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Stiller Weitblick

Seitdem auf dem Berliner Flughafen Tempelhof der Betrieb eingestellt wurde, erkennen immer mehr Bürger die Qualitäten der riesigen Fläche: Skaten, Radfahren, Tai-Chi oder in die Luft starren - alles ist plötzlich möglich.

Von Ingo Arend | 30.07.2010
    Dass die anfängliche Begeisterung nach dem spektakulären Event nicht abebbte, hat seinen Grund. Denn über dem Tempelhofer Feld ist der Himmel über Berlin nicht mehr bloß die sprichwörtliche Metapher. Sondern eine überwältigende Live-Erfahrung. Der monströse Kleiderbügel, den Ernst Sagebiel zu Beginn der 30er-Jahre den Nazis als Flughafen gebaut hatte, steht als graue Kulisse weit weg, am Rand. Hier herrscht nur noch Himmel, Horizont, soweit das Auge reicht. Das Tempelhofer Feld wirkt wie eine Installation von James Turrell in der Wüste von Arizona. Sie soll sehen lehren, was man in den Häuserschluchten Berlins nicht mehr wahrnimmt: Den Himmel, die Weite, das Firmament. Vergiss den Kiez, den Müll und den Tod. Hier locken 389 Hektar öffentliches Grün, mitten in der Stadt. Wie nimmt man so etwas an?

    Statt Rosinenbombern steigen hier nun Drachen und Modellflugzeuge in den Himmel über Berlin. Jeder Baum wird wie ein Geschichtsdenkmal bestaunt, jeder Funkturm wie der erratische Zeuge einer prähistorischen Vergangenheit. Immer wieder schreiten die Besucher den bröckelnden Asphalt mit den verblassenden gelben Richtungspfeilen ab. Jede zementierte Sackgasse verspricht Neuland und Geheimnis.

    Die Bezeichnung Park für das Gelände ist ein Euphemismus der Stadtverwaltung. Ein landschaftsplanerisches Konzept ist bis auf 50 Toiletten, 100 Papierkörbe, einen Biergarten und einen Aussichtsturm nicht zu erkennen. "Hier ist ja nichts los!" klagte das Boulevardblatt B.Z. kurz nach der Eröffnung. Aber das ist ja gerade das Schöne. Nichts und niemand gibt auf diesem Gelände eine Nutzung vor. Skaten, Radfahren, Spazierengehen, Tai-Chi, In die Luft starren. Das surreale Bewegungstheater auf der historischen Flachwiese ist die performative Aneignung eines mythischen Raumes und die Wiederentdeckung der Bewegungsfreiheit. In so einem undefinierten Gelände lassen sich eigene Zeichen setzen: Von der Meditationsskulptur bis zu den Rauchzeichen des Barbecue.

    Oder man kann sich einer Naturillusion hingeben: In der mannshohen Schafgarbe sitzen, den Grillen lauschen und die Sonne hinter den Kirchtürmen von Kreuzberg sinken sehen. Wenn nicht neben dem Picknickkorb ein rostiger Metallbolzen im Boden stecken und neben dem Sand-Vergissmeinnicht ein blätternder Hydrant stehen würde. Unmerklich verrottet hier alles, ist nur noch Erinnerung an Funktion: Wilder Holunder quillt aus dem aufgeschlitzten Rumpf eines Übungsflugzeugs: Der Kalte Krieg als Land-Art, Zeitgeschichte als Verfallsmasse. Hinter den Zäunen, die den alten Flughafen vom Park trennen, haben die Mode-Designer, die die Gebäude jetzt nutzen, die bunten Fahnen ihrer Fantasie-Nationen aufgezogen.

    Dass die Berliner nun ein Gelände besitzen, das größer ist als New Yorks Central Park, schmeichelt ihrem angeborenen Größenwahn. Doch was soll daraus werden? Die Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer will von dem Konzept Zwischennutzung lernen, das die Stadt seit 15 Jahren vor allem für Kreative so attraktiv gemacht hat. Bis die Bundesgartenschau 2017 auf dem Gelände blühende Landschaften installiert, dürfen Raumpioniere und Zwischennutzer Vorschläge für die künftige Nutzung des Feldes einreichen. Ob sie nur die nützlichen Idioten für die Investoren im Hintergrund spielen sollen oder ob es der Senatorin wirklich um "partizipatorische Stadtentwicklung" geht, wie sie sagt, ist noch nicht ausgemacht. Noch ist das Tempelhofer Feld ein exemplarischer Freiraum. Bislang hat die Erfahrung mit diesen urbanen Oasen aber vor allem eines gelehrt: Am Ende kommen die Stadtvillen.