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Strahlende Gefahr an der Rhone

Frankreich deckt rund 80 Prozent seines Strombedarfs mit Hilfe von Kernkraftwerken. Lange Zeit hatte die Energiepolitik der Regierung großen Rückhalt in der Bevölkerung. Demonstrationen sind trotz der 58 Atomkraftwerke die Ausnahme. Doch als es in diesem Jahr innerhalb von zwei Wochen zu vier Zwischenfällen kam, schlug die Stimmung um.

Mit Reportagen von Hans Woller, Moderation: Britta Fecke |
    Aus der Atomanlage Tricastin gelangten zuerst 75 Kilo Uran aus einem Überlaufbecken in die umliegenden Gewässer. In den Tagen danach ereigneten sich in derselben Anlage noch drei weitere Störfälle. Tricastin ist neben der Wiederaufbereitungsanlage La Hague der größte Atomkomplex in Frankreich.

    Seit über 30 Jahren leben die Menschen in dieser landschaftlich reizvollen Gegend in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Reaktoren und der Urananreicherungsanlage. Ihr Verhältnis zu dem größten Arbeitgeber der Region ist spätestens seit den jüngsten Störfällen gespalten.


    Uran im Fluss, radioaktiver Staub in der Luft, Brennelemente verhakt im Reaktordeckel - dieser Sommer war kein guter für die französische Atomindustrie, denn die Pannenserie riss nicht ab. Allein vier Störfälle meldete die südfranzösische Atomanlage Tricastin. Im Juli gelangten durch undichte Auffangbecken 74 Kilogramm Uran in zwei Flüsse, zwei Wochen später wurden Mitarbeiter bei Wartungsarbeiten an Reaktor IV mit radioaktivem Staub kontaminiert. Kurze Zeit darauf musste dann auch noch Reaktor II vom Netz, weil sich beim Entladen die nuklearen Brennstäbe verhakt hatten. Wochenlang versuchten die Betreiber die Brennelemente zu bergen, sogar aus Amerika wurde Hilfe angefordert, weil nicht klar war, wie viel radioaktive Strahlung im Falle eines Unfalls freigesetzt würde.

    Schmale, holprige Pfade verbinden die verstreuten Dörfer und Höfe in der Rhone-Ebene, dazwischen Kartoffelfelder, lichte Auwälder- Rosenkohl und Weinberge - ländliche Idylle im Schatten von Tricastin. Als am 7. Juli das Uran in die Flüsse gelangte wurden hier die Badenden aus dem See gepfiffen, das Grundwasser durfte von da an nicht mal mehr für das Gemüse verwendet werden; Maßnahmen, die noch nie nach einem Störfall verordnet wurden. Und dann ergriff Elisabeth Serinian zu einer Maßnahme, die vor ihr auch noch niemand in dieser Region ergriffen hatte, sie erhob Anklage gegen Unbekannt.


    Madame Serinian wehrt sich
    Die Klage gegen die Atomindustrie
    Gleich vier Hunde wachen über das alte Steinhaus mit den grünen Fensterläden. Hier lebt Elisabeth Serinian mit ihren beiden Töchtern. Auf der Südseite, wo zwei Pferde im Unterstand stehen, reicht der Blick weit hinunter in die Flussebene. Zur linken die sanften Hügel der Drôme, mit alten, ockerfarbenen Dörfern und der Vegetation des Südens - Weinberge, Eichen, wilder Thymian, Pinien und Olivenbäume, zur rechten die etwas wildere Ardeche.

    Auf der Nordseite des Hauses schützt eine lange, doppelte Reihe von Zypressen gegen den Mistral, den tückischen Wind, der manchmal tagelang Richtung Süden durchs Rhone-Tal fegt.

    Die Baumreihe verstellt aber auch den Blick auf die Atomanlagen von Tricastin, von denen die nächste nicht mal einen Kilometer entfernt liegt - würde man nicht meinen, sagt Elisabeth Serinian, mit einem verzwungenen Lächeln.

    Draußen, wie auch im Haus selbst herrscht Chaos, so als wäre der 50-jährigen Erzieherin, die mit behinderten Kindern arbeitetet, in letzter Zeit so manches zu viel geworden. Im Vorbeigehen zeigt sie auf den nagelneuen Anschluss ans Trinkwassernetz, den ihr die Betreiber der Atomanlage nach dem Störfall eingerichtet haben - bisher kam ihr Wasser aus dem eigenen Brunnen

    " Hier sehen sie den alten Druckwasserkessel, und da liegt die Pumpe, die man ausgewechselt hat, und da vorne stand ein großer Wassertank, so groß wie der Öltank, rund 2000 Liter fasste der, und er wurde von der Gemeinde jeden zweiten Tag gefüllt. Rund zwei Monate hat das gedauert. "

    Elisabeth Serinian wirkt traurig und zugleich erstaunt, wie jemand, den man plötzlich aufgeweckt und mit der Realität konfrontiert hat. Sie ist in der Gegend mit den Atomanlagen aufgewachsen, aus ihrem Gedächtnis hat sie die aber stets ausgeklammert. Wenn sie jetzt an die Störfälle des Sommers denkt, zieht sie den Kragen ihres Pullovers enger um den Hals.

    " Sie haben jetzt schon seit drei, vier Wochen keine Wasserproben mehr genommen, und zur Stunde wissen wir nicht mehr, woran wir sind. "

    An die Tage nach dem Störfall des 8. Juli erinnert sie sich nur ungern.

    " Ich habe mir große, große Sorgen gemacht. Vor den ganzen Störfällen war ich selbst schwer krank gewesen, und ich sah mich plötzlich wieder im Krankenhaus, denn wir hatten ja im Druckwasserbehälter immerhin 70 Mikrogramm Uran pro Liter, der Grenzwert liegt bei 15. "

    Sie wohnt jetzt seit zehn Jahren direkt neben der Atomanlage von Tricastin, muss aber gestehen, dass sie unfähig ist zu sagen, was da, vor ihrer Tür, auf sechs Quadratkilometern genau passiert.

    In ihrer relativen Hilflosigkeit hat sich Elisabeth Serinian aber eines gesagt: Man kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, also reiche ich, als einfache Bürgerin, Klage gegen Unbekannt ein.

    " Ich verlange Reparationszahlungen. Mein Haus ist heute unverkäuflich, hat die Hälfte seines Wertes verloren, niemand möchte mehr hierher ziehen. Dabei habe ich diese Ebene immer geliebt. Ich bin weit weg von der Stadt, habe 1,8 Hektar Grund. Man lebt gut hier, würde sogar sehr gut leben, wenn es die Störfälle nicht gegeben hätte. "

    So verunsichert, wie sie wirkt, dürfte sie vor Gericht für den Atomgiganten nebenan eine leichte Beute werden. Doch immerhin: Sie hat versucht, unter den weit verstreut lebenden Bewohnern der Rhone-Ebene so etwas wie Solidarität zu schaffen - vergeblich.

    " Das ist in der Ebene hier ziemlich schwierig, denn die meisten Anwohner hier sind Bauern, die von ihrem Anbau leben, und die haben keine Klage eingereicht. Denen ist es lieber, wenn das Ganze vertuscht wird, damit sie ihre Produkte weiter verkaufen können. Und auf einige Bauern, so nehme ich an - ohne es genau zu wissen - hat man wahrscheinlich auch Druck ausgeübt, damit sie nicht klagen. "

    Die Wände im Inneren sind kahl. Es ist eines dieser alten Häuser, in denen das Renovieren nie ein Ende nimmt. Elisabeth Serinians Arbeitszimmer ist merkwürdig abgedunkelt, so als wollte sie von der Außenwelt nichts mehr sehen. Ihre stets leise Stimme wird plötzlich etwas lauter, wenn sie daran denkt, wie sich die Verantwortlichen, der Atomkonzern Areva, nach dem Störfall vom 8. Juli verhalten haben. Areva-Chefin Anne Lauvergeon, die Top-Managerin, die im angelsächsischen Raum "Atomic Anne" genannt wird, ließ sich damals für ein paar Stunden einfliegen.

    "Sie hat die Presse einberufen und dann ihre Nummer abgezogen mit dem Pastis. Das Wasser dafür kam angeblich aus dem Badesee nebenan. Man darf die Leute doch nicht für so dumm verkaufen."

    Eines bedauert Elizabeth Serinian heute wirklich, Jahrzehnte lang geglaubt zu haben, die Atomindustrie nebenan habe schon alles im Griff.

    " Ich fühlte mich bislang von all dem nicht betroffen. Zugegeben, das war reichlich naiv. Aber ich habe nie darauf geachtet, habe mir gesagt, eine so gefährliche Energie, die muss man einfach beherrschen. Natürlich gab es immer eine Atmosphäre von Geheimniskrämerei rund um die Atomanlage, die Armee und die Bombe, mit der alles begonnen hat, haben da auch ihre Rolle gespielt. Aber bis zum 8. Juli dieses Jahres war ich im Grunde nie beunruhigt. Jetzt bin ich an einem Punkt, da ich mich frage, was ich hier verloren habe. Ich würde gerne woanders hingehen, aber wohin? "

    In der autobiographischen Erzählung "Jahresfrist" beschreibt Lothar Baier wie ein deutscher Intellektueller ein altes Haus in der Provence ersteht, das Haus steht einsam und idyllisch gelegen ein paar dutzend Kilometer von der Rhone entfernt, und ist sehr renovierungsbedürftig: Als es dann noch zu regnen beginnt, kippt die Stimmung: "Jahresfrist" ist 1985 beim S. Fischer erschienen.

    Die Atomanlage Tricastin liegt mitten in einer Schneise, durch die alljährlich Millionen Sommerurlauber und täglich 15.000 Lkws Richtung Süden fahren. Westlich von Tricastin jagen am Tag auch noch 100 Hochgeschwindigkeitszüge vorbei. Ein Störfall, bei dem radioaktives Material austritt, wie schon geschehen über ein Abzugsrohr oder lecklaufende Auffangbecken, könnte also nicht nur die Bevölkerung rund um Tricastin, sondern auch viele Durchreisende treffen.

    Die Atomanlage erstreckt sich auf rund sechs Quadratkilometer, hier rund 50 Kilometer nördlich von Avignon sind allein vier Reaktoren am Netz. Es sind Druckwasserreaktoren mit einer Nettoleistung von über 900 Megawatt - pro Block versteht sich. Ein Großteil der hier erzeugten Energie speist nicht etwa das französischen Stromnetz, sondern fließt direkt in die benachbarte Urananreicherungsanlage Eurodif, hier wird seit 1979 der nukleare Brennstoff hergestellt: das angereicherte, radioaktive Uran wird dann an Kunden in aller Welt verkauft. In Tricastin werden auch noch Komponenten für die Brennstäbe produziert und außerdem sollen kontaminierte Metalle in einer eigenen Anlage der Firma Socatri entsorgt werden. Socrati war unter anderem für den Störfall am 8. Juli verantwortlich.

    Noch Fragen?
    Der Direktor der Atomanlage
    Gleich zwei Presseattachés stehen am militärisch gesicherten Eingang von EURODIF bereit, um den angemeldeten Besuch zu Hugues Blachère zu bringen. Der Direktor der Urananreicherungsanlage des Areva-Konzerns sieht aus wie einer, der schwerem Essen zugetan und guten Weinen nicht abgeneigt ist. Er könnte einen honorigen Provinzbürger in einem Chabrolfilm abgeben. Wenige Jahre vor der Pensionierung scheint ihm der Ärger des vergangenen Sommers mehr als lästig.

    " Für Areva ist Transparenz nicht mehr einfach ein Wort oder eine Politik, sondern ein Fakt. Denn wir geben regelmäßig alle Störfälle bekannt und die Tatsache, dass ich heute mit ihnen sprechen darf, beweist ebenfalls, dass wir beschlossen haben zu kommunizieren, nicht nur mit Worten, sondern mit Fakten. "

    Diese Fakten, von denen Hugues Blachère in einem fensterlosen Konferenzraum des Verwaltungsgebäudes spricht, sind, wie nicht anders zu erwarten, beruhigend.

    " Aus meiner Sicht ist das Grundwasser hier nicht verseucht. Es weist an bestimmten Stellen Spuren von Uran auf. Heute gilt es als sicher, dass dies aber nicht die Folge des Störfalls vom 8. Juli ist. Wir werden eine zusätzliche Studie in Auftrag geben, um zu erklären, warum an einigen ganz bestimmten Stellen Werte von 15 Mikrogramm auftreten. 15 Mikrogramm, das ist aber nur eine Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation, in den USA gelten 30, in der Schweiz 20 Mikrogramm. "

    Die Uranwerte im Grundwasser südlich der Atomanlage könnten von den 700 Tonnen radioaktiven Abfällen aus militärischer Produktion stammen, Abfälle, die einfach auf dem Gelände der Anlage gelagert und mit einer Erdschicht überdeckt und dann vergessen wurden. Hugues Blachère weist diese Vermutung entschieden zurück.

    "Diese Abfälle aus den 60er und 70er Jahren sind bekannt, aufgelistet und überwacht, in einem Erdhaufen, den man da oben übrigens von der Strasse aus sehen kann. Wir untersuchen jetzt die Möglichkeit, wie man diese Abfälle beseitigen und lagern kann mit Methoden des Jahres 2010."

    Damit räumt der Direktor von Tricastin immerhin ein, dass Areva erst reagiert hat, nachdem das Problem öffentlich geworden war und somit Jahrzehnte zu spät. Trotzdem strotzt Hugues Blachère hinter seiner großväterlichen Maske geradezu vor Selbstsicherheit. Der studierte Geologe, der einen Grossteil seiner Karriere bei Areva in den Uranminen Afrikas gemacht hat, gehört zur winzigen Kaste derer, die man in Frankreich Nukleokraten nennt. Sie sind überwiegend Abgänger der Elitehochschule Polytechnique, die das französische Atomprogramm seit den 70er Jahren beschlossen und durchgezogen haben, ohne sich vor der Öffentlichkeit je rechtfertigen zu müssen. Ihn berührt es kaum, wenn jetzt, nach den Störfällen, gegen den Areva-Konzern einige Klagen eingereicht wurden:

    "Es gibt, glaube ich, eine Klage von der Stadt Bollène und eine andere von einem Gärtner. Das ist aber noch nicht ganz sicher, wir diskutieren noch mit diesem Gärtner."

    Der Gärtner, der nach dem Störfall im Juli seine Beete nicht bewässern konnte und seine Ernte verlor, er soll überzeugt werden, den Ratschlägen der Bürgermeister der Nachbargemeinden zu folgen. Sie empfahlen ihren betroffenen Bürgern: Geht nicht vor Gericht, lasst euch direkt von Areva entschädigen. Und Hugues Blachère schlüpft bei diesem Thema in die Rolle des wohltätigen Patriarchen.

    "Wir haben ein System eingerichtet, um die Reklamationen erst mal zu sammeln, für jede Gemeinde, für die Winzer, für die Bauern. Wir sind dabei, diese Dossiers zu bearbeiten - es sind bislang 199. Sobald wir die entsprechenden Belege haben, werden wir entschädigen. Jede Person, die einen Schaden erlitten hat, wird angemessen entschädigt."

    Hugues Blachère nimmt den Aufzug in die Chefetage, die Presseattachés laden noch zur Rundfahrt durch das riesige Areal, entlang der alten Urananreicherungsanlage, der in Stahlcontainern gelagerten, wiederaufgearbeiteten Brennstäbe, vorbei an dem Gebäude der Firma Socrati und den Rückhaltebecken, in denen sich der Störfall am 8. Juli ereignet hatte, bis zum Neubau einer zweiten Urananreicherungsanlage, die im kommenden Jahr in Betrieb gehen wird. Baukosten: 3 Milliarden Euros - Areva investiert weiter in die atomare Zukunft von Tricastin.


    Frankreich setzt seit den 70er Jahren fast ausschließlich auf die Nutzung der Kernenergie. 58 Druckwasserreaktoren sind landesweit am Netz und ihr Anteil an der gesamten Stromproduktion beträgt rund 80 Prozent. Auch die Pannenserie dieses Sommers kann die Franzosen in ihrer positiven Haltung gegenüber der Kernkraft nicht erschüttern. In einer repräsentativen Umfrage der linksliberalen Tageszeitung Le Monde kurz nachdem Uran in die Flüsse gelangt war, stimmten 67 Prozent der Franzosen dafür, auch in Zukunft weiter auf Atomkraft zu setzen. Diese positive Grundhaltung eint auch alle politischen Lager von den Konservativen bis hin zum linken Gewerkschaftsbund, der die Atomanlagen als Arbeitgeber schätzt und verteidigt.

    Die Glocken in Valance schlagen nicht Alarm, sondern nur die Stunde. Wenn irgendwo der Alarm losgeht, dann in einem der vielen Kernkraftwerke der Umgebung. Valance ist förmlich umzingelt von Atomanlagen: da liegt 70 Kilometer entfernt Tricastin. Nördlich der Stadt ist das AKW Saint Alban, 20 Kilometer südlich das AKW Cruas, östlich von Valance werden atomare Brennstäbe gefertigt. Noch ein wenig weiter die Rhone runter wird das neue mit Plutonium versetzte Brennelement MOX hergestellt. In dieser Umgebung arbeitet Michèle Rivasi, und zwar nicht für die Atomindustrie, sondern als unabhängige Wissenschaftlerin.



    Michèle Rivasi
    Das rote Tuch für die Atomindustrie


    Ihre schwarzen Locken sind ständig in Bewegung, ihre grünen Augen hellwach. Im kleinen Restaurant versucht sie ihre große, überquellende Handtasche zu verstauen und zwischen zwei Terminen einen Bissen zu essen.

    Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist Michèle Rivasi für die mächtige Atomlobby im Rhone-Tal ein rotes Tuch. Angefangen hat alles mit Tschernobyl und den Folgen, die das Leben der damals 30-jährigen Biologielehrerin veränderten. Frankreichs Behörden hatten verkündet, dass das Land durch ein Hochdruckgebiet vor der radioaktive Wolke aus Tschernobyl geschützt sei, Michèle Rivasis Mann, zu jener Zeit Pilot, brachte aus Italien und Deutschland aber Informationen über Vorsichtsmaßnahmen mit, die dort ergriffen wurden.

    "Ich habe dann das AKW Tricastin angerufen und gefragt, ob sie Messwerte bezüglich der radioaktiven Wolke aus Tschernobyl hätten. Sie verneinten das und sagten, man brauche sich keine Sorgen machen, es gäbe kein Problem. Hinterher habe ich erfahren, dass die Alarmsirenen im AKW Tricastin sehr wohl angesprungen waren, als die Tschernobyl-Wolke vorbeizog. Wir haben nach dem Anruf dann mit ein paar Leuten beschlossen, in ein Unilabor nach Lyon zu fahren, um unsere eigenen Bodenproben analysieren zu lassen. Das Ergebnis: alle radioaktiven Substanzen aus Tschernobyl waren enthalten: Ruthenium, Cäsium, Jod und so weiter. In dem Moment ist bei mir etwas geplatzt. Ich sagte mir: wie ist es möglich, dass es für die Behörden kein Problem gibt, wir aber zu ganz anderen Ergebnissen kommen. Und selbst der Professor des Labors sagte plötzlich: wenn es das bei euch in der Drome gibt, dann muss es das auch in Lyon geben und stürzte nach draußen, hat vom Unirasen Proben genommen und hatte dieselben Ergebnisse. Das war der Auslöser. Wir haben uns dann gesagt: anstatt ständig bei den Leuten der Atomindustrie um Informationen zu betteln, gründen wir ein eigenes, unabhängiges Labor. So hat das mit der CRIIRAD damals angefangen."

    Die CRIIRAD, das "Unabhängige Forschungs- und Informationszentrum für Radioaktivität" in Valence ist heute, 20 Jahre später, eine anerkannte Institution mit zwölf angestellten Wissenschaftlern. Es ist aber immer noch das einzige, von der Atomlobby unabhängige Labor Frankreichs und spielt damit weiterhin die Rolle des Davids gegen Goliath.

    "Es war damals nicht einfach. Wir sind bedroht worden. Ich musste meine Kinder woanders unterbringen, weil man gedroht hatte, sie zu entführen und unser Haus in Brand zu stecken. Und der Präfekt des Departements hat damals öffentlich gesagt: wenn es hier eine Schuldige gibt, dann ist das Madame Rivasi. Wenn sie all diese Informationen nicht veröffentlichen würde, könnten die Bauern ihre Milchprodukte, ihren Käse problemlos verkaufen. Der Staat wollte wissentlich die Bauern gegen mich aufhetzen, indem man den Präfekt sagen ließ: Die da ist die Schuldige."

    Die Atomindustrie in dieser Region scheint allmächtig, der Wohlstand hängt weitgehend von ihr ab und doch hat Michèle Rivasi bei den letzten Kommunalwahlen für die Grünen hier in Valence sensationelle 21 Prozent geholt, ist stellvertretende Bürgermeisterin der 70.000 Einwohnerstadt und hat bei den Wahlen für den Kreisrat einen Kandidaten der Sarkozy- Partei UMP geschlagen. Diese Frau, die nie locker lässt, kann in ihrem Büro im Rathaus von Valence eine gewisse Genugtuung nicht verbergen, dass Professor Pellerin, der Verantwortliche für die französische Tschernobyllüge, damals Chef der zentralen Strahlenschutzbehörde, nun nach über 20 Jahren, endlich angeklagt wurde. Trotz solcher kleinen Erfolge glaubt die AKW Gegnerin aber nicht wirklich an einen mittelfristigen Atomausstieg, angesichts des enormen Einflusses der Atomindustrie in Frankreich und gerade in der Region des Rhone-Tals

    "Das Gewicht der Atomkraft in der Region ist beachtlich. Schon historisch gesehen. Pierrelatte ist der Ort, an dem man die erste französische Atombombe gebaut hat. Die Atomanlage allein bringt 20 Prozent der Gewerbesteuer im Departement. Und natürlich Arbeitsplätze, tausende und die Zulieferer - die Menschen hier kriechen auf den Knien vor der Atomwirtschaft."

    Die Atomlobby, so klagt Michel Rivasi, versucht, wenn immer möglich, die Messergebnisse des von ihr gegründeten Labors und dessen Interpretationen zu diskreditieren - dutzende Male hat sie die Atomfirmen aufgefordert, sie mögen doch vor Gericht klagen und das Labor der CRIIRAD kontrollieren lassen, wenn die Analysen ihrer Meinung nach nicht korrekt seien - das aber hat die Atomindustrie in über 2 Jahrzehnten nie getan. Auch bei den Störfällen des letzten Sommers in Tricastin spielte das Labor in Valence wieder eine wichtige Rolle. Sehr früh betonte die CRIIRAD, dass der Austritt der uranhaltigen Flüssigkeit am 8. Juli keine akute gesundheitliche Bedrohung darstelle. Nutzte aber die Gelegenheit, eine seit langer Zeit bestehende radioaktive Verseuchung südlich der Atomanlagen anzuprangern, die andere Ursachen hat.

    "Das Grundwasser um Tricastin ist mit Uran verseucht und unter dem Atomkraftwerk selbst enthält es sogar Tritium. Die Weltgesundheitsorganisation hat den Richtwert von 15 Mikrogramm Uran pro Liter herausgegeben. Es gibt im Grundwasser südlich der Atomanlage jedoch Spitzenwerte von 30, 40, ja 50 Milligramm. Dort leben aber Bauern und diese Leute haben 20 Jahre lang das Wasser aus ihren Brunnen getrunken. Was mich wirklich wütend auf die Betreiber der Atomanlage macht, ist, dass sie diesen Menschen nie gesagt haben: ja, es gibt ein Risiko, euer Wasser ist verseucht, die Werte überschreiten die Empfehlungen der WHO."

    Michel Rivasi wundert nichts mehr. Seit 2 Jahrzehnten erlebt sie tagtäglich, wie unkritisch die Anrainer von Tricastin mit den Gefahren der Kernkraft umgehen. Die Menschen leugnen das Risiko einfach, seufzt die Wissenschaftlerin und sie ignorieren die Fakten, selbst wenn die klar auf dem Tisch liegen:

    "Es hat schon vor dem 1. Störfall einen Bericht des Instituts für Strahlenschutz und Reaktorsicherheit gegeben, vom 4. Juli, der sagte, dass es Spuren von Uran gibt in der Umgebung von Tricastin - und dieser Bericht kommt sogar von Leuten, die zur Atomlobby gehören. Ihre Messungen zeigten, dass die Werte oberhalb und unterhalb der Atomanlage nicht dieselben sind und dass man uns Jahre lang nicht die Wahrheit gesagt hatte. Dann erfährt man auch noch, dass 770 Tonnen radioaktiver Abfälle der Armee einfach im Freien gelagert wurden. Ein Bericht aus dem Jahr 1998 hatte schon gezeigt, dass das Regenwasser diesen Atommüll ausgewaschen - und radioaktive Elemente ins Grundwasser geschwemmt hat, dass man das Grundwasser tagtäglich abpumpte, um zu verhindern, dass sich die Verschmutzung nach Süden fortsetzte und dass man das abgepumpte Wasser in den Rhone -Kanal leitete, damit das Ganze am Ende in der Rhône verschwindet."

    Michel Rivasi, über die Region hinaus, eine der kompetentesten atomkritischen Stimmen Frankreichs,
    ist zutiefst überzeugt, dass die Bevölkerung, geht es um Atomkraft, belogen wird. Seit Jahren redet sie sich den Mund wund mit ihrer Forderung nach echter Transparenz und einer echten öffentlichen Debatte über Vor- und Nachteile der Kernenergie:

    "In Frankreich leben wir, sobald es um Kernkraft geht, nicht mehr in einer Demokratie. Selbst Umweltminister, wie die Grünen Corinne Lepage und Dominique Voynet, hatten nicht zu allen Daten Zugang, die die Atomkraft betrafen. Eine ganz kleine Minderheit trifft in Sachen Kernenergie die Entscheidungen für ganz Frankreich und das finde ich skandalös."

    Michel Rivasi muss durch den Regen zum nächsten Termin. Als Wissenschaftlerin hat sie sich jetzt seit 2 Jahren von der radioaktiven Strahlung abgewandt, arbeitet an einem anderen heißen Thema: Handys und elektromagnetische Wellen. Angesichts ihrer Energie und Durchsetzungskraft darf man sicher sein: man wird auch zu diesem Thema bald von ihr hören und man glaubt ihr, wenn sie sagt, sie werde weiter kämpfen und nie locker lassen


    Auf dem Wochenmarkt in Saint Paul Trois Chateaux werden die Schätze der Provence feilgeboten, Trüffel, Käse, duftende Äpfel, Lavendelhonig - schwer vorstellbar, dass nur drei Kilometer hinter der alten Stadtmauer die provencealische Idylle vorbei ist, denn dort liegt die Atomanlage Tricastin.

    Das mag aber Claude Paulin nicht stören, schließlich lebt der Hotelier von der heilen Welt zwischen engen Gassen und verschwiegenen Plätzen und nicht von dem was dahinter liegt. Und wenn überhaupt stört den Tourismus auch weniger die Anlage, als der soziale Wohnungsbau vor den Toren der Stadt. Wie in vielen anderen Gemeinden der Umgebung ist die Bevölkerung mit dem Ausbau der Atomanlage um ein vierfaches gestiegen, für die Angestellten mussten neue Häuser gebaut werden, die alten Dörfer wurden zu klein. So ist Atomindustrie auch in Saint Paul Trois Chateaux inzwischen der größte Arbeitgeber. Schließlich können ja nicht alle vom Urlaub der anderen leben.



    Der Hoteldirektor
    Tourismusmanagement im Schatten der Kühltürme
    Die französische Atomanlage Tricastin, 50 Kilometer nördlich von Avignon, vereint auf 6 Quadratkilometern nicht nur ein AKW mit vier 900 MW Reaktoren, sondern auch über ein halbes Dutzend weiterer Betriebe, die um die Urananreicherungsanlage Eurodif gruppiert sind und auf verschiedenste Arten daran arbeiten, dass aus Natururan am Ende Brennelemente für Atomkraftwerke hergestellt werden können.

    Den gesamten Sommer über hat die Atomanlage Tricastin für reichlich Schlagzeilen gesorgt: erst bei der Firma SOCATRI der Austritt uranhaltiger Flüssigkeit in die Umwelt, dann rund 100 Arbeiter des AKWs, die radioaktiven Staubpartikeln ausgesetzt waren und schließlich zwei Brennelemente, die sich beim turnusmäßigen Wechsel in einem der Reaktordeckel verhakt hatten.

    Die Bevölkerung rund um Tricastin lebt jetzt bereits seit über 4 Jahrzehnten mit der Atomindustrie, die mehr als 6000 Menschen Arbeit gibt und die Gemeinden Bollène, Pierrelatte und Saint Paul Trois Chateaux, sowie zwei Departements mit Gewerbesteuern geradezu überhäuft.

    Hans Woller ist zwei Anwohnern der Atomanlage begegnet: der knapp 30-jährigen Gewerkschafterin, Virginie Neumayer, die im Atomkraftwerk von Tricastin arbeitet und einem Schriftsteller, der vor einem dreiviertel Jahrhundert dort geboren wurde und heute immer noch in Pierrelatte lebt.

    Für Staatpräsident Sarkozy ist die Kernspaltung die bevorzugte Energieform zur Stromproduktion im eigenen Land, außerdem soll die Technik in andere Länder exportiert werden, um die französische Außenhandelsbilanz zu verbessern. In einer Rede vor der UNO erklärte Sarkozy: Frankreich wolle jedem Land helfen, dass die Atomenergie zivil nutzten will. Wie schwer die Möglichkeit der zivile Nutzung von der militärischen unterschieden werden kann zeigt sich schon allein beim Streit um das iranischen Atomprogramm. Und ob die Technik, die in diesem Sommer sehr störfällig war, wirklich zum Exportschlager taugt ist die zweite Frage.

    Fest steht: die Pannenserie in den französischen Atomkraftwerken schockierte eher das europäische Ausland, in Frankreich selbst schlugen die Wogen weniger hoch. Der Umgang mit der Atomkraft bleibt entspannt in einigen Fällen erscheint er sogar fast spielerisch. In unmittelbarer Nähe zur Atomanlage Tricastin weisen schon die Schilder auf eine außergewöhnliche Touristenattraktion hin: Eine Krokodilfarm. Die Echsen suhlen sich seit nunmehr 14 Jahren in der Wärme die, die Urananreicherungsanlage auf das Kühlwassers überträgt.

    In der Abwärme der Urananreicherungsanlage
    Die Krokodilfarm
    Wasser rauscht durch die künstliche Urwaldlandschaft, wo 600 Pflanzenarten zwischen Holzpfaden, Brücken und künstlichen Wasserbecken gedeihen. Mittendrin scheinen über 300 Krokodile vor sich hinzudösen. Samuel Martin kommt mit einem einfachen T-Shirt aus - 28 Grad und beträchtliche Luftfeuchtigkeit herrschen unter dem 20 Meter hohen Glasdach. Der 40 Jährige, mit kurz geschnittenem, grau meliertem Haar, hat hier vor 7 Jahren als Tierarzt angefangen, erst vor kurzem das Unternehmen von den zwei in Krokodile vernarrten Brüdern übernommen, die den Betrieb 1994 gegründet hatten - auf dem Stück Land, auf dem ihre Eltern, wie viele in der Rhone Ebene hier, einst Gemüse anbauten.

    " Wir waren die ersten, die die Abwärme der Urananreicherungsanlage Eurodif nebenan genutzt haben. Während des Anreicherungsvorgangs ist das Uran gasförmig und es gibt Kompressoren, die permanent gekühlt werden müssen. Dabei entsteht eine riesige Menge von warmem Wasser und dieses Wasser wird genutzt, um damit 2500 Wohnungen in Pierrelatte zu heizen, 42 ha Gewächshäuser und die Krokodilfarm hier." "

    Eine Energieversorgung, die um die Hälfte billiger ist als Gas oder Öl und, wie der Direktor stolz betont, keine CO2-Belastung verursacht. In der Farm, die einem riesigen Gewächshaus gleicht, kümmert sich Samuel Martin mit der Organisation "SOS Krokodil" auch um den Artenschutz. Er selbst kommt gerade von einer Mission aus Nepal zurück. Für die jährlich 60.000 Schüler, die mit ihren Klassen hierher kommen, hat man pädagogische Programme aufgelegt und die Farm verfügt auch über eine Forschungsabteilung:

    " Wir haben ein Labor, in das Wissenschaftler von überall her kommen. Sie entnehmen hier Blut, Zähne, Eier oder Embryonen. Es ist der einzige Ort auf der Welt, wo keine kommerzielle Krokodilzucht betrieben wird - das heißt, wir geben alles kostenlos für die Forschung." "

    Den Austritt der uranhaltigen Flüssigkeit im letzten Juli und die darauf folgenden Pannen in den Atomanlagen der Region nimmt der kontaktfreudige Direktor nicht auf die leichte Schulter, meint aber, man möge die Kirche doch im Dorf lassen:

    "Wir hatten hier keine Probleme, wir liegen ja auch im Norden der Anlage und trotz des Medienrummels muss man klar sehen: was da in die Umwelt kam, entspricht der Menge von Uran, die die Rhone in 8 Stunden transportiert, für die Umwelt ist das nicht so bedeutend. Ärgerlicher ist, dass es wiederholt Lecks und Pannen gegeben hat und das zeigt doch, dass es gewisse Mängel in der Organisation gibt."

    Samuel Martin arbeitet mit den Betreibern der Atomanlage nebenan Hand in Hand, den Pressechef des Atomkonzerns Areva duzt er, hat dessen Telefonnummer spätestens seit den Störfällen im Juli in seinem Handy gespeichert - schließlich war damals hier Hochsaison mit tausenden Besuchern pro Tag:

    "Die Besucher haben uns mehr Fragen gestellt, als üblich, aber auch sonst fragt man uns eigentlich immer, ob die Krokodile nicht fünf Beine hätten oder ob das Wasser nicht strahlt. Wir erklären dann immer geduldig: es gibt einen Wärmeaustausch mit der Anreicherungsanlage, wir bekommen aber keinerlei Materie von dort. Wenn eines Tages Radioaktivität in unseren Becken wäre, würde das bedeuten, wir haben hier eine globale radioaktive Verseuchung der Umwelt."

    Der Mann, dessen Firma in der Hochsaison 40 Menschen beschäftigt, sieht keinen Widerspruch zwischen seinem Engagement für Natur- und Artenschutz und der Kernenergie, sagt von sich, er sei eben Pragmatiker:

    "Man darf nicht sagen: die Atomkraft ist ohne Risiko und alles ist in Butter. Aber die Gesellschaft muss Entscheidungen treffen. Wir können in Zukunft alle mit dem Fahrrad fahren und unseren Energieverbrauch drastisch reduzieren. Wenn man aber das Wachstum unserer heutigen Gesellschaft aufrechterhalten will, dann ist eigentlich nur diese Form von Energie dazu in der Lage."

    Draußen vor der Glashalle, unter einem ausladenden Strohdach, wo ein afrikanischer Künstler Skulpturen aus Metallabfällen geschaffen hat, hält Samuel Martin noch eine Überraschung bereit:

    "Wir haben hier das größte Krokodil der Erdgeschichte nachgebaut, es heißt "Sarcosuchus Imperator. Es ist aber so getauft worden, lange bevor Monsieur Sarkozy an die Macht kam. Beide sind sich nicht wirklich ähnlich, mit Ausnahme der Zähne vielleicht, Herr Sarkozy hat auch ein wenig lange Zähne."

    Das Original des "Sarcosuchus Imperator" wurde im Jahr 2000 ausgerechnet bei der Uransuche des französischen Atomenergiekommissariats im afrikanischen Niger gefunden. Wenn man hier von der 12 Meter langen Reproduktion des Urkrokodils den Blick hebt, grüsst, durch die mageren Bäume am Rande der Krokodilfarm, erneut die Atomindustrie - in Form der beiden dampfenden Kühltürme der Urananreicherungsanlage.

    Das Rhone-Tal von Lyon bis hinunter nach Avignon ist weit über seine Grenzen hinaus bekannt für seine Weine - der gängigste unter ihnen ist der Cotes du Rhone. Schon Anfang der 60ger Jahre haben sich die Winzer östlich der Atomanlage zusammengetan, um im Hinterland der Rhone unter eigener Herkunftsbezeichnung den "Coteaux du Tricastin" anzubauen. Dieser Name wird den Weinbauern nun nach den Störfällen des Sommers zum Verhängnis. Die 340 Winzer fürchten um ihre Absatzchance, auch Stephane Hemard, der grade erst vor drei Jahren das Weingut Saint Luc gekauft hat, zehn Kilometer Luftlinie von Tricastin entfernt.

    Schlechte Absatzchance
    Die Winzer östlich von Tricastin
    Von der sonst üblichen Euphorie, wenige Wochen nach einer nicht exzellenten, aber auch nicht enttäuschenden Weinlese, ist in der Kelter von Stephane Hemard wenig zu spüren. Die Mitarbeiter des 20 Hektar großen Weinguts Saint Luc in der Hügellandschaft 10 Kilometer östlich von Tricastin, scheinen den Atem anzuhalten. Die Störfälle des Sommers unten in der Atomschneise haben ihre Nerven reichlich strapaziert.
    " Am 8. Juli, nach dem Störfall, habe ich gar nichts gemerkt, weil ich gar nicht auf dem Laufenden war. Erst zwei Tage später wurde mir klar, dass was passiert ist, als unsere Kunden plötzlich zögerten, unsere Tricastinweine zu kaufen. Bei Besuchen der Weinhändler und Restaurants, die ich beliefere, hörte ich plötzlich: na ja, das ist ärgerlich, meinst du nicht dass deine Trauben radioaktiv sind - ziemlich unsinnig, schließlich kommen meine Weine alle aus den vorhergehenden Jahren. "

    Stephane Hemard ist blass, scheint von der südlichen Sonne dieses Sommers wenig profitiert zu haben. Versonnen streicht er im klimatisierten Weinkeller über einige der 50.000 Flaschen des letzten Jahrgangs. Mittelfristig könnte das Weingut, das einen Teil seiner Gebäude auch als Ferienwohnungen vermietet, das Dreifache produzieren, doch dafür wird es viel Geduld brauchen.

    "Tricastin ist eine Herkunftsbezeichnung, die schwer zu verkaufen ist, weil man eben den gleichen Namen trägt wie eine Atomanlage. Wir waren immer der Meinung, dass es besser wäre, wenn unsere Herkunftsbezeichnung nicht denselben Namen hätte. Im Jahr 2000 haben wir von den Betreibern EDF und dem Areva-Konzern gefordert, dass sie den Namen der Atomanlage ändern, um unserer Herkunftsbezeichnung keinen Schaden zuzufügen, doch sie haben sich geweigert."

    Die Verunsicherung geht so weit, dass sich Stephane Hemard im Sommer zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen hat, der angesichts der Lage seiner Weinberge eigentlich unsinnig war. Er hat seine Rebstöcke, seine Trauben und seinen Wein auf radioaktive Strahlung testen lassen - und zwar ausgerechnet im unabhängigen Strahlenforschungslabor der CRIIRAD in Valence, sozusagen beim Feind der Atomindustrie:

    " Es ging mir vor allem darum, meine Kunden zu beruhigen, was meinen Wein und meine Trauben angeht. Anfang August schon haben wir die Analysen machen lassen und sehr schnell gesehen, dass es keinerlei Spuren gibt, null Radioaktivität. "

    Bislang aber, so sagt der Winzer mit trauriger Mine, hat dieser Schritt konkret kaum etwas gebracht:

    " Erst letzte Woche hat mich ein Wirt aus Metz angerufen und gesagt: Ich kann deinen Wein, auch wenn er exzellent ist, nicht verkaufen, weil er Tricastin heißt, kannst du ihn nicht anders nennen." "

    Angesichts solcher Reaktionen haben die Winzer des Tricastin, schweren Herzens und entgegen ihrer bisherigen Überzeugung, jetzt mehrheitlich beschlossen, den Namen ihrer Weine zu ändern

    "Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder wir gliedern uns in eine andere Herkunftsbezeichnung ein, den Cotes du Rhone, oder wir finden eine andere Bezeichnung, um den Namen Tricastin zu ersetzen. Wir hoffen, dass die administrative Prozedur so weit beschleunigt werden kann, dass wir 2009 eine Ernte haben, die nicht mehr den Namen Tricastin trägt."

    Stephan Hemard wirft einen Blick auf die arbeitende Weinpresse, ein kleingewachsener Arbeiter ist ins Fass gekrochen und schaufelt den Treber heraus, der nächste Jahrgang des tiefdunklen Weins ist in Gärung. Die ernsten Minen aller hier lassen aber keinen Zweifel: auch wenn es zu einer Namensänderung des COTEAUX DU TRICASTIN kommen sollte, wird Stephane Hemards Weingut einen langen Atem brauchen:

    "Über uns schwebt ein Damoklesschwert. Ich bin überzeugt, dass es nie einen wirklichen Atomunfall geben wird, ich habe Vertrauen in die Atomindustrie, sonst hätte ich mich nicht in der Nähe des AKWs niedergelassen - aber jeder kleine Störfall kann in den Medien künftig eben erneut breitgetreten werden."

    Literatur
    Lothar Baier: Jahresfrist. S. Fischer Verlag, 1985