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"Stiller"-Material

An den Theatern geht eine neue Seuche um: man will jetzt die ganze Spielzeit unter ein Motto stellen. In Karlsruhe etwa heißt es "Durchleuchtung", was offenbar eine Mischung aus östlicher Erleuchtung und westlichen dramaturgischen Röntgentechniken sein soll; religiöser Wahn und Kulturkonflikte sind dann die Themen der Stücke. In Basel heißt das Spielzeit-Motto "Identität" in allen Schattierungen und folgerichtig hat man jenen Roman aus der Schublade gezogen und dramatisiert, der vor genau 50 Jahren radikal nach den existentiellen Wahl-Möglichkeiten fragte: Stiller.

Von Christian Gampert | 23.09.2004
    Zeitlebens hat Max Frisch sich mit der Identität gequält. Wo Horváth noch flapsig sagte, er sei eigentlich ganz anders, aber er komme so selten dazu, da ist bei Frisch das Bedürfnis, ein ganz anderer, ein besserer zu sein, übermächtig – und das Sich-Fügen in die eigenen Beschränkungen und Vorbestimmtheiten äußerst schmerzvoll. Ich bin nicht Stiller! Und ein mäandernder Roman ist natürlich kein Bühnenstück. Und doch: am Basler Theater ereignet sich ein kleines Wunder. Denn auch in der Inszenierung wird die Ernsthaftigkeit sichtbar, mit der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gedacht und geschrieben wurde – und der Abstand, der zu den heutigen Lifestyle-Befindlichkeits-Dramatikern herrscht.

    Natürlich haben die Dramaturgin Andrea Schwieter und der Regisseur Lars-Ole Walburg den Roman eingedampft, gekürzt, dialogisiert, die Zweige beschnitten. Aber sie haben den Stiller und seine Weggefährten so konturiert ausgeleuchtet, dass die Aufführung als eigenständiges Kunstwerk bestehen kann. Zwar hat man manchmal den Eindruck, dieser Stiller leide mehr an der Schweiz als an sich selbst – aber das sind lokalpatriotisch bedingte Hasslieben und komische Einschübe, das muss wohl sein.

    Der erste Eindruck ist: Kafka! In den schräggestellten Bühnenboden hat der Bühnenbildner Hugo Gretler lauter Löcher, Gräben, Gräber, Zellen geschnitten, die absurde Welt der sauberen, verwalteten Schweizer Wohlanständigkeit. Dahinter hängt ein eisiges Alpenpanorama von Ferdinand Hodler – so hoch, dass man nie hinaufkommt. In diesen Kosmos kehrt der Amerikaner James Larkin White zurück, der vormals der Bildhauer Anatol Ludwig Stiller war, vor seiner Flucht. Jetzt sitzt er in Gewahrsam, erzählt Anekdoten aus Mexiko und dürstet nach Alkohol.

    Kann man vor sich selbst weglaufen? Sich neu entwerfen? Zum Zigarettenholen gehen und einfach nicht wiederkommen? Man kann nicht. Die Basler Aufführung zeigt den absurden Kriminalfall einer Selbstverleugnung – und damit es nicht ganz so weh tut, gibt es viel Heimatkolorit; die Glocken vom Fraumünster, Stillers Militärsachen in einer Kiste, Robert-Lembke-artige Was-bin-ich-Spielchen mit dialektalen Seitenhieben auf die aktuelle Schweizer Politik.

    Doch das Basler Ensemble ist grandios an diesem Abend; alle sind auf dem Punkt, vom kauzigen Gefängniswärter des Hans-Rudolf Twerenbold bis zur frischen Stiller-Geliebten der Susanne Abelein. Und die Aufführung steht - mit der Hauptfigur. Michael Neuenschwander ist der Typ des intelligenten Schauspielers, der seine Figuren von außen anguckt und sie dann unterspielt, ganz unaufdringlich und trotzdem ungeheuer präsent. Sein Stiller trägt zwar, das macht ihn ein bisschen lächerlich, einen Trainingsanzug in den Farben des FC Basel, aber er leidet beschämt an der Liebe, seinen Unfähigkeiten, seinem Ungenügen den Frauen gegenüber, mit denen er keine wirklichen Beziehungen eingehen kann.

    Du sollst dir kein Bild machen! Sagt, ganz biblisch, der Bild-hauer Stiller. Das Bild, die Festlegung verhindert die Liebe, die Überraschung, das Neue, den Rausch, das wahre Gefühl. Katja Reinke, die die von Stiller verlassene Ehefrau spielt, die tuberkulöse Ballett-Tänzerin, ist kongenial zerbrechlich und verständnisvoll, feder-artig leicht, und sie ist es, die den Selbst-Verleugner Stiller empathisch mit seiner wahren, etwas jammervollen, begrenzten Identität konfrontiert, im Gefängnis und in der Badewanne, beim Bootfahren und im Châlet.

    Die Basler Aufführung ist – trotz der kabaretthaften Einschübe - ein Kammerspiel, hoch konzentriert, ein ganz ernsthafte, gediegene, schöne Theaterarbeit, eine biographische Rekonstruktion. Sie evoziert die fünfziger Jahre, aber nicht nostalgisch, sondern als Existenzkampf. Der Regisseur Lars-Ole Walburg probiert im Laufe des Abends immer neue theatralische Formen aus – vom chorischen Sprechen bis zum Spiel mit dem alten Tonband, vom Verhör bis zur Beichte. Am Ende ist da nur ein Trümmerfeld, ein Tatort. Vielleicht waren sie ja so, die Beziehungskämpfe unserer Eltern – die heutigen sind großmäuliger und flacher.