in der DDR noch schlechter geht, sie werden mit den Mitteln eines totalitären Staates jede sie gefährdende Unruhe brutal ersticken. Also es ist eines der deutschen Wunder oder, um mit Stefan Zweig, dem großen Schriftsteller, zu reden, eine Sternstunde der deutschen Geschichte gewesen.

    Burchardt: Sind Sie denn in der Tat der Meinung, dass jetzt auch schon ein wenig von dem geschehen ist, was Willy Brandt damals sehr euphorisch in die Formel gekleidet hat, jetzt wachse zusammen, was zusammengehöre?

    Bölling: Das war ein wichtiges, ein großes, ein bedeutendes Wort. Es ist zu einem Wort, zu einer Formulierung geworden, die vielleicht heute schon im Büchmann steht. Ja, er war etwas zu optimistisch. Aber wir müssen uns, wenn es da und dort Landsleute gibt, ältere zumal, die ein bisschen nostalgisch sind, und mit dem Blick zumal auf solche Bundesländer wie Mecklenburg-Vorpommern, die niemals Industrieländer gewesen sind, auch nicht zur Kaiserzeit, die heute sagen, also bei uns hat es keine Arbeitslosigkeit gegeben, oder das berühmte Argument, unsere Bemühungen um Kinder waren sehr viel erfolgreicher als die in der kapitalistischen Bundesrepublik –, … es sind nur noch ganz Wenige. Und wenn man mit authentischen älteren, aber auch jüngeren DDR-Deutschen, ehemaligen DDR-Deutschen spricht, dann verklären sie ein wenig die DDR, so wie das unlängst auch der erfolgreiche Ministerpräsident Sellering getan hat, es war nicht alles schlecht, natürlich war nicht alles schlecht, und auch ein Mann wie Lothar de Maizière hat gesagt, das ist nicht wahr, das war kein Unrechtsstaat, manches war nicht in Ordnung, aber Unrechtsstaat war es nicht, dann geben diese Landsleute zu: Es ist doch eigentlich so viel besser, und zwar nicht einfach, weil wir jetzt auch nach Mallorca fliegen können oder auf die Malediven – die Arbeitslosen freilich können das nicht, aber andere, weil die Preise ja auch immer niedriger werden bei den Billig-Airlines, können es –, nicht nur, weil sie reisen können, wohin sie wollen, sondern weil sie nicht mehr anstehen müssen, weil sie auch nicht mehr die Sorge haben müssen, dass ein Nachbar, der sich darüber geärgert hat, dass die Hecke von Müller in den Garten von Mayer gewachsen ist, … dass sie jetzt einen Rechtsstaat haben. Es ist doch nicht zutreffend, was die großartige Bärbel Bohley gesagt hat: Wir haben Gerechtigkeit erwartet und haben einen Rechtsstaat bekommen. Nein, ich glaube, im Prinzip hat Willy Brandt Recht behalten. Es mag noch ein paar Menschen geben, die auch aus Trotz, aus Trotz, vielleicht auch gegenüber den zahlreichen Westdeutschen, die bei dem Aufbau einer Verwaltung geholfen haben, Vorurteile haben, die Besser-Wessis. Solche hat es gegeben, es hat Beamte gegeben, die in der Bundesverwaltung vielleicht, weil sie halt durchschnittlich begabt gewesen sind, die Möglichkeit genutzt haben, vom Regierungsrat zum Oberregierungsrat in Erfurt oder in Torgau aufzusteigen, und die waren dann auch nicht sehr viel klüger als die Deutschen, die dort 40 Jahre ausgehalten haben.

    Burchardt: Wie beurteilen Sie denn vor dem Hintergrund auch Ihrer Tätigkeit als Ständiger Vertreter jetzt den Vorstoß insbesondere von Herrn Jahn, den augenblicklichen Leiter der ehemals Gauck- oder Birthler-Behörde, sämtliche Ex-Stasimitarbeiter oder die in die Nähe der Stasi zu rücken wären, aus dem Amt zu entfernen?

    Bölling: Meine Antwort wird Sie kaum überraschen. Ich glaube, das ist bei diesem ehemaligen Kollegen – das ist ja ein Journalist beim RBB gewesen –, das ist doch so ein Anflug von Jakobinismus, das hat mir nicht so gut gefallen. Ich habe auch erzählt bekommen, dass sowohl Frau Birthler als auch Herr Gauck, beide habe ich über die Jahre sehr schätzen gelernt, nicht sehr glücklich waren damit, dass er diese Männer da herausexpedieren wollte. Also es wäre besser gewesen, wenn Herr Jahn da nicht insistiert hätte.

    Burchardt: Herr Bölling, haben Sie sich denn damals persönlich eigentlich sehr willkommen gefühlt als Ständiger Vertreter in der DDR? Denn Sie waren zunächst auch, laut eigenem Bekenntnis, mal kurzfristig als junger Mann Kommunist – mein Gott, wer war es nicht –, und Sie galten ja auch als ein Mann – Sie waren jahrelang Regierungssprecher bei Helmut Schmidt, aber nicht bei Willy Brandt –, Sie galten ja als ein Mann auch aus einer sehr stringenten Regierungsform in Westdeutschland, in dem damaligen Westdeutschland. Wie bequem war denn dieser Job?

    Bölling: Ich bin ganz sicher, dass Günter Gaus, der dort hart gearbeitet hat über sechs Jahre, abberufen wurde, weil er zur Irritation des Bundeskanzlers deutsche und politische Vorstellungen hatte, die nicht unbedingt korrespondierten mit den deutschlandpolitischen Vorstellungen der Bundesregierung, den persönlichen Vorstellungen von Helmut Schmidt. Ich war dort nicht willkommen, aber ich kannte ja Honecker, ich bin ihm 1946, 1947 begegnet, ohne eingeschriebenes Mitglied der Freien Deutschen Jugend zu sein, war aber mit 18 schon Redakteur bei der ersten Zeitschrift der FDJ. Und da gab es drei Herausgeber: Heinz Keßler, der später Verteidigungsminister der DDR war, Deserteur der Wehrmacht, der das Glück hatte, weder von den eigenen Leuten noch von der Roten Armee erschossen zu werden; dann gab es Paul Verner, der kam wohl aus dem mexikanischen Exil; und Erich Honecker, von manchen mit etwas Gemüt Onkel Erich genannt.

    Burchardt: Der war damals der Leiter der FDJ.

    Bölling: Der war der erste Vorsitzende der FDJ, und ich habe damals dort mit 18, 19 gedacht, das ist eine gute Idee. In der Weimarer Republik hatte es so viele Jugendorganisationen gegeben, evangelische, katholische, unchristliche, Pfadfinder, die alle miteinander konkurrierten, und da ist es doch keine schlechte Idee, nach diesem schrecklichen Krieg und der Hitler-Diktatur eine Antifa-Jugend zu organisieren. Nun gut, ich will heute, da ich die 80 überschritten habe, nicht so tun, als hätte ich das damals alles so gründlich reflektiert, aber die Idee fand ich gut und bin dann zwei Jahre ein idealistischer Kommunist gewesen. Also die Herren kannten mich, ich hatte Honecker mal zu einer Reise nach Dresden begleitet, das war eine Einladung von ihm. Er hatte wohl, ja, das will ich sagen, ein gewisses Faible für mich, vielleicht, weil ich so der Sohn einer bourgeoisen Familie war und so idealistisch war und alles machen wollte und bis abends spät noch Artikel redigiert oder selber welche geschrieben habe. Nein, die Herren wussten natürlich meine Biografie und wussten, dass ich ein Schmidtianer bin, ein konservativer Sozialdemokrat, und dass ich, anders als der von mir sehr geschätzte Kollege Gaus, die DDR eigentlich, darf ich heute sagen, zum Teufel wünschte.

    Sprecher: Klaus Bölling, ehemaliger Regierungssprecher, im "Zeitzeugen"-Gespräch.

    Bölling: Wir sind nicht, ich jedenfalls, ich bin niemals indoktriniert worden.

    Sprecher: Prägung durch die Bündische Jugend im Dritten Reich, antifaschistisches Engagement.

    Burchardt: Sie sind Jahrgang 1928, Ihre Jugend war natürlich zur Zeit des Nationalsozialismus sicher nicht ohne Einfluss, Sie waren auch Mitglied der HJ und sind dann Kommunist geworden. War das im Grunde genommen die Enttäuschung über das, was Hitler hier angerichtet hat, für Sie ein Impetus sozusagen, ins andere Extrem zu gehen?

    Bölling: Das ist ein richtiges Wort, Impetus, aber ich muss jetzt ein bisschen genau sein und sagen: Ich war nicht in der HJ, sondern ich war im Deutschen Jungvolk, das waren die Jungs zwischen 10 und 14. Und dann wurde man automatisch in die Hitlerjugend überführt, und das hat mir sogar Spaß gemacht. Meine Eltern, meine Mutter kam aus einer jüdischen Familie, haben das auch geschehen lassen, und mir hat das großen Spaß gemacht. Warum? Weil wir hier im Westen von Berlin Vorgesetzte hatten, Vorgesetzte, das waren also Jungs von 16, 17, die hatten noch die Traditionen der Bündischen Jugend verinnerlicht. Das heißt, wir haben Fahrten in die Mark Brandenburg gemacht, wirklich damals schon, in der Hitlerzeit, auf den Spuren von Theodor Fontane. Wir haben Orte aufgesucht, die Theodor Fontane in seinen berühmten Wanderungen durch die Mark Brandenburg beschrieben hat, wir haben gezeltet, wir haben abgekocht, meist waren diese Suppen kaum genießbar, aber so mit 12, 13, 14 ist einem das völlig egal. Wir haben so nicht Räuber und Gendarm, aber so was Ähnliches gespielt, und ja, das waren Spiele, die waren der Jugend gemäß. Das war nichts anderes als vorher in der Bündischen Jugend, und als ein Zeichen des Widerstandes hat unser Fähnleinführer, der später hoch aufgestiegen ist als deutscher Ministerialbeamter der Brüsseler Kommission, der hat noch Lieder gesungen, die eigentlich verboten waren. Wir waren also in Berlin-Nikolassee so etwas wie eine kleine Widerstandszelle.

    Burchardt: Waren Sie politische Naivlinge?

    Bölling: Ja, wir sind nicht, ich jedenfalls hier im Westen der Stadt bin niemals indoktriniert worden, obwohl unser Fähnleinführer, eben dieser hochgestellte Ministerialdirektor, erst im Bundeswirtschaftsministerium und dann später in Brüssel, der hatte einen Vater, das war ein ausgemachter Nazi. Aber der Sohn hat uns nicht indoktriniert. Am Ende des Krieges, einfach deshalb, weil meine Mutter denunziert worden ist und nach Auschwitz kam, war meine Entscheidung noch mit knapp 18 in die KPD einzutreten, nicht die Überlegung, der Sozialismus ist die Zukunft – ich hatte doch weder Marx noch Engels noch Rosa Luxemburg gelesen, das kam später, dann aber gründlich –, einfach nur die Vorstellung: Die Kommunisten sind die, die am entschiedendsten das, was noch an Nazistrukturen in Deutschland ist, das werden die alles wegschaffen und die meinen es mit dem Antifaschismus ernst. Es war ein fundamentaler Irrtum, und einer der Großen, die das durchschaut haben, dass der Gott keiner war, an den wir geglaubt haben, war, wie Sie wissen, Arthur Koestler.

    Sprecher: Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen"-Gespräch, heute mit Klaus Bölling.

    Bölling: Wir haben uns mit Argumenten mit der DDR auseinandergesetzt.

    Sprecher: Journalist im Kalten Krieg – Einsatz im Osten, Einsatz im Westen.

    Burchardt: 1953 gab es den 17. Juni, den Volksaufstand, von den Sowjets niedergeschlagen. Ich denke mal, Sie waren da schon nicht mehr ein gläubiger Kommunist.

    Bölling: Nein, nein.

    Burchardt: Wie ernüchternd wirkte das eigentlich auf Sie?

    Bölling: Wir sitzen hier im Gebäude des alten RIAS, und ich war am 17. Juni 1953 hier Redakteur. Und schon am 16. Juni kamen hier Arbeiter aus der DDR, auch aus der Stalinallee, eine Abordnung, die haben an uns den Wunsch herangetragen: Ihr müsst zum Generalstreik aufrufen.

    Burchardt: Der RIAS?

    Bölling: Ja. Am 16. waren die hier im Haus. Chefredakteur war Egon Bahr, mein Chefredakteur Egon Bahr, der bald 90 wird, und damals war er fünf Jahre älter als ich, und uns war völlig klar, dem Direktor des RIAS, Gordon Ewing, hervorragender liberaler Amerikaner: Das ist unmöglich. Da kamen auch schon Anrufe aus Washington, denn der RIAS gehörte ja zum amerikanischen Außenministerium, und die haben gesagt: Um Gottes Willen, das kann tatsächlich zu einem ganz großen Konflikt zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten … Ich bin mit Hanns Werner Schwarze, der war hier Nachrichtenredakteur, …

    Burchardt: Der im ZDF später mal "Kennzeichen D" gemacht hat.

    Bölling: … der sehr verdienstvoll diese Sendung gemacht hat im ZDF. Der Hanns und ich, wir haben hier, wir haben uns sofort auf den Weg zum Potsdamer Platz gemacht. Dort begann die Volksarmee zu schießen, erst in die Luft, aber nachher auch, wie Sie wissen, gezielt. Dann haben wir selber, Hanns Werner Schwarze und ich, erlebt, wie die sowjetischen Panzer kamen, und dann, als wir es knallen hörten und Hanns Werner Schwarze war auch Leutnant in der Wehrmacht und hat gesagt, Klaus, runter! Wir haben uns hingelegt. Ich habe damals auch kommentiert, weil das manchmal erzählt worden ist, und es stimmt nicht, dass der RIAS ein militant antikommunistischer Sender gewesen ist. Wir haben uns mit Argumenten mit der DDR auseinandergesetzt, aber wir haben – und das hätten auch die Amerikaner verhindert –, wir haben, anders als manche von den Amerikanern finanzierten Sendern wie Freies Europa, wir haben hier keine Hetze gemacht. Aber wir haben hart argumentiert gegen dieses Regime, und wir haben damals auch Wert darauf gelegt, zu sagen: Am 17. Juni war das nicht ein Aufstand nur wegen der wahnwitzig erhöhten Normen durch Ulbricht, sondern es war ein Aufstand wirklich für die Freiheit. Das muss man in der Rückschau auf den 17. Juni immer wieder sagen.

    Burchardt: Danach sind Sie Südosteuropa-Korrespondent gewesen, was vielen gar nicht bekannt ist, Sie waren stationiert in Belgrad, und dieses, wenn ich das nicht ganz falsch sehe, auch gerade zu Zeiten des Ungarn-Aufstandes, wo im Grunde genommen spiegelbildlich das passierte, was ja in Ostberlin geschehen ist und genauso auch niedergeschlagen wurde. Welchen Einfluss hat das auf Ihre Berichterstattung gehabt? Konnten Sie da Ihre politische Überzeugung, die sicherlich jetzt anders gereift war, weitgehend freihalten von dem, was Sie persönlich erleben mussten?

    Bölling: Ich bin zu der Zeit des Aufstandes freiheitsliebender Magyaren nicht in Budapest gewesen, erinnere mich aber natürlich genau daran, mit welcher Brutalität damals auch die Sowjets mit Panzern nach Budapest vorgerückt sind. Nein, ich will, weil wir hier in Berlin einander gegenübersitzen, sagen: Es war ein Kollege dort und hat hervorragend berichtet, das war Lothar Loewe, der hier vor einem Jahr in Berlin gestorben ist, der war dort, auch Peter Schulze, der Chefreporter hier damals im RIAS. Ich war in Belgrad zu einer Zeit, als Tito und seine Kommunisten fürchteten, dass, weil sie einen dritten Weg zum Sozialismus versuchen wollten, Stalin ernsthaft überlegt hat, die Sowjetarmee nach Jugoslawien zu schicken. Das war eine reale Angst, und das war nicht eingebildet. Damit musste Tito rechnen. Dann war ja Chruschtschow der Mann – und Chruschtschow, obwohl er, wie wir uns erinnern alle, gepoltert hat, nicht nur in New York bei den Vereinten Nationen –, Chruschtschow hat gewusst, das Risiko ist viel zu groß. Aber es war eine spannende Zeit, ich habe für die ARD, auch für den Deutschlandfunk und Deutsche Welle und alle anderen berichtet über diesen ideologischen Konflikt zwischen Chruschtschow und Tito, denn Chruschtschow hatte zwar in seiner berühmten Parteitagsrede – das war wohl der 23., der Kongress – hat er ein bisschen Freiheit erlaubt, aber so viel Freiheit wie Tito für kommunistische Verhältnisse den Jugoslawen, Kroaten, Serben, Slowenen eingeräumt hat, das wollten sie nicht. Dafür hatte ich damals in Deutschland beim politischen Radiopublikum ein sehr interessiertes Publikum – eine wichtige Zeit für mich.

    Burchardt: Sie sind dann, geografisch zumindest, aber auch politisch natürlich, dann auf die andere Seite als Kollege gegangen, als Berichterstatter noch, noch nicht in die Politik, und Sie waren fürs Fernsehen in Washington, gewissermaßen in der Zentrale des westlichen Kapitalismus und eigentlich im Gegensatz dessen, man konnte auch sagen, der Bölling ist ja ein Glückskind, er hat das alles direkt erlebt. In Moskau sind Sie nicht gewesen, direkt jedenfalls nicht stationiert.

    Bölling: Nur mit Helmut Schmidt zusammen im Kreml.

    Burchardt: War das für Sie ein Kulturschock, nach Washington zu kommen vor dem Hintergrund dessen, was Sie vorher erlebt hatten?

    Bölling: Amerika war für mich als Berliner, korrekter: als Westberliner, die große Schutzmacht. Ohne Berlin, auch ohne Kennedy, von dem man heute hört durch die wohl nicht so sehr spannenden Memoiren seiner Jackie, dass ihm die Berliner ein bisschen auf die Nerven gegangen sind, … Ich gehörte nicht zu den glücklichen deutschen Journalisten, die gleich nach dem Krieg als Austauschjournalisten oder Studenten in die Vereinigten Staaten gekommen sind. Also ich kam mit großer Bewunderung nach Amerika, und diese Bewunderung auch nach vier Jahrzehnten hält an, aber zugleich auch die Enttäuschung, die Verwunderung, die Zweifel. Wenn ich heute sehe, dass ein Präsident, der mit so viel Hoffnung von seinen eigenen Landsleuten und von uns Europäern empfangen, begrüßt worden ist, bedrängt wird durch die Gegenpartei, durch die Republikaner, von denen man eigentlich erwarten müsste, dass sie zum Guten dieses großen Landes, von dem wir uns so viel Positives abgesehen haben, dass sie das tun, was der Obama nachholen will – Und die Amerikaner hatten, auch nach dem New Deal von Franklin Delano Roosevelt so viel nachzuholen an Veränderung der sozialen Struktur –, … Also gut, ich bin mit großer positiver Erwartung in das ARD-Büro eingezogen und habe ja damals, Herr Burchardt, den Vietnamkrieg erlebt. Und ich war sofort auf der Seite der Antikriegspartei in Amerika und bekam eines Tages einen Brief des amtierenden Verteidigungsministers Georg Leber: "Lieber Klaus, du bist doch Berliner. Ich habe verschiedentlich deine Berichte in der Tagesschau gesehen – das ist destruktiv. Wir brauchen die Amerikaner, und deine Berichterstattung schadet dem deutschen Ansehen." Und dann will ich noch hinzufügen: Als ich schon Regierungssprecher war, hat der damalige bayrische Ministerpräsident dem Deutschen Bundestag so nebenbei gesagt: "Herr Bundeskanzler" – und damit meinte er Helmut Schmidt –, "es ist bezeichnend für Sie, dass Sie einen Mann, der gegen die Vereinigten Staaten, unsere besten Verbündeten agitiert hat, dass Sie den zum Regierungssprecher machen." Also ich habe später manches …

    Burchardt: Das ist eine große Ehre für Sie.

    Bölling: Ja, ja, ja, in seinen Memoiren hat Strauß etwas sehr Positives über mich gesagt, das hatte aber mehr damit zu tun, dass er den Milliardenkredit für die DDR eingefädelt hatte und Helmut Kohl das missbilligte, heftig missbilligte, und da hat er dann gesagt: Wenn ich sein Pressesprecher gewesen wäre, hätte ich, Bölling, für ihn einen Fackelzug von München nach Altötting organisiert. Da hat meine Tochter gesagt, du bist wohl stolz darauf? Da habe ich gesagt, also der Strauß ist ja nicht der Dümmste.

    Sprecher: Der frühere Regierungssprecher Klaus Bölling im "Zeitzeugen"-Gespräch des Deutschlandfunks.

    Bölling: "Klaus, ich brauche Sie, Sie müssen nach Bonn kommen!"

    Sprecher: Regierungssprecher der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt, Deutschland und der RAF-Terrorismus, das Jahr 1982.

    Burchardt: Herr Bölling, Sie haben ja selber unmerklich schon Ihre Zeit als Regierungssprecher eingebracht. Wie haben Sie, um das mal etwas flapsig zu formulieren, eigentlich die Kurve gekriegt? Das ist ja nicht ganz unproblematisch von der Seite des, ich sage einmal, um Neutralität und ein Höchstmaß an Objektivität bemühten Journalisten auf der einen Seite in die Rolle eines Sprechers, insbesondere auch eines Regierungssprechers zu geraten, wenngleich Sie ja kurz davor noch kurz mal Intendant bei Radio Bremen gewesen sind. Wie ging das damals eigentlich? Hat Helmut Schmidt Sie angerufen und hat gesagt, Sie müssen jetzt kommen, ich brauche Sie? Was hat Sie qualifiziert damals?

    Bölling: Ja, Sie haben eine konstruktive Phantasie. Es war so, dass ich bei einer Intendantensitzung war, ich war ja der Chef des kleinsten deutschen Senders, der bis auf den heutigen Tag unter der Devise Rundfunk macht "Klein aber fein", und das hat mir auch Freude gemacht, und bei dieser Intendantensitzung kam dann irgendjemand rein und sagte, Herr Bölling, Sie werden vom Bundeskanzleramt verlangt. Und ich weiß noch genau, der Programmdirektor des deutschen Fernsehens, der von mir und Ihnen vermutlich auch sehr geschätzte Kollege Heinz Werner Hübner, der sagte, aha, das ist Schmidt – und damit hatte Hübner recht. Und dann war also nicht der Schmidt selber am Apparat, sondern erst mal natürlich die Sekretärin, und dann hörte ich die mir vertraute Stimme, ich kannte Schmidt ja schon aus meiner Zeit als Chefredakteur des Norddeutschen Rundfunks, da sagte er: "Klaus, ich brauche Sie, Sie müssen nach Bonn kommen." Und ich habe nicht sofort einen Jubelschrei ausgestoßen, denn ich war ja erst ein knappes Jahr dort und wollte nicht desertieren, weil ich genau wusste, dass einige der Mitarbeiter, die ich eigens nach Bremen verpflichtet hatte, gute Leute, dass die sagen würden, jetzt holt der uns hier an die Weser und jetzt haut er ab, Fahnenflucht. Aber ich bin, so wie Sie ja auch, ich bin ein political animal oder griechisch hochgebildet ausgedrückt ein Zoon politikon, die Versuchung war für mich so groß, wie für den seligen Conny Ahlers, Pressechef von Willy Brandt und Kiesinger, sagte: Jetzt willst du richtig in die Politik.

    Burchardt: Wussten Sie genau, was auf Sie zukommt?

    Bölling: Nein, habe ich nicht gewusst, es war eigentlich ein bisschen ein Abenteuer, denn ich war ja doch ein Fernsehfritze, war auch ziemlich erfolgreich, bekam viel Lob, aber ich war nie in Bonn gewesen. Und in Bonn, die Hälfte oder ein Drittel oder zwei Drittel der Bonner Korrespondenten, die haben gesagt, na, was bildet der sich ein? Der hat doch hier von Bonn überhaupt keine Ahnung. Und das ist gar nicht die Sache eines Bekenntnisses, das war so: Die ersten Wochen waren für mich sehr schwierig. Ich bin da rumgestolpert und habe die vielen, vielen Minen, die in jeder politischen Hauptstadt, auch in Washington, ausgelegt sind, auf die bin ich draufgetreten. Aber ich bin, jedenfalls haben andere das gesagt, ich habe dann ziemlich schnell die Topografie der Bonner Hauptstadt begriffen und bin heute froh darüber, dass es immer wieder ältere Kollegen gibt, die gesagt haben, Sie oder Du, Sie haben den Parcours ganz gut gemacht.

    Burchardt: Ich kenne das Echo, ich habe Sie selber als Bonner Korrespondent, auch als Pressesprecher erleben dürfen.

    Bölling: Ja, natürlich.

    Burchardt: Es hieß ja damals auch: Seit Felix von Eckardt, dem legendären Pressesprecher Adenauers, ist der Klaus Böllinger eigentlich der Beste, den die SPD jemals aufzubieten hatte. Ich denke, diese Blumen kann man Ihnen gern überreichen. Auf der anderen Seite war es natürlich für Sie auch eine problembelastete Zeit, einmal die Wirtschaftskrise 1973, ja, es war der Anfang jedenfalls, aber 74, 75, als Schmidt dran war, galt es, sie zu bewältigen, dann der Terrorismus, insbesondere in den 70er-Jahren, es ging ja damals um das Umfeld der Entführung von Hanns Martin Schleyer und der Forderung, Terroristen freizulassen. Sie galten ja damals mit als einer der vier Angehörigen des sogenannten Schmidtschen Kleeblatts, und ich vermute mal, dass "Ben Wisch", also Hans-Jürgen Wischnewski, gehörte ja auch dazu und hatte ja eine Schlüsselrolle …

    Bölling: Schlüsselrolle.

    Burchardt: Wie ist eigentlich die Diskussion der damaligen Geiselbefreiung von Mogadischu genau abgelaufen?

    Bölling: Wir waren ja auf den Terrorismus der Rote-Armee-Fraktion vorbereitet. Sie werden sich daran erinnern, dass 1975 hier in Berlin die Zelle 2. Juni existierte. Die haben den damaligen Vorsitzenden der Westberliner CDU, Peter Lorenz, einen engen Freund von Helmut Kohl, entführt in ein Volksgefängnis. Wir haben damals überlegt, ob wir die Forderung der Terroristen ernsthaft diskutieren sollten – Schmidt war dagegen –, die Gefangenen des 2. Junis, die saßen ja hier im Knast, rauszulassen oder hart zu bleiben, und da gab es eine Sitzung, bei der ich dabei sein konnte, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Klaus Schütz, der regierende Bürgermeister von Berlin, Schütz auch mit Peter Lorenz, unbeschadet der unterschiedlichen Parteien, gut befreundet, und Helmut Kohl. Und Klaus Schütz, der Sozialdemokrat, und Helmut Kohl, der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, haben starken Druck auf den Kanzler ausgeübt, und Schmidt hat nachgegeben. Schmidt hat das später als einen Fehler bezeichnet. Heute sage ich, auch wenn er hier säße, er würde mir vielleicht widersprechen: Es war die richtige Entscheidung. Pastor Albers, nein, Albers war Bürgermeister, hat ja dann die Männer und Frauen freigelassen. Und dann gab es diese Attacke der Roten-Armee-Fraktion in Stockholm, das war ja vor der Entführung von Hanns Martin Schleyer, da haben wir die Brutalität der Mitglieder der RAF erlebt, die dort ohne Not gleich zwei deutsche Diplomaten niedergeschossen haben, brutal, eine Exekution. Und dann kam die Entführung von Hanns Martin Schleyer. Wir bekamen die Nachricht aus Köln in Sekundenschnelle und wir wussten: Die Forderung … Die Forderung war eben, die Gefangenen von Stammheim, nämlich die Pastorentochter Gudrun Ensslin, Ihren Geliebten Andreas Baader und Raspe zu entlassen, auf freien Fuß zu setzen. Und darüber ist dann heftig diskutiert worden. Eine ganz wichtige Rolle hat der heute in Rosenheim lebende Präsident des Bundeskriminalamtes Horst Herold gespielt. Wir waren ja wirklich um ein Haar daran, Hanns Martin Schleyer in Erftstadt in so einem riesigen Apartmenthaus zu befreien, ein Polizist stand vor der Tür, und es gab auch Hausbewohner, denen das Ein und Aus der RAF-Leute aufgefallen war. Und dann, an einem handwerklichen Fehler der Polizei ist das dann gescheitert. Die Kernfrage war dann im großen Kreis, an dem Helmut Kohl teilgenommen hat, Zimmermann teilgenommen hat, Strauß teilgenommen hat: Geben wir nach oder geben wir nicht nach? Und Schmidt war nach der Erfahrung Lorenz der Meinung, nein, wir können im Interesse der Sicherheit aller Bürger dieser Bundesrepublik, wir können nicht nachgeben. Dann gab es eine Klage, wie Sie sich erinnern werden, der Familie Schleyer beim Bundesverfassungsgericht, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat nicht die Hoffnung der Familie erfüllt.

    Burchardt: Der Antrag auf einstweilige Verfügung gegen diesen Regierungsbeschluss.

    Bölling: Ja, sie wollten eine einstweilige Verfügung, um die Regierung dazu zu veranlassen, die Gefangenen freizulassen. Dann war die schwerste Entscheidung, die allein Helmut Schmidt zu verantworten hatte: Wir haben die GSG 9 mit dem Oberst Wegner auf den Weg nach Mogadischu geschickt, die Odyssee des Flugzeuges muss ich jetzt nicht beschreiben, die wird vielen Hörerinnen und Hörern noch erinnerlich sein, und die Schwierigkeit war: Können wir eine deutsche Truppe, die ausgebildet ist für solche Extremsituationen, in einem fremden Land einsetzen? Da hat Schmidt dann mit dem Präsidenten des Landes gesprochen und der hat dann die Genehmigung gegeben. Also eine andere Situation prinzipiell als bei dem Kommando, das Obama gegen Osama bin Laden … Und das ist gutgegangen.

    Burchardt: Aber es gab keine Alternative?

    Bölling: Es gab für uns keine Alternative, denn wir mussten es wagen. Gut, Helmut Schmidt hat gesagt, wenn es nicht gelingt – es waren ja fast 100 Menschen in dem Flugzeug zu retten –, wenn die verrückten palästinensischen Terroristen das Flugzeug im letzten Augenblick in die Luft sprengen, dann trete ich zurück. Aber das wäre eine Schuld auf seinen Schultern gewesen, die er niemals hätte abschütteln können und wir, die wir ihm zur Seite standen und ihn beraten haben, wir wären dieses Schuldgefühl niemals losgeworden. Aber es hat Walter Scheel später gesagt: Es bleibt ein Stück Schuld, und die wiegt nicht so leicht bei allen, und das gilt auch für Helmut Schmidt.

    Burchardt: Man merkt ja auch an der Emphase Ihrer Beantwortung meiner kurzen Frage, wie sehr Sie das auch heute noch berührt und was für ein historisch wichtiges und bedeutsames Ereignis es ist. Insofern können wir eigentlich auch nur einige Punkte aus Ihrer sich ja in vielen Hinsichten interessanten Zeit bei Helmut Schmidt erörtern. Das wäre noch der damals ja herbeigeführte, im Parlament herbeigeführte Regierungswechsel 1982 im Oktober, Anfang Oktober, nach dem berühmt-berüchtigten Lambssdorf-Papier aus der FDP, es gab damals die sozialliberale Koalition, und Sie, Herr Bölling, Sie haben sich sehr unbeliebt gemacht seinerzeit bei den Freien Demokraten, …

    Bölling: Jetzt kommt’s!

    Burchardt: … mit Ihrem Buch, Sie haben Herrn Genscher als Verräter bezeichnet.

    Bölling: Nein, nein, nein, nein, nein, nein, das haben Sie nicht genau zitiert.

    Burchardt: Das war eine harte Interpretation Ihrer These, das räume ich ein, aber im Grunde läuft es darauf hinaus.

    Bölling: Nein, nein, nein, nein, nein. Ich habe wörtlich gesagt, er sei ein heilloser Advokat. Und vor drei, vier Jahren gab es hier in der Hauptstadt ein Gespräch mit dem langjährigen und sehr effizienten Außenminister – im Unterschied zu anderen, folgenden, womit ich natürlich den amtierenden …

    Burchardt: Sie meinen Herrn Westerwelle, klar.

    Bölling: Ich denke an Herrn Westerwelle, der könnte sich, kann sich hinter Genscher nur verstecken. Ich habe mich mit Herrn Genscher ausgesprochen und habe ihm gesagt, Herr Genscher, ich habe damals im Zorn geurteilt, das tut mir leid. Ich habe mich nicht förmlich entschuldigt, ich habe ihm nur gesagt, die Formulierung war hässlich, böse, aber ich habe sie im Furor geäußert. Entschuldigen Sie!

    Burchardt: Dieser erzwungene Regierungsaustritt der FDP-Minister war ja im Grunde genommen auch so etwas – zumindest wirkte es so auf viele politische Beobachter, auch gerade in Bonn, Herr Bölling – wie ein Komplott, gesteuert. Und vor diesem Hintergrund sollte man auch nicht ganz vergessen, das haben Sie fairerweise ja auch erwähnt, dass die Regierung Schmidt natürlich aufgrund der kritischen Erörterung eigener Parteifreunde zum NATO-Doppelbeschluss schon eigentlich das Vertrauen auf breiter Ebene zumindest dieser Apologeten verloren hatte. War da nichts mehr zu retten?

    Bölling: Nein, es war wohl nichts zu retten. Ich habe das übrigens in diesem Tagebuch, das damals natürlich auch allerhand Kritik gefunden hat, gesagt: Teile der SPD-Bundestagsfraktion waren ganz energisch oder sogar aggressiv gegen den Nachrüstungsbeschluss, und wenn Sie erlauben, will ich nur ganz kurz erläutern: Der Nachrüstungsbeschluss war ja nicht Ausdruck einer militanten Anti-Sowjetunion-Gesinnung des Sozialdemokraten Helmut Schmidt, sondern er hielt den Nachrüstungsbeschluss, nämlich die Stationierung amerikanischer Raketen auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland, für unabwendbar, weil die Sowjetunion sich in einem Rausch der Aufrüstung befand, und für die Bundesrepublik gefährliche Mittelstreckenraketen, die sogenannte legendäre SS20, stationieren wollte. Der Erfolg ist später von Gorbatschow bestätigt worden. Gorbatschow hat Schmidt gesagt – und auch in Gegenwart von Helmut Kohl –, die Entscheidung von Helmut Schmidt war die richtige, denn dann hat Breschnew doch eingelenkt. Aber wir hatten, ich sage wir, die Schmidtianer, wir hatten nicht mehr die Unterstützung der Linken in der Fraktion, und Herbert Wehner war schon ein ziemlich kranker Mann, er konnte also nicht mehr in der Funktion des berühmten Zuchtmeisters alle dazu bringen, hinter der Regierung zu stehen. Und dann eben gab es bei Herrn Genscher und bei Graf Lambsdorff die Ahnung: Der Schmidt verliert den Rückhalt in der SPD, und jetzt können wir doch miteinander mal reden, ob wir nicht besser zusammenpassen als FDP und SPD. Und dann gab es den berühmten Scheidungsbrief, auf den Sie angespielt haben, die Vorstellung von Graf Lambsdorff, entworfen war der Brief von dem späteren Bundesbankpräsidenten Tietmeyer und seinem auch ganz streng marktwirtschaftlich denkenden Staatssekretär Otto Schlecht.

    Burchardt: Den Helmut Schmidt sehr geschätzt hat.

    Bölling: Ja, er hatte auch Respekt vor Tietmeyer, das sind zwei erstklassige konservative Ökonomen gewesen. Aber was die FDP von uns verlangte, das hätte … zum Austritt von Helmut Schmidt aus der SPD, das hätte zu einer innerparteilichen Revolution geführt. Das war unmöglich. Manches davon wäre diskutabel gewesen, aber das wäre eine Bundesregierung mit Helmut Schmidt an der Spitze gewesen, die nur noch eine FDP-Politik gemacht hätte. Das konnten wir nicht mitmachen.

    ((Musikeinspielung))

    Sprecher: Das "Zeitzeugen"-Gespräch im Deutschlandfunk, heute mit Klaus Bölling. Idee Europa: Führungsfähigkeit in der Krise und die Zukunft des Kontinents.

    Burchardt: Herr Bölling, zum Abschluss unseres Gesprächs, die Zeit ist wie im Fluge vergangen, wenn man Ihnen zuhört, man könnte über 1000 Dinge noch sprechen, aber eines würde mich dann doch noch interessieren, und das ist ganz einfach: Wie beurteilen Sie aus Ihren Erfahrungen gesehen die augenblickliche Europapolitik der Bundesregierung, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Helmut Schmidt ja jemand gewesen ist, der Giscard d’Estaing, 1978 in Bremen ist es gewesen, das Europäische Währungssystem aus der Taufe gehoben hat, dass man dort alles in geordneten Bahnen organisiert hat und man jetzt den Eindruck haben muss, hier passt nichts mehr zueinander?

    Bölling: Vielleicht ist es eine kleine Übertreibung, aber Herr Burchardt, ich bin nicht sicher, dass Sie übertreiben, ich möchte Sie so verstanden wissen: Ich will jetzt doch mit Helmut Kohl – der, wenn er mich begrüßt, immer zu anderen Leuten guckte, das machen vielen Politiker, um zu zeigen, ich habe noch andere, die sehr viel wichtiger sind, dass ich Ihnen die Hand gebe – ich will mit Helmut Kohl sagen: Diese Regierung angeführt von der fraglos sehr, sehr klugen und politisch hochbegabten Angela Merkel hat Zweifel geweckt in Europa, ob wir noch so gute Europäer sind, wie wir alle Zeit von Adenauer über Kiesinger und Brandt und Schmidt und Kohl gewesen sind. Jetzt scheint sie das zu spüren, aber jetzt muss sie wirklich – vielleicht ist die Situation noch nie so ernst gewesen wie in diesen Tagen – zeigen, dass sie führen kann, dass sie weiß, welche riesenhafte Verantwortung, Herr Burchardt, wir als das ökonomisch stärkste Land in Europa gegenüber der Idee Europa … Schuman und Adenauer, Monnet, wir dürfen das nicht aufs Spiel setzen, aber wir müssen Solidarität beweisen, sonst sind wir in Europa plötzlich ganz alleine.

    Sprecher: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Rainer Burchardt im Gespräch mit Klaus Bölling.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.