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Stolz auf die Tiroler Tracht

Seit 1859 bewohnen Auswanderer aus Bayern und Tirol eine Kolonie an der Ostflanke der peruanischen Anden. In dem Dorf Pozuzo ist vieles im deutschen Stil errichtet. Und auch die Nachfahren pflegen die Tradition.

Von Tom Noga |
    "Wir gehen immer so daher, dass wir zuerst die Tiroler Tracht zeigen. Und dann haben wir noch zwei Nähmaschinen. Und das sind die Spinnräder, mit denen sie die Baumwolle, die sie hier angepflanzt haben, gesponnen haben. Und dann haben sie eine Webe gehabt, mit der Stoff hergestellt haben. Und so haben sie Kleidung machen können."

    Neben den Spinnrädern das sogenannte Pozuziner Bett: ein Leinensack, gefüllt mit Stroh, getrockneten Blattscheiden der Maispflanze. Eva Solleder dreht sich um, eine kleine, stämmige Frau, mit krausen kurzen Haaren. Sie trägt ein schlichtes, gerade geschnittenes Kleid, wie es in Deutschland bis in die 1970er-Jahre bei Damen ungewissen Alters üblich war.

    "Der Öllichtkegel, aber da haben sie kein Öl genommen, sondern sie haben entweder Kerosin genommen oder Fett, Schweinefett. Das ist der erste Fotoapparat, den wir in Pozuzo gehabt haben. Den hat der Pfarrer Ipfelkofer aus Deutschland gebracht. Und das war seine Schreibmaschine."

    Eva Solleder führt durch ein typisches Heimatmuseum in einem für die Alpenregion typischen Holzhaus. Nur befindet sich dieses Museum nicht in den Bergen Bayerns oder Tirols, sondern in Pozuzo, einem Dorf im Nebelwald Perus. Vor 160 Jahren, erzählt sie, fasste die Regierung des südamerikanischen Landes den kühnen Plan, einen neuen Handelsweg nach Europa zu erschließen. Statt um das sturmgeplagte Kap Hoorn im Süden des Subkontinents sollten Waren per Eisenbahn über die Anden ins Amazonasgebiet transportiert werden und von dort mit dem Schiff über den Atlantik nach Europa. Der Plan ist nie realisiert worden, doch um den weitgehend menschenleeren Urwald an der Ostflanke der Anden zu besiedeln, warb Peru in Europa Bauern an. Und so machten sich im Frühjahr 1857 300 Rheinländer und Tiroler auf den Weg.

    Eva Solleder wendet sich einer Landkarte zu, darauf ist die Reiseroute der Siedler markiert: nach Antwerpen, über den Atlantik, um Kap Hoorn in den Pazifik und hinauf bis nach Huacho, eine Hafenstadt nördlich von Lima. Sie legt eine Kunstpause ein: Das war der unstrapaziöse Teil der Reise.

    "Und von Huacho sind sie auf einem Mulipfad bis Cerro de Pasco gegangen, das ist die Minenstadt. 4200 Meter hoch. Von hier sollte die peruanische Regierung den Weg gebaut haben, aber es gab nur einen Teil vom Weg bis Acobamba. Von Acobamba bis Pozuzo mussten sie den Weg selbst bauen – das dauerte noch zwei Jahre, bis sie in Pozuzo angekommen sind."

    176 der ursprünglich 300 Auswanderer haben es bis Pozuzo geschafft –1868 folgte eine zweite, 200 Personen starke Siedlergruppe, vorwiegend Tiroler, ergänzt um ein Dutzend Bayern. Danach kamen nur noch katholische Priester.

    Eva Solleder verriegelt die Tür des Museums. Nicht, dass es nötig wäre, Kriminalität ist in Pozuzo nahezu unbekannt, die meist Menschen lassen ihre Häuser unverschlossen. Auf den ersten Blick unterscheidet sich Pozuzo kaum von anderen Dörfern in Peru. Das Städtchen wird von einer Kirche im Missionsstil dominiert, das Zentrum gruppiert sich um einen zentralen Platz, die Plaza de Armas - alles wirkt aufgeräumt und vergleichsweise wohlhabend. Nur die weiß gekälkten Häuser mit den hölzernen Dachfirsten und den umlaufenden Balkonen passen nicht recht ins Bild. Ein Hauch von Alpenland in den Anden.

    Eva Solleder winkt ein Motokar heran, eine Art Motorrad-Rikscha.

    Die Fahrt zum anderen Ufer des Río Huancabamba, zu Agustín Egg. Theoretisch ginge es auch zu Fuß, über die Kaiser-Wilhelm-Brücke und dann den Hügel hinauf. Aber es hat geregnet, ziemlich heftig sogar. Und der Pfad ist voller Matsch.

    Am Ortsausgang endet die asphaltierte Straße. Weiter geht es über eine schrundige Piste. Sie windet sich durch ein enges Tal, gerahmt von sanft geschwungenen, grünen Hügeln. Die Brücke über den Río Huancabamba ist ein abenteuerliches Konstrukt aus rissigem Holz. Ein Blick hinab? Besser nicht, denn unten tosen bräunliche Wassermassen.

    Agustín Egg ist die graue Eminenz von Pozuzo. Er lächelt huldvoll, die Bezeichnung schmeichelt ihm.

    "Ich habe alle führenden Posten im Dorf: vom Kirchenrat, Bürgermeister, Gobernador, Friedensrichter."

    Agustín Egg misst über 1,90, er blickt aus blauen Augen in die Welt, Haare und Vollbart sind schlohweiß. Don Agustín ist 77, Bürgermeister war er sogar zweimal. Er lebt auf seiner chacra, seinem Bauernhof in den Bergen oberhalb von Pozuzo, umgeben von üppigem Grün, von riesigen Palmen, mannshohen Bananenstauden und árboles paraguas, deren Kronen sich ausbreiten wie ein Regenschirm. In seinem Haus gibt es weder Strom noch fließendes Wasser, ein Auto hat er auch nicht, nicht einmal ein Motorrad. Das ist eine bewusste Entscheidung, Don Agustín will leben wie die ursprünglichen Siedler. Wie sie baut er auf seiner chacra Mais, Kaffee und Tabak an, wie sie hat er es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Wenn nur die Abgeschiedenheit nicht wäre. Bis zu seiner ersten Amtszeit Anfang der 1970er-Jahre gab es keinen niedergelassenen Arzt in Pozuzo und keine weiterführende Schule.

    "Du musst reisen, oft wochenlang. Eine Reise nach Lima in dieser Zeit hat zehn Tage gekostet. Du hattest zwei Tage Fußmarsch, dann warst du in Oxapampa, von Oxapampa nach Lima noch ein Tag – da hast du schon drei Tage. Dann machst du in Lima deine Sachen. Wenn's dir gut gegangen ist, hast du das alles in einer Woche geschafft."

    Die Anreise nach Pozuzo ist auch heute noch strapaziös. Sie führt über den 4800 Meter hohen Ticlio-Pass, eine der höchsten Andenüberquerungen Südamerikas. Zwölf Stunden braucht der Nachtbus von Lima in die Provinzstadt Oxapampa. Die restliche Strecke, etwas mehr als 80 Kilometer, wird per Micro zurückgelegt. Vier Stunden quälen sich diese Minibusse über eine unbefestigte, einspurige Straße, die sich in schwindelerregender Höhe am Ufer des Río Huancabamba entlang schlängelt, reißende Gebirgsbäche quert und unter tosenden Wasserfällen hindurch führt. In der Regenzeit von November bis März ist sie oft unpassierbar, immer wieder brechen Teile der Fahrbahn ab oder werden von Erdrutschen verschüttet.

    Die Straße haben die Pozuziner selbst gebaut, organisiert vom Bürgermeister, von Don Agustín. Und damit endete die fast einhundertjährige Isolation des Andendorfs. Wobei die Welt im Grunde schon zwei Jahrzehnte zuvor in Pozuzo angeklopft hat, in Person von Karl Schmid-Tannwald. In seinem Buch "Pozuzo – vergessen im Urwald" schilderte der schwäbische Abenteurer und Autor, wie die Siedler ihre Muttersprache und ihre Traditionen bewahren. Mit dem Buch wurde Pozuzo in der alten Heimat wiederentdeckt. Freundschaftsvereine sind entstanden, in Deutschland und Österreich. Mit deren Spenden wurden Schulen gebaut, ein modernes Krankenhaus, dem es allerdings an Ärzten fehlt. Und ein Kulturzentrum, in dem Kinder, wie es hier hießt, typische Tänze lernen: die Polka, der Walzer oder Ländler.

    Über die Jahre haben Touristen das Dorf entdeckt. Viele Pozuziner vermieten Zimmer – doch immer wieder machen angekündigte Besucher einen Rückzieher, wenn sie die Straße zwischen Oxapampa und Pozuzo sehen. Wer bis Pozuzo durchkommt, landet unwillkürlich im "Tiroler Adler – el típico pozucino"

    Auf der überdachten Terrasse surren Ventilaorten gegen die Hitze an, aus der Musikanlage ertönt Volksmusik. Der Gasthof ist das erste Haus am Platz und der Name Programm, sagt Andrés Egg, ein verschmitzter Mann mit kantigem Gesicht und Habichtnase.

    "Típico, das ist wegen dem typischen Essen in unserem Gasthaus, das wir typisch für die Österreicher haben, wie das Gulasch, das Wiener Schnitzel, die Karbonade und solche Sachen. Und wir haben auch unser eigenes Essen, das typisch für Pozuzo ist, wie sagt man denn, cecina, und solche Sachen."

    Der Tiroler Adler ist Pozuzos einziger Gasthof, sieht man von ein paar Spelunken ab. Und von der Mikrobrauerei von Andrés Neffen Enzo. Aber dort, sagt Andrés Egg, trifft sich die Jugend. Die Älteren kommen zu ihm, vor allem sonntags nach der Kirche. Das ist Tradition, hebt er hervor. Und mit Traditionen versteht Andrés Egg keinen Spaß. Das bekam auch sein Onkel Agustín, der Bürgermeister, zu spüren, als er gegen die sprachlichen Sitten verstieß. Jedenfalls in Andrés Augen.

    "Statt zu sagen Kolonie, wollten sie den Namen ändern, in Zentrum. Zentrum von Pozuzo. Da habe ich zum Agustín gesagt: Das dürfen wir nicht zulassen, das sie uns den Namen wegnehmen, das hier muss immer Kolonie heißen. da hat er gesagt: Wir sind doch keine Kolonie, nicht von Österreich und nicht von den Deutschen."

    Also hat Andrés seinem Onkel mit allem gebotenen Respekt erklärt, was es mit dem Begriff auf sich hat. Kaum angekommen, haben sich die Siedler nämlich getrennt. Die Rheinländer haben sich weiter südlich angesiedelt und ihren Ortsteil Prusia genant, Preußen, mit eigener Kirche, eigener Schule und zeitweise auch eigenem Bürgermeister. Bayern und Tiroler sind im heutigen Zentrum Pozuzos geblieben – in der ursprünglichen Kolonie. Der Gegensatz zwischen Kolonisten und Preußen, erzählt Andrés, hat bis in die Jugend seiner Kinder fortgelebt. Fußballspiele zwischen den jeweiligen Schulmannschaften arteten in wüstes Getrete aus. Und wer als junger Mann um ein Mädchen aus dem anderen Ortsteil buhlte, riskierte, verprügelt zu werden.

    Das Essen kommt, cecina, geräuchertes Schweinfleisch mit Yucca und gebratener Banane, serviert von Odilia, Andrés jüngster Tochter. Odilia spricht kaum noch Deutsch – wie die meisten aus ihrer Generation. Verheiratet ist sie mit einem Preußen. Aber auch bei den Älteren sind die Gegensätze längst verwischt. Hans Witting etwa, der Akkordeonspieler der Trachtenkapelle Los Tirolenses, die Tiroler, lebt seit über zehn Jahren in Prusia, die Familie Schmidt – Nachfahren von Rheinländern und Betreiber der Pizzeria "Bei Wolfgang" – ebenso lange in der Kolonie.

    Andrés Egg blickt sich um. Der Tiroler Adler ist gut besucht, die meisten Gäste aber sind weder blond, noch haben sie blaue Augen. Am Nebentisch sitzt die Lehrerin Lili Milagros. Die junge Frau mit der wilden schwarzen Mähne und den strahlenden braunen Augen kommt aus Yanahuanca, einem Dorf in der Nähe. Sie unterrichtet am Gymnasium in der Kolonie, lebt aber in Prusia. Multikulti auf Pozuziner Art. Lili Milagros liebt den Tanz, vor allem die alten Tänze der Siedler, den Walzer, die Polka, den Ländler.

    "Diese Tänze müssen erhalten werden. Die meisten habe ich schon als kleines Mädchen getanzt, andere erst durch Videos kennengelernt."

    Und so war sie Feuer und Flamme als Eva Solleder ihr vor ein paar Monaten anbot, den Tanzunterricht für die Kinder zu leiten. Mehr als die Hälfte der Jungen und Mädchen in ihrer Gruppe sind nicht deutschstämmig. Auch Andrés Egg gefällt dieses harmonische Miteinander. Vor ein paar Jahren waren er auf Einladung eines Freundschaftsvereins in Tirol, der Heimat seiner Vorfahren. Schön war's, er wurde eingeladen, herumgereicht, hofiert. Aber nach zwei Monaten in der alten Welt bekam er Heimweh.

    "Ich fühle mich nirgends so wohl, wie in Pozuzo: Pozuzo hat die schlechten Sachen und die schönen Sachen, wenn einer krank ist, es richtig regnen tut und die Ärzte nicht kommen. Aber wir haben auch unsere schönen Seiten, zum Beispiel unser Gästehaus, wo die Leute herkommen. Und ich kann ein bisschen erzählen. Hier in Pozuzo bin ich etwas, aber in Österreich bin ich ein Niemand."