Sonntag, 28. April 2024

Archiv


Stimmen des Nachwuchses

Archive. - Die Texte von Kindern sind Zeugen einer ganz eigenen Weltsicht. Sie zeigen die jeweilige Gegenwart unter einem für Erwachsene oft ungewohnten Blickwinkel. Im Archiv für Kindertexte an der Universität Halle werden Tausende von Texten für die Forschung und die Nachwelt aufbewahrt.

Von Michael Stang | 08.01.2009
    "Mein Bruder, der ist Grenzsoldat - und hält Wache für unsern Staat – und wenn die Zeit des Urlaubs ist - da freu ich mich, da freu ich mich – dann back ich einen Kuchen - den muss er gleich versuchen."

    Michael Ritter steht in einem kleinen Raum. In der Hand hält er einen dicken Ordner. Der rezitierte Text stammt wie alle hier gesammelten Texte von einem Kind.

    "Also, wir haben hier insgesamt circa 80.000 Texte und die ältesten Texte, die wir hier verfügbar haben, sind Texte, die um 1900 entstanden sind."

    Trotz ihrer großen Anzahl passen alle Texte in wenige Regale, sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter vom Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ritter:

    "Viele staunen erstmal immer, dass es so klein ist. Aber das liegt natürlich dran, dass Kindertexte eben nicht viel Platz brauchen."

    Aus den vergangenen 100 Jahren kann man hier Gedanken, Aufsätze, Gedichte, Träume und Wünsche von Kindern aus allem Epochen der deutschen Vergangenheit nachlesen. Viele Texte vermitteln unmittelbar die politische Situation der jungen Autoren, in denen sie sich befanden. Niederschriften von DDR-Pionieren finden sich ebenso hier wie Texte jüdischer Kinder aus dem KZ Theresienstadt oder Schriften von Gleichaltrigen, die die Nationalsozialisten verherrlichen. Ritter:

    "Natürlich ist das auch eine ganz normale Kindheit, aber es ist eine inszenierte Kriegskindheit, die da eben auch in diesen Texten vorgestellt wird."

    Die Sammlung gibt es seit neun Jahren. Die Schriftstellerin und Professorin Eva Maria Kohl gründete sie 2000 und betreut sie heute zusammen mit Michael Ritter. Der Zuwachs erfolgt nicht nur durch historische Texte, sondern vor allem durch heutige Schreibwettbewerbe oder Einsendungen vieler Lehrerinnen und Lehrer. Jährlich kommen so mehrere tausend neue Texte in die Sammlung. Ritter:

    "Die Idee war, einen Ort zu schaffen, wo Kindertexte aus allen nur erdenklichen Zusammenhängen, Zeiten - so, wie sie halt verfügbar sind - gesammelt und gesichert werden können."

    Die Sammlung soll eine Datenbasis sein, in der interdisziplinär geforscht werden können soll, wie und unter welchen Bedingungen Kinder das Lesen und Schreiben für sich entdecken können. Das Archiv bietet einzigartige Einblicke in die Schriftsprache der Kinder. Dass die Texte nur hundert Jahre zurückreichen liegt an dem Paradigmenwechsel im Rahmen der Deutsch-Didaktik von 1900. Bis dahin galt die Meinung, dass Kinder das Schreiben lernen, indem sie abschreiben, nachschreiben, auswendig Gelerntes aufschreiben oder nach Diktat schreiben. Ritter:

    "Eigene Gedanken wurden Kindern völlig abgesprochen, also da stehen dann solche Aussagen im Raum wie ‚Kinder unter 14 Jahren sind eigener Gedanken überhaupt nicht fähig, die sie geneigt wären, dem Papier anzuvertrauen‘."

    Erst mit der Reformpädagogik und Kunsterzieherbewegung änderte sich der Schriftsprachenerwerb. Freie Texte von Kindern entstanden. Von Lehrerinnen und Lehrern gesammelte Texte fanden später als Original, Kopie oder veröffentlichtes Schreibgut den Weg in das Kindertextarchiv. Vertreten sind dabei vor allem historisch-politisch wichtige Epochen. Michael Ritter betont, dass jede Auswahl - vor allem die der veröffentlichten Texte – jedoch immer nur ein Teil der Wahrheit ist.

    "Wir Erwachsenen, die wir diese Texte am Ende in eine bestimmte Ordnung bringen, konstruieren dort auch ein Bild von Kindheit, was sich in diesen Texten widerspiegelt."

    Das gilt vor allem für politisch motivierte Anthologien, etwa aus Schreibwettbewerben für Pioniere aus der DDR. In diesen Sammlungen sei die Wirklichkeit natürlich in positivem Licht dargestellt. Obschon viele naive Texte den Leser belustigen können, bedrücken andere ob ihrer Klarheit, wie der Satz eines Kindes aus Hiroshima von 1971: "Ich will nicht nichts sein."

    Eine besondere Teilsammlung holt Michael Ritter zum Schluss hervor. Eine Schenkung des Unesco-Instituts Hamburg. Die rund 3000 Texte stammen aus 27 Ländern. In dem Projekt des Kinderhilfswerks wurden Kinder aufgefordert, eine Skizze auszufüllen - unter anderem Pablo Picassos Ziege von 1946 - und eine Geschichte dazu zu schreiben. Ritter:

    "Und diese Texte wirken vor allem sehr schön optisch. Sie sehen jetzt relativ wenig. Es gibt zum Beispiel Texte aus Bangladesch, die sind auch sehr unterschiedlich ausgeführt."

    Die Kinder haben Picassos Ziege mit Pyramiden, Autos, Panzern oder dem blauen Meer verziert. Alle Bilder und Geschichten geben einen authentischen Einblick in die Gedanken, Wünsche, Träume, Ängste und Hoffnungen von Kindern aus der ganzen Welt, die sie aufs Papier gebracht haben. Michael Ritter:

    "Es sind Selbstzeugnisse der Kinder, es sind aber auch Zeugnisse von Kindheit in unterschiedlichsten Zusammenhängen."
    Michael Ritter im Archiv für Kindertexte der Universität Halle.
    Michael Ritter im Archiv für Kindertexte der Universität Halle. (Michael Stang)
    Bei dem UNICEF-Projekt sollten Kinder aus aller Welt u.a. Pablo Picassos Ziege (1946) ausmalen und eine Geschichte dazu erfinden.
    Bei dem Unicef-Projekt sollten Kinder aus aller Welt u.a. Pablo Picassos Ziege (1946) ausmalen und eine Geschichte dazu erfinden. (Michael Stang)