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Die Entwertung von Popmusik

Musik ist allgegenwärtig und spielt im Leben der meisten Menschen eine sehr große Rolle - unsere Bereitschaft, für diese Musik zu bezahlen, ist allerdings sehr gering. Eine Entwicklung, die durch Streamingdienste ihren Höhepunkt erreicht hat. Warum ist uns Popmusik immer weniger wert?

Von Mike Herbstreuth | 04.07.2020
Hand hält Mobiltelefon, die Szene ist in grünes Licht getaucht.
Pro Stream verdienen Musikerinnen und Musiker auf Spotify ca. 0,3 Cent (imago stock&people/ images / Newscast)
32,99 DM - so viel hat die alte "The Dome"-CD aus dem Jahr 1997 gekostet, die ich vor kurzem in einer alten Kiste gefunden habe. 32,99 DM für insgesamt 40 Songs, was mir damals wie ein fairer Preis vorkam - 40 Hits, die ich hören konnte, wann immer ich wollte und nicht darauf warten musste, dass sie mal im Radio oder bei MTV gespielt wurden. Heute bekommt man für den gleichen Betrag Zugang zu über 50 Millionen Songs - auf Streamingdiensten wie Spotify, Deezer oder Apple Music.
Dass wir für ein Monatsabo von nur zehn Euro Zugriff auf fast jeden Song der Popgeschichte haben, hat die Art beeinflusst, wie wir den Wert von Popsongs einschätzen - das glaubt jedenfalls der britische Musiksoziologe Lee Marshall. Er hat einen Fachartikel darüber geschrieben mit dem Titel "Do People Value Recorded Music?" Und was unsere ökonomische Wertschätzung für Musik angeht, kommt er zu einem ziemlich verheerenden Fazit: Nein, tun wir nicht. Zumindest schätzen die meisten von uns Musik nicht so sehr, wie wir gerne glauben. Das sieht auch David Hesmondhalgh so - er ist Kulturwissenschaftler an der Universität Leeds.
"Ich glaube es gibt da ein Missverhältnis: Auf der einen Seite ist da der sehr hohe Wert, den Menschen Musik beimessen – also: wie sehr sie sie lieben, wie viel sie ihnen bedeutet und wie gerne sie sie in ihrem Leben haben. Und auf der anderen Seite die sehr geringe Bereitschaft, Geld dafür zu bezahlen. Und die technologischen Entwicklungen und Veränderungen in der Musikindustrie spielen eine große Rolle bei der Frage, was wir bereit sind, für Musik zu zahlen."
Missverhältnis zwischen Bedeutung und Zahlungsbereitschaft
Dieses Missverhältnis hat seinen Ursprung in der einheitlichen Preisgestaltung von Musikformaten, argumentiert Lee Marshall in "Do People Value Recorded Music?". Jede CD in einem Plattenladen koste ungefähr das gleiche, jeder digitale Song in einem Download-Store koste ungefähr das gleiche. Den Konsumierenden werde dadurch suggeriert: Das ist der Preis für eine CD, das ist der Preis für einen Song - nicht: das ist der Preis für ein Stück Musik von dieser speziellen Band.
So habe sich laut Marshall über Jahrzehnte hinweg die Vorstellung verfestigt, dass man für die Form der Musik bezahle, also für die Schallplatte oder die CD, nicht für die Musik selbst - was auch erklären würde, warum bei einer Umfrage der BBC im Jahr 2016 ganze 48% der Vinyl-KäuferInnen angegeben haben, dass sie ihre neuesten Schallplatten noch nie gespielt haben. Und warum laut British Phonographic Industry im Jahr 2013 in Großbritannien ein Drittel aller gekauften Tonträger Geschenke waren: es ist das Objekt mit all seinem symbolischen Wert, das zählt - nicht die Musik auf diesem Objekt.
Was bedeutet das also für den Wert von Musik, wenn wir nur noch Streamen und die Musik damit komplett von einem Objekt entkoppelt ist? Wenn Künstlerinnen und Künstler pro Stream zum Beispiel bei Spotify nur 0,3 Cent bekommen?
"Streaming ist legale Piraterie"
"Streaming ist legale Piraterie. Es erlaubt den Leuten ohne schlechtes Gewissen Musik zu hören, ohne dafür zu bezahlen", findet die amerikanischen Musikerin Zola Jesus. Auf Spotify hat sie aktuell über 193.000 monatliche Hörerinnen und Hörer. Ihr erfolgreichster Song auf der Plattform: "Skin" mit über 6,5 Millionen Streams.
"Streaming hat Musik für die Hörerinnen und Hörer komplett entwertet. Und obwohl Musik durch Streamingdienste ein immer größerer Teil im Leben der Leute wird und sie mit nur einem Klick auf mehr Musik als jemals zuvor zugreifen und neue Musik entdecken können, wird der Betrag, den sie bereit sind für Musik zu zahlen, immer kleiner. Alle glauben, nur weil sie 10 Dollar im Monat bezahlen, sollten sie Zugang zu allen Songs der Welt haben. Und klar, das ist toll und ich weiß zu schätzen, dass jede Person mit Spotify-Account meine Musik hören kann - aber das geht auf Kosten meiner Kunst. Meine Musik wird dadurch so sehr entwertet, dass es für mich eigentlich keinen Sinn mehr macht, Geld zu investieren, um ein aufwendiges Album aufzunehmen. Ich kann diese Investition nicht mehr rechtfertigen, weil ich das Geld nicht wieder einspielen werde."
Besonders kritisch sieht Zola Jesus dabei die Fixierung von Spotify auf sogenannte Mood-Playlisten - Musik für spezielle Stimmungen: Musik zum Lernen, Musik zum Joggen, Musik zum Kochen. "Music For Every Mood" heißt auch ein aktueller Werbeslogan von Spotify, und die Grundlage für diesen Fokus auf Mood-Playlisten beschrieb Spotify-Chef Daniel Ek 2015 so: "Die Leute suchen nicht mehr nach Genres wie HipHop oder Country – sie suchen nach Musik, die zu bestimmten Events oder Aktivitäten passt."
Die Künstlerinnen und Künstler, ihr Werk und der Kontext werden immer unwichtiger - was zählt, sind hauptsächlich einzelne Songs, glaubt Zola Jesus.
"Es ist deprimierend, gerade Künstlerin zu sein"
"Die Userinnen und User hören immer mehr diese Playlisten, und die bestehen nur aus Singles. Sie haben keine Beziehung mehr zum Album als Gesamtwerk, denn kaum jemand hört sich noch komplette Alben durch. Höchstens ein Mal, sonst nur mal hier und da einen Song daraus. Man hat sich das Album ja nicht gekauft, also muss man auch keine Zeit damit verbringen. Man hat nichts investiert. Und das verändert die Verbindung und Beziehung zu der Musik, die man hört."
Die Musikerin erzählt, wie schwer es für sie ist, unter diesen Umständen kreativ zu sein. Und dass sie sich öfter mal fragt, ob das denn alles überhaupt noch einen Sinn ergibt, wenn ihre sehr kathartische und emotionale Musik bei den meisten Menschen einfach nur im Hintergrund läuft.
"Es hat meine Beziehung zu dem, was ich tue, komplett verändert. Und auch dazu, was ich inspirierend finde und als Künstlerin ausdrücken will. Denn ich habe das Gefühl, dass es für meine Art von Musik immer weniger Platz gibt. Klar, es gibt zwar mehr Zugang dazu und viel mehr potenzielle HörerInnen, aber kaum noch einen Platz dafür im Alltag. Es ist wirklich traurig. Irgendwie ziemlich deprimierend, gerade Künstlerin zu sein."
Suche nach neuen Streaming-Erlösmodellen
Laut Austin Hou bekommen Musikerinnen und Musiker, von all den Umsätzen, die ihre Kunst generiert, nur ca. 11 Prozent. Hou ist Musikfan und Gründer der Plattform Currents, die dazu beitragen will, dass Musikerinnen und Musiker mehr vom Streaming ihrer Songs haben.
"Es gab in der Vergangenheit diesen Moment, da hatten wir alle große Hoffnung in die Versprechen der Technologie und wie sich die Musikindustrie durch das Internet verändern könnte. Es wurde einfacher, Musik zu produzieren und auch die Verbreitung wurde einfacher. Aber jetzt, ein paar Jahre später, fühlt es sich so an, als hätte sich nichts geändert. Es ist ja nicht so, dass die Leute kein Geld für Musik ausgeben würden - die Umsätze der Musikindustrie steigen Jahr für Jahr. Spotify war 2018 nach dem Börsengang das wertvollste Unternehmen der Welt! Aber von diesem Geld fließt nichts zurück an die Musik-Community."
Um diese Community zu unterstützen, bietet Currents Fans, Künstlerinnen und Künstlern die Möglichkeit, eigene Playlisten zu erstellen und zu kommentieren. Musikerinnen und Musiker können ihre Songs auf der Website einbinden oder hochladen und Fans können sie mit Spenden unterstützen.
Auf den Currents-Seiten der Künstlerinnen und Künstler sind Statistiken eingeblendet: eine Spende von 9 Dollar im Monat ist demnach gleich viel wert wie 65.000 Streams im Jahr auf Spotify, oder auch 385.000 Klicks im Jahr auf YouTube. Diese Zahlen machen noch einmal sehr deutlich, wie schwer es Musikerinnen und Musiker in Zeiten der Digitalisierung haben, alleine mit ihrer Musik Geld zu verdienen. Aber die Schuld dafür will Hou nicht allein den Streamingplattformen geben.
Der Wert kreativer Arbeit
"Es wäre zu einfach zu sagen, dass Streaming das Problem ist. Oder dass die Musikindustrie schon immer so war. Klar, das stimmt zwar auf gewisse Weise auch. Aber es ist auch diese fast schon bösartige Art, wie wir Musik Wert beimessen. Jedes Album auf der Welt kostet dasselbe, jeder Song kostet dasselbe. Und es ist total absurd, wenn man mal ein bisschen genauer drüber nachdenkt. So als ob man sagen würde: jedes Gemälde kostet 50 Dollar. Und ich glaube, das kommt daher, dass es einfach sehr schwierig ist, kreativer Arbeit einen Preis beizumessen. Und deshalb machen die Unternehmen es uns einfach, indem sie das Ganze so gestalten, dass wir gar nicht erst darüber nachdenken müssen. Wie viel sollte Kunst kosten? Und viel ist sie uns wirklich wert? Und natürlich auch: wie viel ist sie uns nicht wert? Das sind fundamentale Fragen, wenn es um den Wert von kreativer Arbeit geht, und darüber sollten wir dringend anfangen zu sprechen. Und wir versuchen, diese Diskussion anzustoßen. Warum kostet etwas soundso viel und was fehlt bei diesem Preis vielleicht?
Es wird interessant zu sehen, ob Projekte wie Currents oder fairere Streamingplattformen wie Resonate oder Bandcamp es schaffen, diese Fragen mehr in unser Bewusstsein zu rücken - und vielleicht sogar dafür sorgen können, dass Musikerinnen und Musiker im Streamingzeitalter besser von ihren Alben leben können. Oder ob Live-Shows in Zukunft eine noch wichtigere Rolle als Einnahmequelle einnehmen werden. Vielleicht werden Musikerinnen, Musiker und Musikfans aber auch der bitteren Wahrheit ins Auge sehen müssen, die der britische Kulturwissenschaftler David Hesmodhalgh so beschreibt:
Wird die Rolle von Musik überschätzt?
"Ich glaube, diejenigen von uns, die Musik lieben und in deren Leben sie eine große Rolle spielt, überschätzen manchmal, wie groß der Teil der Bevölkerung ist, der diese Art von Beziehung zu Musik hat. Psychologische Studien haben herausgefunden, dass die meisten Menschen im Alltag Musik nur nebenbei nutzen. Sie können sich meistens überhaupt nicht daran erinnern, was sie gehört haben. Vielleicht interessiert es sie auch einfach gar nicht. Und MusikliebhaberInnen verurteilen diese Art von Musikkonsum oft sehr harsch - aber auch unfairerweise, könnte man sagen. Denn diese Art des Musikhörens ist nichts Neues. Das Radio hat diese Rolle früher gespielt. Und jetzt übernehmen die Streamingdienste diese Rolle mehr und mehr."
An Playlisten wird es also auch in Zukunft kein Vorbeikommen geben. Aber mit Blick auf all die Musikerinnen und Musiker, die durch die Pandemie und die dadurch ausgefallenen Konzerte am Existenzminimum kratzen, scheint es allerdings trotzdem notwendig, sich über neue Streaming-Erlösmodelle Gedanken zu machen. Und sich immer wieder die Frage stellen: Was ist mir Musik wert?
Zola Jesus ist sicher jedenfalls nicht sicher, ob sich das aktuelle System verändern lässt - aber sie will dafür kämpfen: "Ich wünschte, die Musikindustrie würde sich neu strukturieren, damit sie fairer und gerechter wäre. Aber das sehe ich nicht kommen, so lange der Kapitalismus als ökonomische Form nicht komplett neu gedacht wird. Es wird im Kapitalismus nämlich immer Geschäftsleute an der Spitze geben, die aus der Kunst Profit schlagen wollen. Und da ist es einfach unausweichlich, dass Künstlerinnen und Künstler ausgebeutet werden. In einer idealen Welt würden die Stimmen der Musikerinnen und Musiker zählen und sie wären es, die die Bedingungen vorgeben. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Und ich hoffe, dass es so kommt. Aber dafür müssen wir noch gegen eine ganze Menge Menschen in Machtpositionen kämpfen."