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Stimmung ist tief unter Null

Im Schatten des Gasstreits hat in der Ukraine der Wahlkampf für die Präsidentenwahlen im Januar 2010 begonnen. Die Erinnerung an die orangefarbene Revolution von 2004 ist längst verblasst, die Opposition in feindliche Lager zerfallen. Was sagen die ukrainischen Vordenker zur Gas-Krise? Stimmen von ukrainischen Intellektuellen und Schriftstellern zwischen Lemberg und Berlin.

Von Barbara Lehmann | 09.01.2009
    "Beide Seiten haben zu dem Konflikt beigetragen. Nicht nur eine Seite ist schuld. Es herrschten von Anfang an keine zivilen, offenen Spielregeln. Die Verträge über die Gaslieferungen waren nicht transparent und dienten den Interessen Dritter. Die Ukraine sollte in neuen Verträgen gerechte, kommerzielle Preise akzeptieren. Das wird unsere Unternehmen zwingen, unsere Wirtschaft zu modernisieren und konkurrenzfähig zu machen."

    Noch ist es warm in der Lemberger Jugendstilvilla des Künstlers Igor Podaltschak. In der letzten Woche wurde dort nur ein Mal kurz das Gas abgeschaltet. Riesige Gasspeicher in der Umgebung sichern bislang die Versorgung. Podaltschak kennt das politische Geschäft in Kiew aus unmittelbarer Nähe. Sieben Jahre lang organisierte der Avantgardekünstler Wahlkampfkampagnen für das konservative Lager. Er war auch als Imageberater für den von der orangenen Revolution gestürzten Präsidenten Kutschma tätig.

    "Die ukrainische Politik ist eine Sphäre der leeren Formen ohne Inhalt. Es gibt bei uns keine Ideologien, die Parteien haben keine Wirtschafts- oder Sozialpolitik. Ich sehe keinen besonderen Unterschied zwischen den Parteien. Außer vielleicht einem: Die Politiker in Janukowitschs 'Partei der Regionen' ähneln eher professionellen Managern, sie sind effektiver. Jedenfalls im Vergleich zu dem, was wir im Moment haben."

    Igor Podaltschak nimmt derzeit eine Auszeit vom politischen Geschäft. Von den bei den Wahlkämpfen verdienten Geldern - 800.000 Dollar - konnte er seinen ersten Film finanzieren. Darin setzt er das archetypische Modell einer inzestuösen, um einen asthmakranken Sohn kreisenden Familie in Szene. Der Film ist über mich, sagt Podaltschak, ich musste ihn machen. Seit der Premiere beim Rotterdamer Filmfestival vor einem Jahr lief der Film erfolgreich auf weiteren 21 internationalen Festivals.

    Doch im Schatten der Gaskrise hat bereits der Wahlkampf für die Präsidentenwahlen im Januar 2010 begonnen. Dazu der Schriftsteller Juri Andruchowytsch, der einst - im Gegensatz zu Podaltschak - den Sturz des alten Kutschma-Regimes und den Sieg der orangenen Revolution feierte:

    "Das größte Problem ist die ukrainische politische Klasse. Also die Leute, die unmittelbar die ukrainische Politik machen. Wir haben jetzt so etwas wie eine nächste Periode der Stagnation vor uns und das bedeutet eine immer tiefere gesellschaftliche Enttäuschung. Und die Ideen, die im Jahr 2004, also während der Revolution, so laut deklariert wurden, die sind alle heute schon irgendwie ironisch, bezweifelt - und das ist am Schlechtesten. Also der Zynismus und der Pessimismus kommen wieder."

    Kopfschüttelnd beobachtete Andruchowytsch, derzeit Stipendiat am Berliner Wissenschaftskolleg, in den letzten Wochen das wiederholte Zerbrechen der Koalition seiner einstigen Hoffnungsträger - Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko - und ihr erneutes Zusammengehen. Es war nur durch die Unterstützung eines ehemaligen Auftraggebers von Igor Podaltschak - Wolodimir Litwin, einst Leiter von Kutschmas Administration- möglich. Nun stellt der Gasstreit diese neu-alte "demokratische" Koalition vor die erste Bewährungsprobe. Juri Andruchowytsch:

    "Ich habe ein bisschen Angst vor diesen Entwicklungen. Dass die Menschen von diesen materiellen Seiten so ermüdet sind, und innerlich völlig erschöpft. Sie haben einfach keine Geduld mehr, sie können alle Entwicklungen begrüßen, die ein bisschen mehr Ordnung in diese chaotische Situation bringen. Es geht auch um die nicht völlig unmögliche Perspektive, dass dann irgendwelche Form von der Diktatur auf die Tagesordnung kommt. Eine starke Hand, die mehr Ordnung bringt."

    Im Gegensatz zu Andruchowytsch hatte Igor Podaltschak nie Illusionen. Angesichts der jetzigen Gaskrise findet er sogar Worte des Lobes für die derzeitige Führung, die aus den ewigen Streithähnen Timoschenko und Juschtschenko kurzfristig Verbündete machte:

    "Die Premierministerin und der Präsident der Ukraine haben im Gasstreit endlich zu einer gemeinsamen Position gefunden. Sie lassen sich nicht von Russland erpressen und verhalten sich richtig in Bezug auf Europa, Es wäre gut, wenn die EU als dritte Seite bei den künftigen Verträgen zwischen der Ukraine und Russland mitwirken würde. So könnten wir endlich ein transparentes Schema für den Transit des Gases bekommen."