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Stresemanns Meisterstück

1926 trat Deutschland dem Völkerbund bei. Damit wurde das Land nur acht Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wieder zu einem geachteten Mitglied der Völkergemeinschaft. Doch die Hoffnungen auf eine dauerhafte Friedenspolitik in der Welt wurden bald zerstört.

Von Volker Ullrich | 10.09.2006
    "Am Genfer See, am Genfer See beraten Diplomaten. Sie tagen, wenn die Sonne lacht und oft auch tagen sie bei Nacht. Am Genfer See, am Genfer See beraten Diplomaten."

    Was der Kabarettist Hermann Leopoldi in den 20er Jahren mit seiner Parodie zum Ausdruck brachte, entsprach einer weitverbreiteten Stimmung. Der 1919 geschaffene Völkerbund war in Deutschland unpopulär, ja im Lager der politischen Rechten sah man in ihm ein reines Instrument der Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Auch der Vorsitzende der Deutschen Volkspartei, Gustav Stresemann, von 1923 bis zu seinem Tode 1929 Außenminister der Weimarer Republik, hatte sich zunächst gegen einen Beitritt Deutschlands zum Völkerbund ausgesprochen, weil er darin ein Hindernis erblickte auf dem Weg zur angestrebten Revision des Versailler Vertrages.

    Doch seit 1924 begann sich seine Haltung zu ändern. Dieser Wandel stand in Zusammenhang mit seinen Bemühungen, mit Frankreich zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zu gelangen. Stresemann erkannte, dass zuallererst dem französischen Sicherheitsbedürfnis Rechnung getragen werden müsse. In den Locarno-Verträgen vom Oktober 1925 verzichteten beide Staaten auf eine Änderung der bestehenden Grenzen. Voraussetzung für die Gültigkeit des Vertragswerks war der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. Es mussten jedoch noch etliche Schwierigkeiten überwunden werden, bis die Vollversammlung am 8. September 1926 der Aufnahme zustimmen konnte. Zwei Tage später wurde sie in einer feierlichen Zeremonie im Genfer Völkerbundspalast besiegelt. Ein Beobachter hat den historischen Moment festgehalten:

    "Beim Erscheinen der deutschen Delegation setzte im ganzen Saal ein wahrer Beifallssturm ein. Von allen Seiten wurde geklatscht und Bravo gerufen. Nur mit Mühe konnten sich die drei deutschen Delegierten den Weg zu ihren Plätzen bahnen. Alle wollten ihnen die Hände schütteln und ihnen persönlich zu diesem großen Ereignis Glück wünschen. Inzwischen tobte das Publikum auf den Tribünen, Tücherwinken, 'Bravo Stresemann'. Eine Szene, wie sie sich im Völkerbund noch nie abgespielt hatte."

    Stürmisch bejubelt wurde auch der französische Außenminister Aristide Briand, der am Schluss seiner Rede ausrief:

    "Weg mit den Gewehren, weg mit den Mitrailleusen, weg mit den Kanonen. Freie Bahn für Versöhnung, Schiedsspruch und Frieden."

    Eine neue Ära schien angebrochen. Doch in Deutschland liefen die Deutschnationalen, unterstützt von der Hugenberg-Presse, gegen Stresemanns Verständigungskurs Sturm. Die deutsche Sozialdemokratie, obwohl noch in der parlamentarischen Opposition, stellte sich jedoch hinter den Außenminister. Einer ihrer Sprecher, Rudolf Breitscheid, erklärte Anfang 1928:

    "Die Organisation des Völkerbunds lässt sehr viele Wünsche unbefriedigt, aber sie ist auch der unter den gegebenen Verhältnissen beste und sicherste Wall gegen die Wiederkehr der fürchterlichen Flut, die von 1914 bis 1918 so viele Werte und so viel Glück zerstört hat und unter deren Folgen noch auf lange Zeit hinaus die ganze Welt leiden wird."

    Die großen Erwartungen, die Stresemann an seine Politik des Ausgleichs mit den Westmächten geknüpft hatte, erfüllten sich nicht sofort. Erst auf der Haager Konferenz 1929 konnte ein Abkommen über die vorzeitige Räumung des Rheinlands erreicht werden. Daran anschließend entwarf der bereits todkranke Außenminister in seiner letzten Rede vor dem Völkerbund am 9. September 1929 die großartige Vision einer europäischen Einigung mit gemeinsamer Währung. Der Schauspieler und Rezitator Alfred Beierle hat die Rede kurz nach Stresemanns Tod nachgesprochen.

    "Ich lehne es ab, die wirtschaftliche Vereinigung und Vereinfachung der europäischen Staaten als eine Utopie anzusehen. Ich halte es vielmehr für eine unbedingte Pflicht, in dieser Richtung zu arbeiten. Freilich wird sich diese Arbeit nicht mit Elan und Hurra lösen lassen. Sie gehört vielmehr zu jenen Tätigkeiten, von denen der Dichter sagt, dass sich zum Bau der Ewigkeiten zwar Sandkorn nur an Sandkorn reiht, doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage, Jahre streicht."

    Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde das internationale Vertrauenskapital, das Stresemann angehäuft hatte, rasch verspielt. Zu einer der ersten außenpolitischen Maßnahmen der Hitler-Regierung gehörte der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund im Oktober 1933.