Mittwoch, 24. April 2024

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Streit um den Mythos "documenta"
"Keine anti-'entartete' Kunstausstellung"

Um die Gründung der Kunstausstellung documenta wurde am Deutschen Historischen Museum (DHM) diskutiert - kontrovers und emotional. Der Mythos, es sei 1955 vor allem um eine Reaktion auf die NS-Kunstpolitik gegangen, sei nicht zu halten, sagte DHM-Direktor Raphael Gross im Dlf.

Raphael Gross im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 18.10.2019
Bundespräsident Theodor Heuss im Gespräch mit Arnold Bode, einem der Gründer der documenta, vor einem Picasso Gemälde bei der ersten documenta 1955
Alte Männer und staatstragende Moderne: Bundespräsident Theodor Heuss mit documenta-Gründer Arnold Bode vor Picasso, 1955 (picture-alliance / dpa)
Stefan Koldehoff: Wir leben im Zeitalter der bröckelnden Gewissheiten – auch in der Kultur. Ein Nobelpreis- oder Ingeborg-Bachmann-Preisträger kann ein guter Autor sein und trotzdem zumindest fragwürdige politische Ansichten haben. Ein expressionistischer Maler kann trotzdem ein glühender Nationalsozialist gewesen sein – auch wenn er, wie Emil Nolde, jahrzehntelang zum Opfer des Regimes stilisiert wurde. Noldes Bilder hingen auch in der ersten "documenta"-Ausstellung, die 1955 stattfand. Und die bis heute als das bewusste Gegenprogramm zur NS-Kunstpolitik galt. Das war sie aber wohl gar nicht. Ein Symposium, das in dieser Woche im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin stattgefunden hat, hat zu anderen Ergebnissen geführt. Julia Friedrich, Kuratorin am Museum Ludwig in Köln, nannte ihren Vortrag: "Wie die documenta den Deutschen half, die Wunden, die sie anderen zugefügt hatten, für ihre eigenen auszugeben – und gleich zu heilen." Bernhard Fulda, Historiker in Cambridge, sprach von einer "Mischung von Heldenverehrung und Künstler-Führerkult" – und entsprechend hoch schlugen die Wellen: erregte Diskussionen, die auch noch anhalten. Frage an Raphael Gross, den Gründungsdirektor des DHM: Was war, zunächst einmal, das Erkenntnisinteresse der Tagung?
Kein Nussbaum, kein Freundlich
Raphael Gross: Der Titel von Julia Friedrich, den Sie genannt haben, der fasst es ganz gut zusammen. Es geht so ein bisschen darum – wie oft in der Zeitgeschichte, und dadurch wird es auch schnell emotional –, dass es gewisse Klischees gibt, an denen zu arbeiten natürlich auch oftmals Verletzungen verbunden sind. Und eines dieser Klischees - was Julia Friedrich sehr beeindruckend und sehr präzise beleuchtet hat -, was dann die entsprechenden Kontroversen ausleuchtet, ist diese Vorstellung, dass die erste documenta so eine reine Antwort auf die nationalsozialistische Kunstpolitik gewesen sei, also quasi: mit der Moderne gegen die "entartete" Kunst. Und sie hat sehr präzise gezeigt, in welcher Weise da eben Maler wie Felix Nussbaum, ermordet in Auschwitz-Birkenau 44, oder Otto Freundlich, ermordet in der Aktion Reinhardt 43; wir wissen noch nicht mal, ob in Majdanek oder in Sobibor, aber auch jemand wie Max Liebermann, der schon in der Weimarer Republik von den völkischen Kulturschaffenden nicht mehr eingeladen worden ist - Wo es dann 55 ganz selbstverständlich war, dass er eben da auch nicht zum Kanon gehört, während jemand wie Emil Nolde dort gefeiert wurde, von dem wir heute etwa durch die Arbeiten von Fulda und Soika wissen, dass er ein überzeugter Antisemit und Nationalsozialist gewesen ist. Und eben das, was wir über die "Deutschstunde" von Lenz wissen, auch nur ein Klischee und nicht die ganze Wahrheit ist.
Koldehoff: Nun könnte man so was, Herr Gross, ja ganz nüchtern wissenschaftlich, quellenbasiert feststellen. Ich hab noch nicht verstanden: Warum löst es so große Emotionen aus? Wie ist offenbar bis heute die documenta besetzt als Institution?
NSDAP-Mitglied mit Sozialdemokrat
Gross: Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die spätere Entwicklung der documenta, die ja dann plötzlich eben auch sehr stark amerikanische, abstrakte Kunst, etwa von MoMA aus, zeigte, schon in der zweiten documenta, die später auch Kunst aus den befeindeten Staaten des "Kalten Krieges" zeigte, die dann später auch führend darin war, etwa die außereuropäische Kunst ins Zentrum zu rücken. Dass die von vielen im Nachhinein als immer schon aufklärerisch, modern, positiv, anti-nationalsozialistisch, anti-faschistisch empfunden worden ist. Und dass natürlich, wenn man dieses Gesamtbild dann anhand von ganz genauen Analysen, etwa eben der ersten documenta, wie es Fulda, wie es Friedrich, aber wie es auch Herr Brauneis gemacht haben auf der Tagung und andere, dass das dann hohe Emotionen auslöst.
Da man eben ein gerne gepflegtes Bild vielleicht da revidieren muss, ist es, glaube ich, auch immer in der Entwicklung der Forschung so, dass sobald da neue Perspektiven drankommen, diejenigen, die vielleicht früher schon durchaus auch kritisch dazu gearbeitet haben, sich irgendwie überholt fühlen. Und dann sozusagen sagen: Überzieht ihr es jetzt nicht mit eurer Kritik? Denn ein Punkt ist natürlich klar: Jemand wie Herr Haftmann, der ein zentraler Player der ersten documenta war und von dem wir heute etwa durch die Forschung von Herrn Fulda wissen, dass er NSDAP-Mitglied gewesen war, dass er ein überzeugter nationalsozialistischer Kunstkritiker war - neben dem stand auch Arnold Bode, der der richtige Gründer war. Er war ein Sozialdemokrat, er hatte bestimmt nicht die identische Perspektive wie Haftmann. Dass die dann zusammen diese documenta 1 und dann 2 und 3 gemacht haben. Das zeigt ja schon, dass so ein ganz einfaches Bild natürlich überhaupt nicht möglich ist. Und trotzdem ist es sehr wichtig, dass jetzt gerade auch jüngere Forscher und Forscherinnen wie Julia Friedrich oder Bernhard Fulda zeigen: Das Bild, das hier einfach eine anti-"entartete" Kunstausstellung stattgefunden hätte 55, das ist wirklich falsch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.