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Straßenverkehr als Evolutionstreiber

Jährlich sterben in den USA rund 80 Millionen Vögel, weil sie mit Autos zusammenstoßen. Können sie jedoch Fahrzeugen sicher ausweichen, haben sie einen Überlebensvorteil. Diesen Selektionsfaktor in der Evolution hat ein US-Forscher am Beispiel von Schwalben untersucht.

Von Lucian Haas |
    Es ist ein ungewöhnlicher Sammeltrieb, der Charles Brown zu seinen überraschenden Erkenntnissen führte. Der US-Biologe von der Universität von Tulsa studiert das Verhalten von Fahlstirnschwalben. Die Vögel nisten zu Hunderten unter den Überhängen von Straßenbrücken. Seit 30 Jahren schon fährt er nahezu täglich diverse Vogelkolonien rund um die biologische Forschungsstation Cedar Point im US-Bundesstaat Nebraska an. Und wenn er auf seinen Wegen tote Schwalben am Straßenrand sieht, etwa weil sie von einem Auto erfasst wurden, hält er an und nimmt sie mit.

    "Ich habe mittlerweile über 2000 Exemplare. Viele davon sind allerdings während extremer Wetterlagen gestorben, sie sind verhungert. Von den Schwalben, die dem Straßenverkehr zum Opfer fielen, habe ich mehrere hundert. Ich habe alle Vögel aufbewahrt, die ich über die Jahre gefunden habe. Das ist schon eine ansehnliche Sammlung von Fahlstirnschwalben."

    Über die Jahre hinweg gewann Charles Brown allerdings den Eindruck, dass sich irgendetwas verändert hat. Es war anfangs nur eine Intuition, der er nachging.

    "Ich hatte das Gefühl, dass wir mit der Zeit weniger Verkehrstote unter den Vögeln sahen. Ich prüfte die Statistik der Tiere, die wir über die 30 Jahre hinweg gesammelt hatten, und dabei fand ich den Rückgang bestätigt. So kam ich zu der Frage: Könnten diese vom Verkehr getöteten Vögel eine besondere Gruppe innerhalb der Schwalbenpopulation darstellen?"

    Der Biologe verglich die Flügelmaße der Schwalben in seiner Sammlung. Dabei fand er heraus, dass die Flügel der Vögel über die Jahre im Durschnitt kürzer geworden waren. Die von den Autos getöteten Tiere allerdings hatten signifikant längere Flügel – und diese Abweichung vom Durchschnitt trat mit der Zeit immer deutlicher hervor.

    Der Forscher sieht darin die Evolution am Werk. Wenn Schwalben mit größeren Flügeln häufiger von Autos erfasst und getötet werden, pflanzen sich eher die Tiere mit kleineren Flügeln fort. Der Verkehr wirkt somit als Selektionsfaktor.

    "Vögel mit längeren Flügeln sind nicht so manövrierfähig. Ihr Kurvenradius im Flug ist größer. Deshalb könnte es sein, dass es den Vögeln mit längeren Flügeln schwerer fällt, den Autos auszuweichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie getroffen werden, ist höher. Vögel mit kürzeren Flügeln wiederum können auch vertikal schneller aufsteigen. Das könnte ebenso wichtig sein, um einem Fahrzeug auf Kollisionskurs zu entwischen."

    Charles Brown machte noch andere Beobachtungen. Über die Jahre hinweg stellte er fest, dass immer mehr Fahlstirnschwalben in Nebraska direkt an den Straßen nisten. Ihre Kolonien wachsen. Und das, obwohl der Verkehr zugenommen hat und heute tendenziell größere Autos auf den Straßen unterwegs sind als früher. Trotz der davon ausgehenden Gefahr profitieren die Vögel unterm Strich von der Verkehrsinfrastruktur. Brücken und andere Straßenüberbauten bieten ihnen Nistplätze, an denen sie besonders gut vor Unwettern geschützt sind. Und dank der kürzeren Flügel fallen die fahrenden Autos als Risikofaktor für das Überleben der Schwalben immer weniger ins Gewicht.

    "Die Lehre aus dieser Studie ist, dass manche Tiere sich schnell an eine urban geprägte Umwelt anpassen können. Sie zeigt auch, dass Evolution über sehr kurze Zeitspannen stattfinden kann. Im Verlauf von 30 Jahren hat die natürliche Selektion jenen Vögeln einen Vorteil verschafft, die Zusammenstöße mit Autos vermeiden können."