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Streitbarer Essayist und Literaturtheoretiker

Mit seinen provokanten Thesen über den "Provinzialismus der Deutschen" hat Karl Heinz Bohrer, Herausgeber der Zeitschrift "Merkur", für Aufsehen gesorgt. Bei einem Symposion zu seinem 80. Geburtstag bescheinigte ihm der Historiker Paul Nolte, den "Subtext zum politischen Milieu der Bundesrepublik" geliefert zu haben.

Von Christian Gampert | 23.09.2012
    Was schenkt man einem Literaturtheoretiker zum Geburtstag? Marbach schenkte Karl Heinz Bohrer ein Symposion, auf dem noch einmal das ästhetische Programm dieses streitbaren Mannes aufgemacht wurde. "Pathos und Ironie" waren die Oberbegriffe; man hätte auch Spannung, Subjektivität, Imagination oder "Plötzlichkeit" als Wegmarken nehmen können, man hätte die Romantik als den für Bohrer maßgeblichen Vorboten der Moderne extra ins Visier nehmen können – aber das alles kam dann natürlich auch noch zur Sprache. Wichtig ist: Bohrer, der sich heute ganz gerne feiern lässt und als Selbsterklärer in Aktion tritt, ist mit seinem Bestehen auf formalen Ansprüchen und seiner Gegnerschaft zur sozialhistorischen Einebnung, Einbalsamierung von Literatur dann doch jahrelang ein Außenseiter gewesen in der Hochschulgermanistik. War das eine schwierige Rolle?

    Karl Heinz Bohrer: "Das hat mich überhaupt nicht gestört. Zumal ich eigentlich bei der Mehrheit der Kollegen Anerkennung und großes Interesse gefunden habe. Wesentlich ist das Wissen, dass das Fach, die Literaturwissenschaft, die Ästhetik, die Philosophie weltweit eigentlich in eine andere Richtung ging als gerade die deutsche Germanistik."

    Es war in Marbach dem Historiker Paul Nolte vorbehalten, die intellektuellen Animositäten an der Bielefelder Reformuniversität der 80er- und 90er-Jahre noch einmal auf den Punkt zu bringen. Einerseits war da das Fortschrittsbewusstsein der linksliberalen, sozialwissenschaftlich orientierten Wehler-Schule (der Nolte ja selber angehört); andererseits Bohrer mit seinem Bestehen auf den Brüchen und Ambivalenzen. Einerseits die Linken und Systemdenker, andererseits Bohrer mit seinem "komplizierten Ineinander von Mythos und Moderne". Einerseits der oft doch etwas langweilige Habermassche Diskurs, andererseits Bohrer mit seinem Beharren auf dem "Einfall" und dem "Eigensinn der imaginierenden Sprache".

    Nolte charakterisierte Bohrer als "Antityp des Intellektuellen"; er habe aber den "Subtext zum politischen Milieu der Bundesrepublik" geliefert. Niels Werber führte dann vor, wie Bohrers "Pathosformel" bei den Popliteraten der 1990er-Jahre zur bloßen Pose degeneriert, zur Schwundstufe des Pathos – und doch ein Bedürfnis nach "Intensität" (ein Bohrer-Begriff) sich darin ausdrückt, jenseits der "stillosen" Kohl-Republik. Jürgen Paul Schwindt erkannte in der "dezisionistischen Rede" des Büchnerschen Saint-Just den für Bohrer typischen Stil und machte die "ästhetische Negativität" und "Erscheinungsschrecken" als Bohrers Leitbegriffe gegen optimistische Geschichtsentwürfe aus. Und der Berliner SZ-Redakteur Lothar Müller führte vor, wie eben nicht die Aufklärung, sondern die gar nicht reaktionäre deutsche Romantik (und später der Surrealismus) für Bohrer die wesentlichen Referenzpunkte zum Verständnis auch von Gegenwartsliteratur wurden – gemäß der Einsicht von Peter Weiss "nur wo Literatur hermetisch wird, kann sie nach außen explodieren".

    Bohrer ist oft als Reaktionär gescholten worden, aber er ist alles andere als das. Er unterscheidet sehr genau zwischen Ästhetik und Moral, zwischen dem ästhetisch Bösen in der Literatur und dem Bösen in der Politik. Nur die Intensität (vielleicht auch des Bösen), der intensive Augenblick ermöglicht dem Leser neue Erkenntnis, sagt Bohrer:

    "Intensität ist die plötzlich herausbrechende Qualität von etwas, was uns ungeheuer in Anspruch nimmt, ohne dass wir wirklich wissen warum…Es geht also in keinster Weise um die Ästhetisierung widerwärtiger Taten oder so etwas Das ästhetisch Böse in der großen Literatur ist eigentlich, um es auf eine Formel zu bringen, ein Akt der Imagination eines ahnenden Bewusstseins des Lesers – in eine Richtung, die über die Realität hinausführt. Und insofern ist also das ästhetisch Böse sehr oft identisch mit dem Fantastischen."

    Und genau das führt uns zur Selbstreflexion, meint Bohrer. Jan Philipp Reemtsma formulierte das in seinem Schlussreferat dann noch mal neu: indem wir über Literatur reden, reden wir über uns selbst.