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Stolz, Ehre, Scham

Ganze Gesellschaftsordnungen sind auf diese Schlüsselbegriffe aufgebaut. Aber im Abendland verlieren sie an Bedeutung oder sind in positives Recht übergegangen. Die Rede ist von "Stolz, Ehre und Scham". Mit der Globalisierung und Konfrontation der Kulturen ist der Umgang mit solchen Begriffen problematisch geworden. Wie soll man etwa auf Ehrenmorde reagieren?

Von Robert Schurz | 09.11.2008
    Regelmäßig liest man in deutschen Tageszeitungen über Familiendramen, die sich bei unseren Mitbürgern aus dem nahen und mittleren Osten abspielen. Da bringt zum Beispiel ein türkischer Vater seine Tochter um, weil sie sich weigert, jenen Mann zu heiraten, der ihr seit ihrem dreizehnten Lebensjahr zugedacht war, und mit einem anderen durchgebrannt ist. Das Motiv des Vaters: Er musste die Ehre der Familie schützen. Und wenn es nicht der Vater war, dann sind es häufig die Brüder, die für den guten Ruf der Familie ihre eigenen Zukunftsaussichten aufs Spiel setzen.

    Der mitteleuropäische Durchschnittsbürger steht solchen Taten hilflos bis wütend gegenüber: Er ahnt, dass es sich hier nicht um eine Untat im herkömmlichen Sinne handelt. Und er weiß aber auch: Mord ist und bleibt ein Verbrechen, dass nicht zu rechtfertigen ist, auch wenn er das Motiv des Familienzusammenhalts vielleicht in einem hinteren Winkel seiner Seele nachvollziehen kann, aber eben nur in einem hinteren Winkel. Gewiss wird er sich fragen, wie man nur so religiös verbohrt und fanatisch sein kann, auf einer fiktiven Würde der Familie zu beharren, einem Popanz, einer Schimäre, zumal man sich für die Ehre und Würde ohnehin kaum etwas kaufen kann.

    Für das europäische Rechtswesen wären solche Fälle eher unproblematisch, wenn es sich um eine Tat im Affekt handeln würde, um das rohe Walten blinder und ungezähmter Gefühle. Dem ist aber nicht so; vielmehr handelt es sich in der Regel um einen kalten und klaren Entschluss zur Tat. Der Vater hasst ja die Tochter nicht, die er zum Tode verurteilt, es tut ihm sogar in der Seele weh und er wird möglicherweise nach der Bluttat seines Lebens nicht mehr froh. Das positive Recht, wie es in der Bundesrepublik ausgeübt wird, steht hier bei der Strafzumessung vor einem kaum zu lösenden Problem: Weder ist es ein Mord aus niedrigen Beweggründen, denn wer würde schon die Familienehre als niedrigen Beweggrund definieren wollen, noch ist es ein Mord im Affekt, aber auch kein Totschlag geschweige denn eine Verteidigungshandlung. Zudem handelt es sich - trotz allen Fanatismus - streng genommen nicht um eine Tat, die einem religiösen Gebot folgt, denn nirgendwo fordert der Koran Väter auf, ihre Töchter wegen Ungehorsam umzubringen. Es bleibt dabei: Das innere Gesetz, nach dem solche Täter handeln, bleibt für die europäische Rechtssprechung eine immense Herausforderung.

    Doch die Verteidigung der Familienehre muss nicht gleich mit einem Mordanschlag enden, wie wir seit der folgenreichen Entgleisung des Fußballstars Zinedine Zidane während des Finales um die Fußballweltmeisterschaft 2006 wissen. Jener aus Algerien stammende Kopf der Equipe tricolore hatte bis zu jener Szene in der Verlängerung ein fabelhaftes Spiel gegen die Squadra azzurra hingelegt. Doch der begnadete Millionenkicker galt nicht nur als balltechnischer Virtuose, sondern auch ein wenig als leicht reizbarer Hitzkopf, der häufiger gelbe und rote Karten einstecken musste. Sein gewiefter italienischer Gegenspieler, vor dem Turnier nur ein wenig bekannter Reservist, wusste um die großen Stärken, aber auch um die kleinen Schwächen seines überlegenen Pendant. Also suchte jener Marco Materazzi seine Chance auf andere Weise als im körperlichen Duell: Er wollte seinen gläubigen Gegner verbal treffen, in dem er dessen Schwester als Prostituierte beschimpfte. Fast eine Milliarde Zuschauer wurden live via Bildschirm Zeuge, wie der in seiner Ehre gekränkte Supersportler gleichsam zum Stier mutierte, den den Kopf senkte und diesen in die Brust des Verleumders rammte, der, theatralisch durchaus gekonnt mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden fiel.

    Was folgte, durfte man mit Fug und Recht eine französische Tragödie nennen: Zidane wurde des Feldes verwiesen, die sogenannte Equipe Tricolore verlor ihren Genius, so dass ihr beim abschließenden Elfmeterschießen der sicherste Strafstoßschütze fehlte. So wurde die Defensivmacht Italien auch wegen Zidanes verletzter Familienehre Weltmeister .
    Zidane galt als Vorbild, insbesondere bei den Jugendlichen in den Vororten großer französischer Städte, die gerade in den letzten Jahren der Grande Nation viele Probleme bereitet hatten. Und nun hatte er auf eine hässliche Weise aller Welt demonstriert, dass Gewalt für ihn ein Mittel sein kann, um sein gefühltes persönliches Recht zu schützen, dass die Ehre ihm mehr gilt als das Gesetz in Gestalt des Fußball-Regelwerks. Er setzte den Sieg der Mannschaft und seinen guten Ruf aufs Spiel für eine letztlendlich symbolische Geste.

    Es war also auch eine Begegnung zweier Rechtsauffassungen: der Italiener Materazzi bewegte sich, schurkenhaft durchtrieben wie auch immer, innerhalb des Regelwerks und sei es auch nur deshalb, weil seine Beleidigungen nicht von Dritten zu hören waren. Der Orientale hingegen durchbrach die Regel, weil er einem inneren und vielleicht
    auch edlen Gesetz der Ehre folgte. Die Reaktion des Abendlandes war wiederum durchaus ambivalent aber man fand schnell eine Lösung, die dem antiker Drama entnommen wurde: Zidane war ein tragischer Held. Der tragische Held geht nämlich ins Verderben, weil er dem Schicksal folgen muss, das über ihn verhängt ist. Er tut eigentlich Gutes, aber dieses Gute bringt Übel und Tod. Der tragische Held der Antike ist ein blinder Idealist und kennt die Selbstverleugnung des listigen Odysseus noch nicht. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der tragische Held Strömungen des aufkommenden Abendlandes mit denen orientalischer Tradition vereint.

    Was nun Odysseus näher betrifft, so haben an dieser Figur dereinst Adorno und Horkheimer, die Denkvorbilder der sogenannten achtundsechziger Bewegung, die Dialektik der Aufklärung verdeutlicht. Der listige Odysseus überlebt, indem er jeden Stolz ablegt und keine Scham kennt. Die Schlüsselszene ist die, da Odysseus dem Riesen Polyphem weismacht, er sei Niemand. Er verleugnet seinen Namen, seinen Ruf. Er meint zu wissen: Namen sind Schall und Rauch. Seine Ehre ist ihm egal in dem Moment, da er sich Vorteile davon verspricht, niemand zu sein.

    Das nun ist der Gipfel der Selbstverleugnung: wenn man niemand ist, dann hat man auch nicht einen guten Ruf, geschweige denn die Ehre oder Würde zu verlieren. Freilich: mit Hilfe dieser Selbstverleugnung überlebt Odysseus und ist dem Riesengeschlecht aus der Vorzeit überlegen.

    Für uns Mitteleuropäer ist es inzwischen erstaunlich, wenn jemand dem Namen oder dem bloßen Wort eine größere Bedeutung zumisst. Zwar kennt man auch in unseren Breitengraden den Tatbestand der Beleidigung, aber das wird juristisch allenfalls als Kavaliersdelikt behandelt. Es gilt als primitiv bis unzivilisiert, sich von einem bloßen Wort so aus der Fassung bringen zu lassen.

    Beide, der mörderische Türkenvater wie der kopfstoßende Fußballstar, haben indessen nach dem gehandelt, was der Philosoph Georg Friedrich Hegel das Gesetz des Herzens nannte.

    "Das Individuum vollbringt also das Gesetz seines Herzens; es wird allgemeine Ordnung. Aber in dieser Verwirklichung ist es ihm in der Tat entflohen; das Gesetz des Herzens hört eben durch die Verwirklichung auf, Gesetz des Herzens zu sein. Denn es erhält darin die allgemeine Macht, für welche dieses Herz gleichgültig ist, so dass das Individuum seine eigene Ordnung dadurch, dass es sie aufstellt, nicht mehr als die seinige findet. Das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit geht darum in das Toben des verrückten Eigendünkels über. Was öffentliche Ordnung scheint, ist also diese allgemeine Befehdung, worin jeder einzelne an sich reißt, was er kann."

    Ein Gesetz des Herzens kann nie zur allgemeinen Ordnung werden, denn in dem Moment, wo es allgemeine Gültigkeit beansprucht, wird es zum nackten Terror. Das sogenannte natürliche Rechtsempfinden ist der Zivilisation anscheinend entgegengesetzt. Die Tat des Familienvater beansprucht deshalb auch kein Recht, sondern ist auf Ehre gegründet, der Hegel als Befindlichkeit des Herzens keine Bedeutung zumisst. Mehr noch: Mit der Verwirklichung der Vernunft durch das positive Recht müssen Ehre und das Gesetz des Herzens notwendig verschwinden.

    Dieses Gesetz des Herzens steht anderseits aber am Ursprung der Zivilisation. In der Heiligen Schrift kommt mit der Vertreibung aus dem Paradies, also mit dem Beginn der menschlichen Kultur, die Scham in die Welt. Adam und Eva, da sie Äpfel vom Baum der Erkenntnis gegessen und dadurch ein Gespür für gut und böse haben, erkennen sich in ihrer Nacktheit und schämen sich.

    Ab diesem Zeitpunkt verlassen sie den Status der Unschuld, in dem sie unmittelbar an Gottes Sicht der Dinge teilhaben, denn Gottes Sicht der Dinge ist diesseits aller Moral. Dafür beginnt das Gesetz des Herzens in ihnen zu wirken. Adam und Eva bedecken ihre Blöße: Das ist die Scham. Kurze Zeit später ist in der christlichen Schöpfungsmythologie vom Stolz die Rede. Kain fühlt sich in seiner Ehre gekränkt, da sein Opfer von Gott nicht angenommen wird. Aus verletztem Stolz begeht er den ersten Mord in der Menschheitsgeschichte, ein verzweifelter Akt, da er nach dem Gesetz seines Herzens handelte.

    Damit wird die Angelegenheit komplex: Kain ist nicht nur der erste stolze Mensch, sondern zugleich auch der erste Mörder. In dieser Spannung wählt das Christentum die Demut, den Verzicht auf Stolz. Kain wird zum Bösewicht. Gut hingegen ist der, der sich beugen kann, der sich demütig zeigt und sich alle Beleidigungen und Beschimpfungen gefallen lässt. Die andere Backe, die der Christ im Falle eine Ohrfeige hinhalten soll, ist eine klare Absage an jede trotzige Würde. Jesus selbst lehrt Demut und Gehorsam: Nie zeigt er Stolz oder Scham, noch ist für ihn seine persönliche Ehre von Relevanz.

    In der christlich-abendländische Tradition, in der Jesus und Odysseus das Prinzip der Selbstverleugnung darstellen, gibt es aber auch eine Bewunderung gegenüber den edlen und ehrenhaften Helden. So stellt der Ritter im christlichen Mittelalter, der mit Flamme und Schwert die Ehre Gottes aber auch seine eigene verteidigt, durchaus einen Gegenentwurf zu Jesus dar. Streng genommen ist das christliche Rittertum ein Selbstwiderspruch: die Ehre, die dem Ritter heilig ist, und für die er, im Falle einer Kränkung sogar einen Krieg beginnt, entspricht nicht den christlichen Standards: schimpft man etwa den kühnen Recken Hildebrant einen feigen Hund, so hätte dieser, gemäß seines Glaubensbekenntnisses eigentlich die Augen zu senken und sich in Demut ergeben. Stattdessen erschlägt er, ganz unchristlich, den Beleidiger. Die edlen Ritter werden bewundert, wie etwa auch Zidane, aber durchgesetzt hat sich ein anderer Typus.

    "Die Augen aller Apachen schauen jetzt auf Winnetou, um zu sehen, wie er den Tod seines Vaters und seiner Schwester rächen wird. Mein Bruder Old Shatterhand mag hören, was ich hier bei diesen beiden Leichen gelobe!" Er stand stolz und hoch aufgerichtet vor mir, ein Mann, der sich trotz seiner Jugend als König all der Seinen fühlte. Ja, er war der Mann dazu, das auszuführen."

    Karl Mays Winnetou, das Musterbeispiel eines stolzen Indianers, hier in einer Szene aus "Winnetou I" , da er gerade Rache gegen alle weißen Männer schwören will. Die Beschreibung Winnetous entspricht dem Bild des edlen Ritters, der eigentlich unchristlich handelt. Winnetou kennt das Gesetz des Herzens, den Stolz und die Ehre. Karl May bedient sich bei dieser Figur durchaus eines kollektiven Mythos vom edlen Wilden. Dessen Stolz wird schon seit der europäischen Aufklärung bewundert und stilisiert. Herder hat dereinst einem stolzen Negerhäuptling ein Denkmal gesetzt und später berichtet ein westeuropäischer Forschungsreisender und Entdecker bewundernd und kopfschüttelnd zugleich über das Ehrgefühl der Cheyenne, das sie in den Untergang getrieben hätte. Diese edlen Indianer pflegten angeblich im Kampf eine eigenartige Sitte: Sie töteten ihre Gegner nicht, sondern schlugen sie mit Stöcken, um sie zu demütigen. So einen Stockschlag nimmt natürlich eine weißer Soldat vernünftig und souverän mit einem Lachen an und schießt dann mit seiner Flinte. So ist auch der weiße Held Old Shatterhand gewissermaßen freier als die Indianer, denn was ihn von seinem Blutsbruder Winnetou unterscheidet, ist das Ehrgefühl. Der Stolz des Apachen-Häuptlings, so sehr er Bewunderung hervorruft, verleitet auch zur Unvernunft.

    "Sprich nicht weiter!" unterbrach ich ihn abermals. "Will Old Shatterhand mich hindern, meine Pflicht zu tun? Sollen die alten Weiber mich anspucken, weil ich nicht den Mut besitze, das zu rächen, was heute hier geschehen ist?" Ihm, ihm wäre es gewiss gelungen, die Krieger aller roten Nationen unter sich zu versammeln und mit den Weißen eine Riesenkampf zu beginnen, einen Verzweiflungskampf, dessen Ende zwar kein zweifelhaftes sein konnte, der aber den wilden Westen mit Hunderttausenden von Opfern bedecken musste.

    So wird Winnetou in seinem Stolz fast zu einem Märtyrer, hätte ihn sein Blutsbruder nicht von dieser Unbesonnenheit abgehalten. Der Stolz fragt nicht nach den Konsequenzen, die Vernunft eines Old Shatterhand sehr wohl. Außerdem macht der Stolz den Indianer auch verwundbarer. In bestimmten Situationen handelt er nicht souverän, denn er kann gewisse Beleidigungen nicht hinnehmen, muss in bestimmter Weise reagieren und ist daher für den Feind berechenbar. Wenn er angespuckt wird, muss er das Messer ziehen. Ganz anders, der europäische Held Old Shatterhand: Er kann sich verstellen wie Odysseus, kann seine Überlegenheit ausspielen, indem er sich nicht zu Unbedachtheiten hinreißen lässt. Wird er angespuckt, kann er ruhig bleiben und dadurch die anderen täuschen, die ihn für einen Feigling halten.

    Old Shatterhand ist letztlich Winnetou überlegen, obwohl er dessen Stolz und Würde bewundert, denn der Mitteleuropäer kann wie Odysseus sich selbst verleugnen, selbst vor Winnetou. Etwa in der Szene, noch vor der Blutsbrüderschaft, als Old Shatterhand zu einem Zweikampf mit Winnetous Vater gefordert wird und vortäuscht, sich zu fürchten.

    "Es ging ein unendlich verächtliches Lächeln über Winnetous Gesicht. Es ließ sich hinter mir ein allgemeines Murren der Geringschätzung hören, ein sicheres Zeichen, dass ich meinen Zweck erreicht hatte. Er hatte die Oberlippe emporgezogen, so dass man seine Zähne sah. Er war sichtlich wütend darüber, mir jemals sein Teilnahme geschenkt zu haben. Und seine Schwester hielt die Augen niedergeschlagen; sie sah mich gar nicht mehr an. "Gebt diesen Frosch frei! Schenkt ihm das Leben! An einen solchen Feigling darf kein Krieger seine Hand legen." Mit dem grimmigen Knurren eines erzürnten Tigers schrie mich Intschu tschuna an. Ich warf wie hilflos die Arme auseinander, stieß einen durchdringenden Angstschrei aus und plumpste in das Wasser. Im nächsten Augenblick aber hatte die Verstellung ein Ende."
    Ohne Würde, aber erfolgreich: Wäre das ein Titel für die abendländische Kultur? Vom Sündenfall über Odysseus, Old Shatterhand, Zinedine Zidane bis zu unserer Gegenwart der Ehrenmorde zieht sich diese grundlegende Ambivalenz, die sich um die Begriffe von Stolz, Ehre, Würde und Scham gruppiert. Hoch aktuell ist dies zudem in der laufenden Konfrontation zwischen westlicher Kultur und dem sogenannten Funda-mentalismus, der sich auf den Islam beruft.

    Die Attentäter des 11. Septembers waren hundertfache Mörder aus Motiven, die nicht von Eigennutz, sondern von altruistischer Hingabe an eine Idee und eine vollkommen rücksichtlose weil absolute Wertebindung geprägt waren. Auch die Auseinandersetzungen um die Mohammed-Karikaturen fallen in dieses Schema.

    Der Stolz des Selbstmordattentäters bleibt uns fremd, weil er keinen persönlichen Nutzen davon trägt, wenn er einen Karikaturisten hinrichtet und auch seiner Familie oder seiner Nation damit keinen Gefallen tut. Die Begriffe von Stolz und Scham, die sich komplementär zueinander verhalten, sind zunächst als Motive zu fassen, sofern sie Handlungen begründen. Motive beziehen sich, folgt man psychologischen Standards, auf Bedürfnisse; welchem Bedürfnis aber soll der Stolz folgen?

    Immerhin handelt es sich um Metaphysik, um etwas, was keine materielle Grundlage hat. Die Psychologie vermutet dahinter ein bestimmtes Selbstkonzept, das auf Selbstachtung beruht. Insofern wäre Stolz eine Voraussetzung, sich selber lieben und annehmen zu können. Das meint: Der genuine Stolz bezieht sich nicht auf eine Leistung oder eine bestimmte Eigenschaft. Formen wie Nationalstolz oder selbst der Familienstolz wären demgegenüber nur abgeleitet. Der Stolz etwa, ein Deutscher zu sein, wäre so bloß eine Ableitung eines grundlegenden Gefühls, und genau so gut könnte man stolz auf die eigene Eichhörnchenzucht sein.

    Das Gefühl, um das es geht, ist eine nicht weiter ableitbare psychische Größe: eine Form von Selbstbezug. Die Frage, die sich unmittelbar anschließt ist nun die, warum es sehr stolze und weniger stolze Menschen gibt und warum ein Teil der Menschheit genau diesen Stolz verlieren kann. Der Sündenfall der abendländischen Kultur ist die Selbstverleugnung und die Nichtigkeit des bloßen Namens. Stolz kann nur der sein, der in gewisser Weise ein ungebrochenes Verhältnis zu sich selbst hat.

    Der türkische Vater, der seine Tochter umbringt, glaubt ganz anders an sich selbst, als der Zeitgenosse unserer Breitengrade. Er weiß, dass sein Name heilig, einzigartig und etwas Besonderes ist, etwas, für das sich jedes Verbrechen lohnt. Wir hingegen haben die gegenteilige Gewissheit: Wir sind ersetzbar, eigentlich nichts Besonderes und vor allen Dingen sind wir nicht heilig: Wir sind ein Stück Fleisch mit Gehirn. Diese Demut, diese Selbstentwertung geht mit der Vernunft Hand in Hand; deshalb auch die Neigung westlich geprägter Menschen, jene Handlungen, die dem Gebot des Stolz folgen, als unvernünftig abzutun. Diese Unvernunft der Helden wird in der europäischen Kulturgeschichte spätestens mit Don Quijote vorgeführt.

    "Da erhub Don Quijote seine Stimme und sprach mit stolzem Gebaren: Alle Welt halte still, wenn nicht alle Welt bekennt, dass es in aller Welt kein schöneres Fräulein gibt als die Kaiserin der Mancha, die unvergleichliche Dulcinea von Toboso. Beim Klang dieser Worte und beim Anblick der seltsamen Gestalt, die sie gesprochen hatte, hielten die Kaufleute an, und an der Gestalt und den Worten erkannten sie alsbald die Verrücktheit des Mannes."

    Cervantes Roman wird nicht zu Unrecht als Zäsur betrachtet, als Abrechnung des Bürgertums mit den Idealen der höfischen Gesellschaft. Diese höfische Gesellschaft kannte noch diese vorvernünftigen Werte wie Stolz, Scham, Ehre und Treue. Don Quijote wird zum Narren, wenn er an diesen Tugenden festhält, -oder besser: Jeder kann ihn zum Narren halten, weil er einem berechenbaren Mechanismus gehorcht. Nicht zufällig sind es gerade Kaufleute, die in dieser Szene ihren Scherz mit dem vorgeblichen Ritter treiben. Sie verlangen von Don Quijote, dass er ihnen jene Dulcinea zeige, damit sie deren Schönheit auch wirklich zu würdigen wüssten. Ein durchaus vernünftiger Vorschlag, doch Don Quijote erwidert mit dem Gesetz des Herzens und spricht damit eine tiefe Wahrheit aus, eine Wahrheit, die vor jeder Vernunft liegt.

    Wenn ich sie euch zeigte, entgegnete Don Quijote, was würdet ihr Großes damit tun, eine so offenkundige Wahrheit zu bekennen? Das Wesentliche in der Sache besteht darin, dass ihr, ohne sie zu sehen, es glauben, bekennen, behaupten, beschwören und verfechten müsset; wo nicht, seid ihr mit mir in Fehde."

    Denn es ist eine Sache der Ehre. Der traurige Held von Cervantes lebt in einer Welt, die sich vom Stolz und der Ehre verabschiedet, vielleicht auch emanzipiert hat, in einer Welt, in der angeblich die Vernunft den Ton angibt, und vernünftig ist es allemal, eine Frau zunächst zu sehen, bevor man ihre Schönheit bewundert.

    Die Frage nun, ob Stolz immer unvernünftig sein muss, oder ob es auch einen vernünftigen Stolz geben kann, ist im Grunde paradox, denn der Stolz wird erst sichtbar, wenn er sich von der Vernunft abhebt. Der Stolz kennt keine Vernunft und die Rede vom falschen Stolz ist irreführend, denn im Wesen des Stolz liegt es, nicht nach richtig oder falsch zu fragen. Bliebe aber immer noch die Frage, ob Scham und Stolz genuin menschliche Eigenschaften sind, die unser Zivilisationstypus in den Hintergrund gedrängt hat, oder ob es sich bloß um ein vorübergehendes historisches Phänomen handelt.

    Für letzteres spricht, dass Stolz wesentlich in einem geregelten Herr-Knecht-Verhältnis eine Rolle spielt, also in feudal strukturierten Gesellschaften, die den Mythos der edlen Geburt tradieren. Stolz ist eine Herrentugend, und der Herr erweist sich als solcher, indem er ständig bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Stolz und Scham sind die Tugenden der kämpfenden Klasse. In der Dialektik von Herr und Knecht, die einst Hegel trefflich formuliert hat, gibt es zunächst den Kampf zweier Individuen. Der Sieger wird zum Herren, denn er hat den anderen, der zum Knecht wird, unterworfen. Der Herr lebt fortan im Genuss; ihm bleibt die Demütigung des Gehorsams und der Arbeit erspart. Gerade durch die Niederlage aber entwickelt sich nach Hegel das wahre Selbstbewusstsein.

    Denn dieses Bewusstsein hat die Furcht des Todes, des absoluten Herren, empfunden. Es ist darin innerlich aufgelöst worden, hat durchaus in sich selbst erzittert, und alles Fixe hat in ihm gebebt. Dieses absolute Flüssigwerden alles Bestehens ist aber das einfache Wesen des Selbstbewusstseins.

    Alles Fixe wurde aufgelöst, nichts ist dem Knecht geblieben. Dann aber, in der Haltung der Demut, der Würdelosigkeit erarbeitet sich der Knecht langsam seine Existenz, weil es seine Arbeit ist, die bleibende Werte schafft. Das Mittel dazu ist Selbstverleugnung und Unterwürfigkeit. Letztlich siegt der Knecht in dieser Haltung über den Herrn, denn der Herr hat sich von ihm abhängig gemacht. So wäre, nach soziologischen und historischen Gesichtspunkten der Stolz tatsächlich einer früheren und primitiveren Gesellschaftsordnung zuzurechnen. Fast jede Kultur kennt den Stolz, eine Art inneres Gebot, das unabhängig von Religion und sonstigen sittlichen Normen zu Handlungen motivieren kann. Der mitteleuropäische Mensch trägt seine eigene Zerrissenheit bezüglich des Stolzes in der Mischung aus Bewunderung und Verachtung für den Stolz der Anderen. Dieser Stolz der Anderen ist die ideale Projektion für das, was einem selbst versagt ist. Stolz, Ehre und Würde sowie auf der anderen Seite die Scham sind Gegenentwürfe zur Vernunft, die unseren Zivilisationstypus nominell ausmacht.

    Es sind aber nicht nur Entwürfe, sondern sie haben auch eine Anbindung an konkrete Lebensformen, wie die vorhin erwähnten Beispiele eindringlich zeigen. Das heißt nicht, dass sich jeder Orientale oder jede Orientalin nach der Maßgabe des Stolzes verhält: In der großen Mehrheit dürften es auch hier faule Kompromisse sein. Es gibt zudem allemal eine Menge arabischstämmiger Fußballspieler, die ohne weiteres Beleidigungen aushalten. So wie man im Westen, obwohl die Vernunft Leitbild ist, nur selten konsequent rational handelt, so dürfte auch im Alltagsleben der anderen Kulturen der Stolz eher ein Ideal denn alltägliche Praxis sein.

    Der rationale Mensch hat seine sichere Position in der Begründbarkeit seines Handelns; der stolze Mensch braucht keine Begründung denn er vermeint eine innere Gewissheit in sich zu spüren, die jede Begründung überflüssig macht. Der Stolz ist die ultimative Form moralischer Unmittelbarkeit. Wieder Hegel über das Gesetz des Herzens:

    "Das Bewusstsein, welches das Gesetz seines Herzens aufstellt, erfährt also Widerstand von anderen, weil es den ebenso einzelnen Gesetzen ihres Herzens widerspricht, und diese tun in ihrem Widerstand nichts anderes, als ihr Gesetz aufstellen und geltend machen. Das Allgemeine, das vorhanden ist, ist daher nur Bekämpfung aller gegeneinander."

    Die Vernunft dagegen ist Vermittlung schlechthin: Sie löst jede Unmittelbarkeit, jede Selbstgewissheit auf; alles, was Anspruch auf Geltung hat, muss auch vermittelbar sein. Stolz hingegen ist man oder man ist es nicht. Der Stolz tritt den westlichen Kulturen, weniger im von den Medien stilisierten Fundamentalismus denn vielmehr im Alltag der Globalisierung gegenüber. Als ständige Herausforderung ist er einer jener Stachel, die die Moderne mit sich bringt. Noch ist diese Epoche der Menschheitsgeschichte nicht abgeschlossen, - noch können wir nicht beurteilen, ob Vernunft das letzte Wort gegen Ehre, Stolz und Würde behält oder nicht. Zinedine Zidane wurde zwar aus dem Spiel ausgeschlossen, gleichzeitig mahnt er aber an das, was unsere westliche Kultur aufgeben hat, -an die Opfer, die gebracht werden mussten, um eine rationale Organisation von Gesellschaft erst zu ermöglichen.

    Robert Schurz lehrte an verschiedenen Universitäten Philosophie. Heute arbeitet er als Hörfunkjournalist und Psychotherapeut in Frankfurt am Main.