Von allen Büchern, die Jahr für Jahr über Russland geschrieben werden, verkaufen sich die der früher oder aktuell in Moskau stationierten Korrespondenten deutscher Zeitungen, Fernseh- und Radiosender wohl am besten. Dirk Sager, Gerd Ruge, Klaus Bednarz, Boris Reitschuster, Sabine Adler - die Liste ließe sich fortsetzen. Die meisten dieser Bücher sind entweder Reisereportagen, gerne durch Sibirien, oder Versuche, das politische System griffig auf den Punkt zu bringen. Daher die Titel: "Pulverfass Russland", "Putins Demokratur", "Russisches Roulette". Das Buch der FAZ-Korrespondentin Kerstin Holm setzt sich von denen ihrer Kollegen ab, schon durch den Titel: Kerstin Holm versucht in "Moskaus Macht und Musen" parallele Blicke auf die russische Gesellschaft und die russische Kunst zu werfen. Der Grund liegt auf der Hand: Kerstin Holm ist die einzige Kulturkorrespondentin in Russland, die sich deutsche Medien noch leisten. Auf der Mikroebene führt das zu einer Vielzahl von klugen, unorthodoxen Beobachtungen wie dieser:
"Gleichwohl warb Putin noch kurz nach seiner Amstübernahme mit der Bemerkung um die westliche Verteidigungsgemeinschaft, er könne sich vorstellen, Russland eines Tages in der Nato zu sehen. Doch das Bündnis, das 2008 den ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine die Nato Mitgliedschaft in Aussicht stellte und Manöver mit ihnen abhielt, rückte unter Versicherungen, dies sei nicht gegen Russland gerichtet, immer näher. Putin muss sich vorgekommen sein wie Macbeth im fünften Akt, der den Wald von Birnam auf sich zukommen sieht."
Kerstin Holm unterteilt "Moskaus Macht und Musen" mit einem Hang zu Aliterationen in vier große Kapitel: Geheimnis, Gewalt, Glauben, Genuss. In allen vier Kapiteln unternimmt sie impressionistische Streifzüge durch 20 Jahre postsowjetische Geschichte. Die Vielzahl der Themen und Beobachtungen und das Wissen von Kerstin Holm sind dabei ebenso atemberaubend wie verwirrend: In "Geheimnis" zum Beispiel geht es - unter anderem! - um die Öffnung der Partei- und Geheimdienstarchive nach dem Ende der Sowjetunion, um die Voucherprivatisierung der sowjetischen Volkswirtschaft, die Entwicklung der Massenmedien, Katyn, neue russische Geschichtslehrbücher, paramilitärische Mode und rebellische russische Autofahrer im Kampf gegen den Terror der Sirenenlimousinen hoher Beamter.
In "Genuss" erfährt der Leser viel Nützliches über mayonesehaltige Salate, Prostituierte, Wodka und die opulenten Interieurs russischer Restaurants. Von allem ein bisschen, von nichts besonders viel. Viel Buntes, viel Spannendes, manches Großartiges. Allein der Korruptionsskandal rund um den Möbelkonzern "Tri Kita", zu Deutsch "Drei Wale", wäre ein eigenes Buch wert. Als postsowjetische Geschichte taugt ein solcher impressionistischer Reigen naturgemäß nicht - schlicht und einfach deshalb, weil in der Fülle des Materials kein System zu erkennen ist. Holm ist keine Historikerin, sondern Feuilletonistin. Genau das ist die Stärke ihres Buches: Leute, die vorgeben Russland verstanden zu haben und erklären zu können, gibt es ohnehin genug. Holm tut das nicht, sie zeigt Russland wie es ist: verworren, widersprüchlich, chaotisch, vielfältig, faszinierend.
Am Besten ist Holm immer dann, wenn sie Alltagsimpressionen schildert, das Aussehen und den Habitus von Gesprächspartnern, Wohnungseinrichtungen, Szenen des Moskauer Lebens. Hier gelingen ihr zahlreiche aufmerksame, kluge Beobachtungen, die den Wandel der Zeiten einfangen:
"Wie sich Russland auf den Westen zu bewegte und wieder von ihm Abstand nahm, konnte man über die Jahre an dem sich wandelnden Angebot der Moskauer Buchmesse und dem Aussehen ihrer Besucher ablesen. In der ersten Zeit nach dem Ende des Sowjetstaats, als Krimis und Esoterik boomten und die anspruchsvolle Literatur in eine Krise stürzte, kleidete sich ein überwiegender Teil des Publikums noch eine Weile nach der sowjetischen Oppositionellenmode, gern in nachgebleichte Jeansanzüge, und benutzte selten Deodorants. Im Verlauf der neunziger Jahre modernisierten und versachlichten sich Leseverhalten und öffentliches Auftreten. Ratgeber, Enzyklopädien, wirtschaftliche und juristische Fachliteratur eroberten immer größere Marktsegmente. Parallel dazu kleideten und pflegten sich Messebesucher merklich besser. Eine aufstrebende Mittelschicht mit Bildungsambitionen bestimmte zusehends das Bild. Um so eindrucksvoller war es dann zu beobachten, wie spätestens seit Putins zweiter Amtszeit als Präsident Jahr für Jahr merklich mehr Bibliophile mit Bärten, Pferdeschwänzen und in Pullovern undefinierbarer Farbe über die Messe zogen. Während die äußerliche Welt unter den mit der Machtvertikale Verbündeten immer gründlicher aufgeteilt wurde, meldete sich der Habitus derer zurück, die diese Welt gering schätzten."
Solche Geschichten sagen mehr über das Russland von heute, als der dreihundertste Versuch, das Leben von Michail Chodorkowskij oder den Polonium-Mord an Alexander Litwinow auf ein paar Seiten zusammenzufassen. Es ist schade, dass Kerstin Holm nicht den Mut hatte, ganz auf diese großen Namen und Skandale zu verzichten.
Doch neben Zeitgeschichte und Alltagsimpressionen verfügt Holms Buch noch über eine dritte Ebene: Ihre reportagehaften Texte verwebt Holm mit vier Porträts russischer Künstler. Die Schriftsteller Wladimir Sorokin und Alina Wituchnowskaja sind die Kronzeugen für die Kapitel "Geheimnis" und "Gewalt", die Komponisten Wladimir Martynow und Wladimir Tarnopolski für "Glauben" und "Genuss". Holm untersucht hier, wie es auf dem Cover des Buches heißt "die Selbstdeutung der russischen Gesellschaft in Literatur und Musik". Wie ambitioniert dieses Unterfangen ist, wird klar, wenn man sich den umgekehrten Fall vorstellt: Was würde man einem russischen Journalisten sagen, der nach Deutschland kommt, um in Leben und Werk von Helmut Lachenmann, Christian Kracht oder Kraftwerks Ralf Hütter etwas über zwanzig Jahre gesamtdeutsche Selbstdeutung zu erfahren? Bei einem Romancier wie Sorokin, der seine Werke wohl auch selbst als Schriften zur Zeit versteht, mag das noch funktionieren. Auch wenn zumindest dieser Rezensent Kerstin Holms Verehrung für Sorokin nicht teilen kann. Aber die extrem marginale Krawalldichterin und Skandalnudel Alina Wituchnowskaja? Was kann Sie über Russland vermitteln, abgesehen vom Erstaunen darüber, dass es in Moskau möglich ist, mit schwarzen Fingernägeln, Kunst-ist-Tot-Thesen und faschistoidem Blut-und-Gewalt-Geschwafel noch zu provozieren? Adolf Endler hatte sich einst in der ZEIT wortreich geweigert, Wituchnowskajas Essays zu rezensieren. Er habe sonst das Gefühl, "an irgendeiner undefinierbaren Gaunerei teilzuhaben".
Noch schwieriger wird es naturgemäß bei den Komponisten Tarnopolski und Martynow. Schon die Versuche, Dmitrij Schostakowitsch zu einem Kronzeugen der Stalin-Epoche zu machen, sind letztlich alle gescheitert. Die 10.Sinfonie als Kommentar zum Verhältnis zwischen Künstler und Diktator zu lesen, war nie mehr als eine Verbeugung vor Stalin und eine Beleidigung für Schostakowitsch. Die Werke postmoderner Komponisten wie Tarnopolski und Martynow als Selbstdeutung der russischen Gsellschaft der Putin-Ära zu lesen, ist noch deutlich aussichtsloser. Wenn die Passagen über die beiden Komponisten trotzdem zu den Höhepunkten von Holms Buch gehören dann deshalb, weil Martynow und vor allem der 1955 geborene Tarnopolski für sich genommen kluge Männer und wichtige Künstlerpersönlichkeiten mit interessanten Biografien sind. Ob sie und vor allem ihre Werke in irgendeiner Weise typisch oder repräsentativ für die russische Gesellschaft der Jelzin- und Putinjahre sind, darf allerdings getrost bezweifelt werden. Die Welt der Neuen Musik ist sehr klein, Russland aber riesengroß.
Kerstin Holm: Moskaus Macht und Musen. Hinter russischen Fassaden
Die Andere Bibliothek, Band 308, 2012, 240 Seiten, 32 Euro
"Gleichwohl warb Putin noch kurz nach seiner Amstübernahme mit der Bemerkung um die westliche Verteidigungsgemeinschaft, er könne sich vorstellen, Russland eines Tages in der Nato zu sehen. Doch das Bündnis, das 2008 den ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine die Nato Mitgliedschaft in Aussicht stellte und Manöver mit ihnen abhielt, rückte unter Versicherungen, dies sei nicht gegen Russland gerichtet, immer näher. Putin muss sich vorgekommen sein wie Macbeth im fünften Akt, der den Wald von Birnam auf sich zukommen sieht."
Kerstin Holm unterteilt "Moskaus Macht und Musen" mit einem Hang zu Aliterationen in vier große Kapitel: Geheimnis, Gewalt, Glauben, Genuss. In allen vier Kapiteln unternimmt sie impressionistische Streifzüge durch 20 Jahre postsowjetische Geschichte. Die Vielzahl der Themen und Beobachtungen und das Wissen von Kerstin Holm sind dabei ebenso atemberaubend wie verwirrend: In "Geheimnis" zum Beispiel geht es - unter anderem! - um die Öffnung der Partei- und Geheimdienstarchive nach dem Ende der Sowjetunion, um die Voucherprivatisierung der sowjetischen Volkswirtschaft, die Entwicklung der Massenmedien, Katyn, neue russische Geschichtslehrbücher, paramilitärische Mode und rebellische russische Autofahrer im Kampf gegen den Terror der Sirenenlimousinen hoher Beamter.
In "Genuss" erfährt der Leser viel Nützliches über mayonesehaltige Salate, Prostituierte, Wodka und die opulenten Interieurs russischer Restaurants. Von allem ein bisschen, von nichts besonders viel. Viel Buntes, viel Spannendes, manches Großartiges. Allein der Korruptionsskandal rund um den Möbelkonzern "Tri Kita", zu Deutsch "Drei Wale", wäre ein eigenes Buch wert. Als postsowjetische Geschichte taugt ein solcher impressionistischer Reigen naturgemäß nicht - schlicht und einfach deshalb, weil in der Fülle des Materials kein System zu erkennen ist. Holm ist keine Historikerin, sondern Feuilletonistin. Genau das ist die Stärke ihres Buches: Leute, die vorgeben Russland verstanden zu haben und erklären zu können, gibt es ohnehin genug. Holm tut das nicht, sie zeigt Russland wie es ist: verworren, widersprüchlich, chaotisch, vielfältig, faszinierend.
Am Besten ist Holm immer dann, wenn sie Alltagsimpressionen schildert, das Aussehen und den Habitus von Gesprächspartnern, Wohnungseinrichtungen, Szenen des Moskauer Lebens. Hier gelingen ihr zahlreiche aufmerksame, kluge Beobachtungen, die den Wandel der Zeiten einfangen:
"Wie sich Russland auf den Westen zu bewegte und wieder von ihm Abstand nahm, konnte man über die Jahre an dem sich wandelnden Angebot der Moskauer Buchmesse und dem Aussehen ihrer Besucher ablesen. In der ersten Zeit nach dem Ende des Sowjetstaats, als Krimis und Esoterik boomten und die anspruchsvolle Literatur in eine Krise stürzte, kleidete sich ein überwiegender Teil des Publikums noch eine Weile nach der sowjetischen Oppositionellenmode, gern in nachgebleichte Jeansanzüge, und benutzte selten Deodorants. Im Verlauf der neunziger Jahre modernisierten und versachlichten sich Leseverhalten und öffentliches Auftreten. Ratgeber, Enzyklopädien, wirtschaftliche und juristische Fachliteratur eroberten immer größere Marktsegmente. Parallel dazu kleideten und pflegten sich Messebesucher merklich besser. Eine aufstrebende Mittelschicht mit Bildungsambitionen bestimmte zusehends das Bild. Um so eindrucksvoller war es dann zu beobachten, wie spätestens seit Putins zweiter Amtszeit als Präsident Jahr für Jahr merklich mehr Bibliophile mit Bärten, Pferdeschwänzen und in Pullovern undefinierbarer Farbe über die Messe zogen. Während die äußerliche Welt unter den mit der Machtvertikale Verbündeten immer gründlicher aufgeteilt wurde, meldete sich der Habitus derer zurück, die diese Welt gering schätzten."
Solche Geschichten sagen mehr über das Russland von heute, als der dreihundertste Versuch, das Leben von Michail Chodorkowskij oder den Polonium-Mord an Alexander Litwinow auf ein paar Seiten zusammenzufassen. Es ist schade, dass Kerstin Holm nicht den Mut hatte, ganz auf diese großen Namen und Skandale zu verzichten.
Doch neben Zeitgeschichte und Alltagsimpressionen verfügt Holms Buch noch über eine dritte Ebene: Ihre reportagehaften Texte verwebt Holm mit vier Porträts russischer Künstler. Die Schriftsteller Wladimir Sorokin und Alina Wituchnowskaja sind die Kronzeugen für die Kapitel "Geheimnis" und "Gewalt", die Komponisten Wladimir Martynow und Wladimir Tarnopolski für "Glauben" und "Genuss". Holm untersucht hier, wie es auf dem Cover des Buches heißt "die Selbstdeutung der russischen Gesellschaft in Literatur und Musik". Wie ambitioniert dieses Unterfangen ist, wird klar, wenn man sich den umgekehrten Fall vorstellt: Was würde man einem russischen Journalisten sagen, der nach Deutschland kommt, um in Leben und Werk von Helmut Lachenmann, Christian Kracht oder Kraftwerks Ralf Hütter etwas über zwanzig Jahre gesamtdeutsche Selbstdeutung zu erfahren? Bei einem Romancier wie Sorokin, der seine Werke wohl auch selbst als Schriften zur Zeit versteht, mag das noch funktionieren. Auch wenn zumindest dieser Rezensent Kerstin Holms Verehrung für Sorokin nicht teilen kann. Aber die extrem marginale Krawalldichterin und Skandalnudel Alina Wituchnowskaja? Was kann Sie über Russland vermitteln, abgesehen vom Erstaunen darüber, dass es in Moskau möglich ist, mit schwarzen Fingernägeln, Kunst-ist-Tot-Thesen und faschistoidem Blut-und-Gewalt-Geschwafel noch zu provozieren? Adolf Endler hatte sich einst in der ZEIT wortreich geweigert, Wituchnowskajas Essays zu rezensieren. Er habe sonst das Gefühl, "an irgendeiner undefinierbaren Gaunerei teilzuhaben".
Noch schwieriger wird es naturgemäß bei den Komponisten Tarnopolski und Martynow. Schon die Versuche, Dmitrij Schostakowitsch zu einem Kronzeugen der Stalin-Epoche zu machen, sind letztlich alle gescheitert. Die 10.Sinfonie als Kommentar zum Verhältnis zwischen Künstler und Diktator zu lesen, war nie mehr als eine Verbeugung vor Stalin und eine Beleidigung für Schostakowitsch. Die Werke postmoderner Komponisten wie Tarnopolski und Martynow als Selbstdeutung der russischen Gsellschaft der Putin-Ära zu lesen, ist noch deutlich aussichtsloser. Wenn die Passagen über die beiden Komponisten trotzdem zu den Höhepunkten von Holms Buch gehören dann deshalb, weil Martynow und vor allem der 1955 geborene Tarnopolski für sich genommen kluge Männer und wichtige Künstlerpersönlichkeiten mit interessanten Biografien sind. Ob sie und vor allem ihre Werke in irgendeiner Weise typisch oder repräsentativ für die russische Gesellschaft der Jelzin- und Putinjahre sind, darf allerdings getrost bezweifelt werden. Die Welt der Neuen Musik ist sehr klein, Russland aber riesengroß.
Kerstin Holm: Moskaus Macht und Musen. Hinter russischen Fassaden
Die Andere Bibliothek, Band 308, 2012, 240 Seiten, 32 Euro