Langsam quält sich der Bus durch tiefe Mulden und über Felsen, quert Bäche und Wasserfälle und manövriert dabei immer nahe am Abgrund entlang. Unten rauscht der Kali Ghandaki, der eine Schlucht zwischen Annapurna und Dhaulagiri gegraben hat - beide Achttausender, deren Eisgipfel von hier aus noch mehr als sechs Kilometer höher in den Himmel ragen. Doch für die Landschaft in der Schlucht hat hier kaum jemand einen Blick. Um das ständige Auf und Ab auszugleichen, halte ich mich vorn am Armaturenbrett fest, stemme die Füße gegen den Boden und spanne die Nackenmuskulatur an. Wer ganz vorne oder hinten sitzt, den reißt es bei jedem Schlagloch aus dem Sitz. Der Fahrer neben mir ist Anfang 20. Er steuert den alten Escher Bus mit den abgefahrenen Reifen geschickt und umsichtig um Haarnadelkurven, und er weicht Motorrädern und Lastwagen aus, die entgegen kommen.
Eine Straße kann man das nicht nennen, eher "Mulipfad in Busbreite". Die Büsche und Bäume links und rechts sind staubbedeckt. Wer hier zu Fuß unterwegs ist, braucht eine Atemmaske. Noch vor einigen Jahren war das untere Mustanggebiet bei Trekkingtouristen beliebt. Für die Einheimischen ist die Straße am Kali Ghandaki Segen und Fluch zugleich, erklärt Suraksha Lalshan, der eine Apfelplantage im Ort Marpha besitzt.
"Für uns Bewohner, die Landwirtschaft betreiben, ist die Straße gut. Als es sie noch nicht gab, haben wir unsere Äpfel für gerade einmal 10 Rupien das Kilo verkaufen können. Nun hat sich das enorm gesteigert, auf 100 Rupien. Wegen des niedrigen Preises verrotteten die Äpfel früher. Aber für den Tourismus ist die Straße ein Problem. Kein Wanderer hat Lust auf dieser Piste zu laufen, denn wenn ein Bus kommt, wird es sehr staubig."
Auf rund 2.000 Metern Höhe weitet sich die Landschaft. Die Ufer werden kahler. Aus Grün wird gelb, ocker- und rostfarben. Die Busfahrt endet in Jomosom, der Distrikthauptstadt des Mustanggebietes. Der Fluss Kali Ghandaki heißt hier oben Mustang Kola. Sein fast ein Kilometer breites Geröllbett ist durchzogen von schmalen Wasserläufen, die sich wie Adern verzweigen. Sie bewässern Terrassenfelder, auf denen Apfelbäume, Buchweizen und Gerste wachsen. Wenn ab 11 Uhr vormittags lokale Windströmungen mit Macht durch die Schlucht stürmen, wird auch der kleine Flughafen in Jomosom geschlossen. Diese Kerbe im Himalaja saugt wie ein Kamin die warme Luft aus dem Süden in Richtung Norden an. Für das obere Mustanggebiet brauchen Ausländer ein besonderes Permit. Und von hier ab geht es nur mit Jeeps weiter. Oder zu Fuß.
Im Winter kaum Verdienstmöglichkeiten in Ober-Mustang
Bald verengt sich das Tal wieder. Der Mustang Fluss hat weiter im Norden einen tiefen Canon gegraben, der von bizarren Türmen flankiert ist. Wie riesige Orgelpfeifen aneinandergereiht, in Farben von Beige bis Anthrazit, geben sie der Landschaft Rhythmus und eine Architektur, die an Burgen oder Kathedralen erinnert. Diese verzauberte Welt ist das Werk der großen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht, dazu der stetige Wind, der die Erosion noch einmal extra befeuert. Im Kontrast zur sonnendurchfluteten Landschaft steht ein wolkenloser, dunkelblauer Himmel.
Die Piste für Allradfahrzeuge, Mulikarawanen und auch der Trekkingpfad schlängeln sich von nun an immer wieder zu Passen hoch. Bündel von Gebetsfahnen flattern dort im eisigen Wind. Von oben öffnet sich ein nächstes Tal mit einer Siedlung, die wie eine Oase in dieser Steinwüste aufscheint: Flachdachhäuser, überragt von Klöstern und Burgen. Aber dazwischen liegen für das Auge verborgen, tiefe Schluchten und Wasserläufe, die gequert werden müssen. Die Luft ist so gläsern klar, das Entferntes heranrückt. Es dauert aber viele Stunden bis man einen Ort dann auch erreicht.
Die vom Wind geformten schroffen Gebirgszüge, schmale Wege an rutschigen Hängen und Pässe von über 4.000 Metern Höhe hielten ausländische Reisende lange fern. Nur Händler waren Jahrhunderte lang auf diesen Routen unterwegs. Sie brachten Tierfelle, Wolle und vor allem Salz aus dem Norden und tauschten ihre Waren gegen Getreide und Gebrauchsgegenstände aus Indien ein. Dieser Handel bescherte Mustang ein gutes Einkommen. Ende des 18. Jahrhunderts eroberten nepalesische Truppen dann das obere Mustanggebiet. Das Königreich wurde tributpflichtig und verlor die Steuereinnahmen aus dem Handel. Mit der Schließung Tibets 1960 lag Mustang völlig isoliert jenseits des Himalajas und wurde verbotenes Land. Erst seit 1992 dürfen Touristen nach Ober-Mustang, gegen ein hohes Eintrittsgeld. Im Jahr 2012 kamen etwa 1.000 Besucher. Die meisten gehen zu Fuß. Nur die Einheimischen benutzen die einigermaßen befahrbare Piste. Zu Beginn und zum Ende des Winters ist die Fluktuation besonders hoch. Wer kann, verbringt den Winter, der Mustang in einen riesigen Tiefkühlschrank verwandelt, im Süden. Wie Pema Tsering, 30 Jahre alt und in Mustang geboren.
"Im Winter gibt es im Ober-Mustang keinerlei Verdienstmöglichkeiten und deshalb gehen wir auf Arbeitssuche, um die Sommerersparnisse etwas aufzubessern. Es hat keinen Sinn, beschäftigungslos zu Hause zu sitzen. Praktisch alle junge Menschen ziehen in den Süden, manche nach Indien, andere ins Kathmandutal. Mit Kleidung, die ich in Kathmandu kaufe, wandere ich im Winter in die entlegenen Bergregionen Nepals, um die Einwohner dort zu versorgen. Nur alte Menschen bleiben im Winter in Mustang."
Touristen-Unterkünfte auch in den Häusern der Einheimischen
Nur ein paar Jeeps mit Einheimischen begegnen uns die ersten Tage. Die nur mühsam befahrbaren Pfade sind steil, staubig und ausgesetzt. Bis dann die Nachricht kommt, dass eines dieser meist völlig überladenen Transportmittel in die Tiefe gestürzt ist. Nicht alle Insassen konnten sich retten. Von nun an ist Autofahren erst einmal verboten. Wie eh und je müssen die Bewohner wieder reiten oder zu Fuß gehen. Und sobald die Sonne hinter den Bergen verschwindet, wird es eisig kalt.
Unterkunft gibt es seit zwei Jahren für die Touristen auch in den Häusern der Einheimischen, und nicht länger nur in Zelten. In Parterre der massiven Steinbauten werden die Tiere gehalten, Yaks oder Ziegen. Die Mauern sind oft einen halben Meter dick, um die Kälte abzuhalten. Steile Hühnerleitern führen zu den Räumen im ersten Stock rund um einen geschlossenen Innenhof, als Schutz vor dem Wind. Die Räume haben nur kleine Fenster. Holzbetten mit Schaumstoffmatratzen, ein niedriger Tisch und für alle ein einziges Stehklo, mehr Komfort gibt es nicht.
Zum Aufwärmen versammeln sich die Begleiter der Touristen, ihre Guides und Träger, in der warmen Küche. Die Zeit bis zum Abendessen nutzen sie für ein paar Gläser des einheimischen Biers, das bald Wirkung zeigt. Alle kommen aus dem Süden Nepals. Lopas, wie die Einheimischen sich selbst nennen, eignen sich nicht für diese Jobs, sagt Pema Tsering.
"Wir jungen Leute aus Mustang können kein Englisch, deshalb sind wir nicht mit den Touristen unterwegs. Erst seit kurzer Zeit lernen die Kinder in Mustang Englisch in der Schule."
Nach fünf Tagen Fußmarsch ab Jomosom erreichen wir die Hauptstadt von Ober-Mustang, Lo Manthang. Die weißgetünchten Flachdachhäuser und die buddhistischen Klöster in dunklem Rot sind umgeben von einer mittelalterlichen Stadtmauer mit Türmen. In kleinen Läden werden Souvenirs, Konserven und Getränke verkauft. Für die Touristen, denn die Bewohner sind meist Selbstversorger. Die Gassen, nicht breiter als zwei Meter, öffnen sich zu kleinen Plätzen. Dort sitzen windgeschützt in der Sonne entweder die Männer, die rauchen und Radio hören, oder Frauen, die Schafswolle kämmen. Gleich hinter dem einzigen Stadttor von Lo Manthang liegt der Königspalast. Gegen eine Spende empfängt ein Verwandter des Königshauses sogar zu einer Audienz.
Gebetsmühlen hängen am Eingang, steile Holztreppen führen durch dunkle Räume, drei Stockwerke hoch in den Empfangssaal. Vor den Sitzbänken, die mit dicken Teppichen gepolstert sind, stehen Holztische, die wie Kommoden aussehen. In Glasvitrinen an der Wand reihen sich Fotos, Statuen und Kupfergefäße. Der etwa 50-jährige Jigme Senge trägt Sportkleidung und eine Basecap auf dem Kopf. Als Gast überreichen wir ihm eine weiße Schärpe, die er als Zeichen der Wertschätzung gleich wieder zurückgibt. Eine Frau reicht Tee und Gebäck. Ehe es die Straße in den Süden gab, gingen die Einheimischen über die nahe Grenze nach Tibet, das von China besetzt ist, um dort einzukaufen. Und wie ist das heute?
Wasserknappheit in der Region macht Zukunft ungewiss
"Die Lieferung von Lebensmitteln wie Getreide war früher sehr mühselig. Deshalb haben wir alles von den Chinesen gekauft. Der Markt von damals besteht immer noch. Heute ist es für uns einfacher, Reis und Mehl in Pokhara zu besorgen, denn es ist frischer und obendrein auch billiger. Aus dem Norden kommen aber immer noch Cola, Bier und Decken."
Jigme Senge erzählt, dass sein Vater, der über 80 ist, nun zurückgezogen lebt. Seit der König von Nepal seinen Thron verloren hat, ist auch der von Mustang nur noch Bürger seines Landes. Die Menschen hier zollen ihm aber nach wie Respekt. Er selbst nennt sich nun "Kultur König". In seinem Namen hat der Sohn eine Stiftung ins Leben gerufen.
"Mustang ist in vieler Hinsicht ein rückständiges Gebiet. Mit dieser Stiftung wollen wir unsere Kultur und unsere Sprache besser bewahren. Viele Jahre hat mein Vater die nepalesische Regierung gebeten, Tibetisch-Unterricht in den Schulen einzuführen. Diese Sprache ist das Fundament unserer Kultur und deshalb brauchen wir Lehrer. Aber alle seine Bemühungen waren vergeblich."
Die "Jigme Stiftung" konnte mit Geld aus dem Ausland eine Privatschule für buddhistische Mönche eröffnen. Dort lernen sie nicht nur Tibetisch, sondern auch Englisch und Naturwissenschaften. Wangyal Gurung ist einer der wenigen jungen Lopas, die dauerhaft wieder in ihre Heimat zurückkehren konnten.
"Ich bin hier in Mustang geboren. Aber meine Kindheit habe ich in Kathmandu verbracht. Für die Landwirtschaft tauge ich nicht. Ein Feld beackern, nach den Tieren sehen, dass könnte ich nicht. Nun muss ich mich hier aber um meine Familie kümmern, deshalb bin ich froh über diese Stelle als Lehrer."
In Mustang bleiben oder gehen? Für die meisten Frauen stellt sich diese Frage erst gar nicht. Im Winter, wenn viele Männer zum Arbeiten in den Süden gehen, müssen sie sich ums Haus und die Tiere kümmern. Lasten tragen sie in Weidekörben mit einem Band um die Stirn. Die Wege sind steil. Nach der Tagesarbeit finden einige Frauen noch die Kraft für eine Tanzschau vor Touristen, um die Haushaltskasse aufzubessern.
Sie stehen im Halbkreis und klopfen den Rhythmus mit den Füßen mit. Sie besingen die Schönheit ihrer Heimat, die bedroht ist. Es fehlt an Wasser. Die Himalajakette wird unter dem Druck des Subkontinents immer weiter in die Höhe gedrückt. Immer weniger Regenwolken schaffen es über die 7.000 und 8.000 Meter hohen Gipfel, die Mustang im Süden begrenzen. Dazu schmelzen die Gletscher weiter ab. Wenn diese Eisreserven erschöpft sind, wird Mustang zur Wüste. Vielleicht schon in 50 Jahren.