Paris im März: Auf der place d`Italie im Süden der Hauptstadt ist die Stimmung ausgelassen. Während Ordner versuchen, aus Tausenden Menschen einen Demonstrationszug zu bilden, haben sich einige Studenten untergehakt und singen ihr Lied: Einen Schritt nach vorn, hundert Schritte zurück, das ist die Politik der Regierung.
Die jungen Leute haben sich Müllsäcke über die Jacken gezogen. Einer von ihnen erklärt den Grund:
"Mit dem Erstanstellungsvertrag CPE gelten die Jungen nicht mehr als vollwertige Arbeitnehmer. Man kann sie ohne Begründung wegwerfen, und das wollen wir nicht hinnehmen."
Nicht nur junge Leute sind zur Demonstration gekommen: Er nehme für seinen Sohn an der Kundgebung teil, sagt ein Mann.
"Ich bin 54 Jahre alt. Ich habe zu Beginn der 70er Jahre zu arbeiten begonnen. Damals gab es diese Unsicherheit nicht, die heute herrscht. Ich kann mit 60 Jahren in Rente gehen. Die jungen Leute, die erst mit 28 oder 30 eine Stelle bekommen, stellen Sie sich mal vor, wie lange die mit diesen ganzen unsicheren Verträgen werden arbeiten müssen."
Die jungen Leute befürchten, dass ihre Hochschuldiplome nur noch wenig wert sind. Zwischen acht bis elf Jahre benötigt ein Studienabsolvent durchschnittlich, um eine feste Stelle zu bekommen. Der Erstanstellungsvertrag CPE ist als unbefristeter Vertrag für Arbeitnehmer bis zum vollendeten 26. Lebensjahr geplant, dem eine zweijährige Probezeit vorausgehen soll. Während dieses Zeitraums kann ein Arbeitnehmer jederzeit ohne Angabe von Gründen entlassen werden. Die Gewerkschaften sprechen von einer Aushöhlung des Kündigungsschutzes. Bernard Thibault, der Chef der CGT, meint:
"Wir werden es nicht zulassen, dass in der französischen Gesetzgebung festgeschrieben wird, dass man Beschäftigte mit einem Fingerschnippen entlassen kann."
Wochenlang protestieren und demonstrieren die drei großen Gewerkschaftsorganisationen, ausnahmsweise Seite an Seite. Schüler boykottieren den Unterricht, Studenten hindern ihre arbeitswilligen Kommilitonen daran, an den Lehrveranstaltungen teilzunehmen. An mehreren Hochschulen, darunter an der Pariser Sorbonne, entsteht hoher Sachschaden. Schließlich zieht die Regierung den CPE zurück: Der Erstanstellungsvertrag wird durch einige arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ersetzt, mit denen die Einstellung von gering Qualifizierten gefördert werden sollen. Wieder einmal ist in Frankreich ein Reformvorhaben gescheitert. "Die Straße und die Gewerkschaften, die absolut in der Minderheit sind, haben gewonnen", schimpft Philippe de Villiers, der Chef der rechtskonservativen Partei MPF.
Eine andere Lesart bietet Max Gallo. Für den Schriftsteller und früheren Regierungssprecher steht der CPE für die ultraliberale Globalisierung, von der sich viele Franzosen bedroht fühlen. Das hätten Premierminister und Präsident unterschätzt:
"Dominique de Villepin und Jacques Chirac haben vergessen, dass es in jedem Land einen genetischen Code gibt. In Frankreich ist das Wort Egalité, Gleichheit, von zentraler Bedeutung. Dass ein Arbeitgeber ohne Begründung Leute entlassen kann, bedeutet, dass die Arbeitnehmer in einen Zustand der Ungleichheit zurückversetzt werden."
Premierminister Dominique de Villepin, der politische Verlierer der Auseinandersetzung, wirkt ratlos, als er in einem Fernsehinterview die Frage stellt:
"Wie soll Frankreich sein Sozialmodell bewahren, wenn wir zu den notwendigen Anpassungen nicht bereit sind? Dies macht man ja nicht zum Spaß, sondern um das Sozialmodell zu retten, an dem wir hängen."
Nur durch einen Bruch mit der Politik der vergangenen Jahrzehnte werde Frankreich aus der Krise gelangen können, verkündet Nicolas Sarkozy. Der Innenminister und Vorsitzende der Regierungspartei UMP ist überzeugt: "Das beste Sozialmodell ist dasjenige, das jedem Arbeit gibt. Das ist leider nicht mehr das unsere mit drei Millionen Arbeitslosen".
Eine Arbeitslosenquote von 9,5 Prozent. Der Anteil der Beschäftigungslosen unter 26 Jahre beträgt 23 Prozent. Kein Wunder, meint Alain-Jean Chauchat vom Arbeitgeberverband MEDEF der Pariser Region Ile-de-France. Chauchat leitet einen Betrieb mit sieben Angestellten, der Elektronikbausteine eines US-amerikanischen Konzerns in Europa vermarktet. Der Unternehmer rechnet vor:
"In den Vereinigten Staaten betragen die Sozialabgaben 18 Prozent. Bei einem Monatslohn von 1000 Dollar sind das 180 Dollar. Wenn sie in Frankreich jemandem 1000 Euro zahlen, muss der Betrieb noch einmal 500 Euro für die Sozialabgaben drauflegen."
Außerdem gehöre das gesamte französische Arbeitsrecht auf den Prüfstand, das dafür sorge, dass fast jede Kündigung vor einem Arbeitsgericht ende, meint Monsieur Chauchat, denn dies bilde ein großes Hindernis für Einstellungen.
"Ich bin seit über 30 Jahren Unternehmer. Der schlimmste Moment meiner Arbeit ist der Augenblick einer Entlassung. Das ist zuallererst ein persönliches Scheitern, denn das heißt, dass der Unternehmer nicht in der Lage war, den Kurs zu halten und für Arbeit zu sorgen. Die französischen Medien stellen uns immer so dar, als bereiteten uns Entlassungen eine große Freude. Das ist geradezu eine Irrlehre."
Mit Ausfuhren im Wert von 355 Milliarden Euro lag die Exportleistung der französischen Wirtschaft im vergangenen Jahr abermals unterhalb der vergleichbarer Industrienationen, wenngleich die Ausfuhren in die USA um 9 Prozent und die in den asiatischen Raum um 16 Prozent gesteigert werden konnten. Das schlechte Abschneiden hat strukturelle Gründe: Rund 90 Prozent der Betriebe verfügen über weniger als zehn Mitarbeiter. Zudem bemängelt die Banque de France die wegen des zu geringen Anteils an Hochtechnologie schwindende Wettbewerbsfähigkeit französischer Produkte auf dem Weltmarkt. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) arbeiten französische Beschäftigte im Vergleich mit ihren amerikanischen Kollegen rund 20 Prozent weniger. Die jährlichen Arbeitsstunden liegen acht Prozent unterhalb des Durchschnittswertes innerhalb der Europäischen Union - eine Folge der 35-Stunden-Woche, die unter dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin eingeführt wurde. "Wir haben niemals wirklich daran geglaubt, dass die 35-Stunden-Woche für Beschäftigung sorgt", meint Jean-Claude Mailly, der Vorsitzende der Gewerkschaft Force Ouvrière:
"In Frankreich sind dadurch vielleicht 300.000 Stellen entstanden. Denen stehen aber gewaltige Kosten durch die Senkung der Sozialabgaben der Arbeitgeber gegenüber. Das macht etwa 20 Milliarden Euro aus, und dies belastet den Staatshaushalt sehr."
Zwar gibt es für kleinere Betriebe inzwischen Ausnahmeregelungen, gleichwohl ist die Einführung der 35-Stunden-Woche ein Beispiel dafür, wie der französische Staat in das Wirtschaftsleben eingreift. Ein anderes gibt die Regierung gegenwärtig: Als das italienische Energieunternehmen ENEL eine feindliche Übernahme des französischen Suez-Konzern plante, kündigte der Premierminister persönlich eine Fusion des französischen Energieversorgers mit dem Staatskonzern Gaz de France an, um die Operation zu verhindern. Die Übernahme des Luxemburgischen Stahlproduzenten Arcelor durch Mittal-Steel lehnt Wirtschafts- und Finanzminister Breton mit der Begründung ab, es fehle ein unternehmerisches Konzept. Und selbst als der US-Konzern Pepsico begehrliche Blicke auf den Lebensmittelhersteller Danone warf, waren in Paris Stimmen zu hören, die vor einem Ausverkauf der heimischen Wirtschaft warnten. Die Regierung bezeichnet dieses Verhalten als Wirtschaftspatriotismus. Der frühere Premier- und vormalige Wirtschafts- und Finanzminister Edouard Balladur hält dies für gerechtfertigt.
"Alle Staaten achten darauf, dass ihre großen Unternehmen national bleiben und nicht unter ausländische Kontrolle geraten. Das ist in den Vereinigten Staaten und auch in Deutschland der Fall. Selbst Großbritannien hat Gasprom gerade eine Übernahme des Gasversorgers Centrica verwehrt. Die Frage ist, wo liegen die Grenzen? Im Fall Gaz de France-Suez glaube ich, dass es dem europäischen Geist nicht widerspricht, wenn sich zwei nationale Unternehmen zusammenschließen."
Den Kritikern hält die Regierung entgegen, dass sich etwa 45 Prozent des Kapitals der im französischen Börsenindex CAC 40 notierten Unternehmen in ausländischer Hand befinden. In Deutschland sind es rund 20 Prozent. Einer von sieben Beschäftigten in Frankreich arbeitet für ein ausländisches Unternehmen. In Großbritannien und Deutschland gilt dies für einen von zehn. Außerdem habe die Übernahme und Zerschlagung des Aluminiumherstellers Pechiney durch den kanadischen Wettbewerber Alcan gezeigt, dass der Staat nicht tatenlos zusehen dürfe, wenn französische Technologie bedroht werde. Der Unternehmer Alain-Jean Chauchat sieht das anders.
"Der Staat sollte so schlank wie möglich sein. Er sollte allgemeine Rahmenbedingungen schaffen und alles weitere den wirtschaftlich und sozial Verantwortlichen überlassen. Unser Staat ist viel zu dirigistisch. Seit Colbert, also seit der Zeit Ludwigs XIV., haben wir auch im Wirtschaftsleben eine Vorliebe für Zentralisierung und Hierarchien. Wenn ich sehe, wie unser Staatpräsident auf die Barrikaden steigt, um Danone zu verteidigen, frage ich mich, ob er nicht anderes zu tun hat."
Der französische Staat ist auch Unternehmer, und das kam die Steuerzahler oft teuer zu stehen. Mehr als fünf Milliarden Euro kostete in den 90er Jahren die Sanierung der inzwischen privatisierten Großbank Crédit Lyonnais. Auch der Computerhersteller Bull, geplant als französisches Gegenstück zum US-Unternehmen IBM, entwickelte sich zum Milliardengrab. Das hat Spuren im Staatshaushalt hinterlassen. Seit Anfang der 80er Jahre hat sich der Schuldenberg verzehnfacht, auf 1117 Milliarden Euro, das entspricht 66 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Rechnet man andere rote Zahlen mit ein, etwa die der chronisch defizitären Sozialversicherung "sécurité sociale", so sehen Kritiker die französische Gesamtverschuldung bei rund 2500 Milliarden Euro. 50 Milliarden muss der Wirtschafts- und Finanzminister jährlich allein für die Bedienung der Zinsen einplanen, eine bedrohliche Entwicklung, gibt Thierry Breton zu:
"Die gesamten Einnahmen aus der Einkommensteuer entsprechen der Zinsbelastung durch unsere Schulden. Erstmals werden diese Einnahmen in diesem Jahr nicht für die Zukunft ausgegeben, also für Kindertagesstätten oder Schulen, sondern für die Vergangenheit."
Seit 1981 habe Frankreich mit der modernen Welt gebrochen, sagt der Historiker und Wirtschaftswissenschaftler Nicolas Baverez, Autor eines viel beachteten Buches mit dem Titel "La France qui tombe", Frankreichs Sturz. Mit dem Machtantritt der Linken habe Frankreich Unternehmen verstaatlicht und die Wirtschaft reglementiert, wo andere internationalisierten und deregulierten. Der Anteil der öffentlichen Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt beträgt heute rund 55 Prozent. Der öffentliche Dienst wurde aufgebläht. Viele junge Leute streben eine Anstellung im "service public" an, nicht nur wegen der Sicherheit oder der großzügigen Rentenregelungen.
"Die französischen Bürger fühlen sich dem öffentlichen Dienst bewusst oder unbewusst verbunden", erklärt Jean-Claude Mailly, der Chef der Gewerkschaft Force Ouvrière. "Der 'service public' ist Teil des historischen republikanischen Modells. In Deutschland ist dieses Verhältnis weniger eng. Zu den deutschen Besonderheiten gehört die Furcht vor einer Hyper-Inflation, weil das an die dunklen Jahre erinnert."
Anders als in Deutschland wird die Stabilität der Währung in Frankreich nicht als vorrangig angesehen. Bis vor wenigen Jahren folgte die Nationalbank den Anweisungen der Regierung. Kein Wunder, dass der europäische Stabilitätspakt in Paris keine hohe Wertschätzung genießt. Auf die Mahnungen der Europäischen Kommission, Frankreich müsse mehr sparen, erwiderte der frühere Premierminister Jean-Pierre Raffarin:
"Maastricht ist sehr wichtig, aber Beschäftigung und Wachstum sind ebenfalls sehr wichtig. Meine vorrangige Aufgabe besteht nicht darin, irgendwelche buchhalterischen Gleichungen oder andere mathematischen Fragestellungen zu lösen, um damit irgendein Büro in irgendeinem Land zufriedenzustellen. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass es für die Franzosen Arbeit gibt."
Raffarin, der nach dem Referendum zurücktreten musste, in dem die Franzosen mehrheitlich den Europäischen Verfassungsvertrag abgelehnt hatten, brachte in seiner Amtszeit wichtige Sozialreformen auf den Weg. Gegen den Widerstand der Gewerkschaften erhöhte seine Regierung die für den Bezug der vollen Rente erforderliche Lebensarbeitszeit. Und im Gesundheitssystem wurde zur Finanzierung des zweistelligen Milliardenlochs eine Praxisgebühr in Höhe von einem Euro eingeführt. Außerdem wird die Entwicklung und Nutzung von Arzneimittelkopien, so genannten Generika, gefördert. Das Hausarztprinzip, also der Besuch eines Allgemeinmediziners, ist abgesehen von wenigen Ausnahmen verpflichtend, um die Konsultationen teurer Spezialisten einzuschränken, und eine elektronische Patientenakte soll dazu beitragen, den Missbrauch von medizinischen Leistungen einzuschränken. Nach Angaben der OECD belegt Frankreich mit 9,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes weltweit den fünften Platz der Länder mit den höchsten Gesundheitsaufwendungen. Dies verhinderte jedoch nicht, dass während der außergewöhnlich heißen Sommermonate des Jahres 2003 fast 15.000 überwiegend ältere Menschen starben. Vor allem auch wegen fehlender Pfleger in der Ferienzeit.
Am entgegengesetzten Ende der Alterspyramide sprechen die Zahlen für sich: Zusammen mit Irland verfügt Frankreich über die höchste Geburtenrate in Europa. Laut Statistik bringt jede Französin 1,9 Kinder zur Welt; in Deutschland liegt der Vergleichswert bei 1,3. Trotz leerer Kassen investiert der Staat sowohl in Institutionen, etwa zur Kinderbetreuung, als auch in Personen: Kindergeld, Beihilfen für die Kinderbetreuung, Wohnzuschuss,
Mutterschaftsurlaub, Steuervorteile für Familien, Geburtenprämie, Beihilfen für Alleinerziehende, Berücksichtigung von Kindern bei der Rentenberechnung. In Frankreich hat man längst erkannt, dass Bevölkerungsentwicklung und Ökonomie nicht voneinander zu trennen sind.
"Die positive Entwicklung der Geburtenrate ist ein wichtiger Grund für die Dynamik des privaten Verbrauchs" erklärt Laure Maillard von der Investmentbank Ixix: "Und das ist nicht schwer zu verstehen: Vor allem, wenn das erste Kind kommt, müssen Eltern einiges anschaffen. Unsere Geburtenrate, um die uns ganz Europa beneidet, erklärt eindeutig den steigenden Verbrauch der Haushalte".
Die familienpolitischen Leistungen bilden wie auch die Lohnzuschüsse für die unteren Einkommensgruppen einen Teil der umfangreichen Sozialtransfers, mit denen der Staat den Konsum stützt. Das System der Umverteilung habe inzwischen aber seine Grenzen erreicht, meint Edouard Balladur. "Wir müssen stattdessen für mehr Wachstum sorgen", fordert der ehemalige Premierminister:
"Unser System hat immer noch Modellcharakter, da es der Gerechtigkeit und der Solidarität verpflichtet ist. Aber alles ist eine Frage des Maßes und der Mittel. Freiheit funktioniert nicht ohne Regeln und muss solidarisch bleiben. Aber was passiert, wenn diese Solidarität so hohe Abgaben und eine solche Umverteilung erfordert, dass dies den Aufschwung der Wirtschaft behindert? Hier müssen wir für ein Gleichgewicht sorgen."
Einen Schritt nach vorn, hundert Schritte zurück, das sei die Politik der Regierung, sangen die jungen Leute, die vor wenigen Wochen gegen den Erstanstellungsvertrag CPE auf die Straße gingen. Zu einem anderen Ergebnis kommt das US-amerikanische Nachrichtenmagazin "Time": Einem großen Schritt zurück folgten in Frankreich häufig zwei heimliche Schritte nach vorn. Als Beispiel führt Time die Privatisierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte an. Wer der Meinung sei, Frankreich sei zu Reformen nicht in der Lage, der wiederhole nur Vorurteile. Auf die Titelseite des Magazins ist eine Schnecke in Frankreichs Nationalfarben abgebildet, die einen Pflanzenstängel hochkriecht.
Die jungen Leute haben sich Müllsäcke über die Jacken gezogen. Einer von ihnen erklärt den Grund:
"Mit dem Erstanstellungsvertrag CPE gelten die Jungen nicht mehr als vollwertige Arbeitnehmer. Man kann sie ohne Begründung wegwerfen, und das wollen wir nicht hinnehmen."
Nicht nur junge Leute sind zur Demonstration gekommen: Er nehme für seinen Sohn an der Kundgebung teil, sagt ein Mann.
"Ich bin 54 Jahre alt. Ich habe zu Beginn der 70er Jahre zu arbeiten begonnen. Damals gab es diese Unsicherheit nicht, die heute herrscht. Ich kann mit 60 Jahren in Rente gehen. Die jungen Leute, die erst mit 28 oder 30 eine Stelle bekommen, stellen Sie sich mal vor, wie lange die mit diesen ganzen unsicheren Verträgen werden arbeiten müssen."
Die jungen Leute befürchten, dass ihre Hochschuldiplome nur noch wenig wert sind. Zwischen acht bis elf Jahre benötigt ein Studienabsolvent durchschnittlich, um eine feste Stelle zu bekommen. Der Erstanstellungsvertrag CPE ist als unbefristeter Vertrag für Arbeitnehmer bis zum vollendeten 26. Lebensjahr geplant, dem eine zweijährige Probezeit vorausgehen soll. Während dieses Zeitraums kann ein Arbeitnehmer jederzeit ohne Angabe von Gründen entlassen werden. Die Gewerkschaften sprechen von einer Aushöhlung des Kündigungsschutzes. Bernard Thibault, der Chef der CGT, meint:
"Wir werden es nicht zulassen, dass in der französischen Gesetzgebung festgeschrieben wird, dass man Beschäftigte mit einem Fingerschnippen entlassen kann."
Wochenlang protestieren und demonstrieren die drei großen Gewerkschaftsorganisationen, ausnahmsweise Seite an Seite. Schüler boykottieren den Unterricht, Studenten hindern ihre arbeitswilligen Kommilitonen daran, an den Lehrveranstaltungen teilzunehmen. An mehreren Hochschulen, darunter an der Pariser Sorbonne, entsteht hoher Sachschaden. Schließlich zieht die Regierung den CPE zurück: Der Erstanstellungsvertrag wird durch einige arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ersetzt, mit denen die Einstellung von gering Qualifizierten gefördert werden sollen. Wieder einmal ist in Frankreich ein Reformvorhaben gescheitert. "Die Straße und die Gewerkschaften, die absolut in der Minderheit sind, haben gewonnen", schimpft Philippe de Villiers, der Chef der rechtskonservativen Partei MPF.
Eine andere Lesart bietet Max Gallo. Für den Schriftsteller und früheren Regierungssprecher steht der CPE für die ultraliberale Globalisierung, von der sich viele Franzosen bedroht fühlen. Das hätten Premierminister und Präsident unterschätzt:
"Dominique de Villepin und Jacques Chirac haben vergessen, dass es in jedem Land einen genetischen Code gibt. In Frankreich ist das Wort Egalité, Gleichheit, von zentraler Bedeutung. Dass ein Arbeitgeber ohne Begründung Leute entlassen kann, bedeutet, dass die Arbeitnehmer in einen Zustand der Ungleichheit zurückversetzt werden."
Premierminister Dominique de Villepin, der politische Verlierer der Auseinandersetzung, wirkt ratlos, als er in einem Fernsehinterview die Frage stellt:
"Wie soll Frankreich sein Sozialmodell bewahren, wenn wir zu den notwendigen Anpassungen nicht bereit sind? Dies macht man ja nicht zum Spaß, sondern um das Sozialmodell zu retten, an dem wir hängen."
Nur durch einen Bruch mit der Politik der vergangenen Jahrzehnte werde Frankreich aus der Krise gelangen können, verkündet Nicolas Sarkozy. Der Innenminister und Vorsitzende der Regierungspartei UMP ist überzeugt: "Das beste Sozialmodell ist dasjenige, das jedem Arbeit gibt. Das ist leider nicht mehr das unsere mit drei Millionen Arbeitslosen".
Eine Arbeitslosenquote von 9,5 Prozent. Der Anteil der Beschäftigungslosen unter 26 Jahre beträgt 23 Prozent. Kein Wunder, meint Alain-Jean Chauchat vom Arbeitgeberverband MEDEF der Pariser Region Ile-de-France. Chauchat leitet einen Betrieb mit sieben Angestellten, der Elektronikbausteine eines US-amerikanischen Konzerns in Europa vermarktet. Der Unternehmer rechnet vor:
"In den Vereinigten Staaten betragen die Sozialabgaben 18 Prozent. Bei einem Monatslohn von 1000 Dollar sind das 180 Dollar. Wenn sie in Frankreich jemandem 1000 Euro zahlen, muss der Betrieb noch einmal 500 Euro für die Sozialabgaben drauflegen."
Außerdem gehöre das gesamte französische Arbeitsrecht auf den Prüfstand, das dafür sorge, dass fast jede Kündigung vor einem Arbeitsgericht ende, meint Monsieur Chauchat, denn dies bilde ein großes Hindernis für Einstellungen.
"Ich bin seit über 30 Jahren Unternehmer. Der schlimmste Moment meiner Arbeit ist der Augenblick einer Entlassung. Das ist zuallererst ein persönliches Scheitern, denn das heißt, dass der Unternehmer nicht in der Lage war, den Kurs zu halten und für Arbeit zu sorgen. Die französischen Medien stellen uns immer so dar, als bereiteten uns Entlassungen eine große Freude. Das ist geradezu eine Irrlehre."
Mit Ausfuhren im Wert von 355 Milliarden Euro lag die Exportleistung der französischen Wirtschaft im vergangenen Jahr abermals unterhalb der vergleichbarer Industrienationen, wenngleich die Ausfuhren in die USA um 9 Prozent und die in den asiatischen Raum um 16 Prozent gesteigert werden konnten. Das schlechte Abschneiden hat strukturelle Gründe: Rund 90 Prozent der Betriebe verfügen über weniger als zehn Mitarbeiter. Zudem bemängelt die Banque de France die wegen des zu geringen Anteils an Hochtechnologie schwindende Wettbewerbsfähigkeit französischer Produkte auf dem Weltmarkt. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) arbeiten französische Beschäftigte im Vergleich mit ihren amerikanischen Kollegen rund 20 Prozent weniger. Die jährlichen Arbeitsstunden liegen acht Prozent unterhalb des Durchschnittswertes innerhalb der Europäischen Union - eine Folge der 35-Stunden-Woche, die unter dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin eingeführt wurde. "Wir haben niemals wirklich daran geglaubt, dass die 35-Stunden-Woche für Beschäftigung sorgt", meint Jean-Claude Mailly, der Vorsitzende der Gewerkschaft Force Ouvrière:
"In Frankreich sind dadurch vielleicht 300.000 Stellen entstanden. Denen stehen aber gewaltige Kosten durch die Senkung der Sozialabgaben der Arbeitgeber gegenüber. Das macht etwa 20 Milliarden Euro aus, und dies belastet den Staatshaushalt sehr."
Zwar gibt es für kleinere Betriebe inzwischen Ausnahmeregelungen, gleichwohl ist die Einführung der 35-Stunden-Woche ein Beispiel dafür, wie der französische Staat in das Wirtschaftsleben eingreift. Ein anderes gibt die Regierung gegenwärtig: Als das italienische Energieunternehmen ENEL eine feindliche Übernahme des französischen Suez-Konzern plante, kündigte der Premierminister persönlich eine Fusion des französischen Energieversorgers mit dem Staatskonzern Gaz de France an, um die Operation zu verhindern. Die Übernahme des Luxemburgischen Stahlproduzenten Arcelor durch Mittal-Steel lehnt Wirtschafts- und Finanzminister Breton mit der Begründung ab, es fehle ein unternehmerisches Konzept. Und selbst als der US-Konzern Pepsico begehrliche Blicke auf den Lebensmittelhersteller Danone warf, waren in Paris Stimmen zu hören, die vor einem Ausverkauf der heimischen Wirtschaft warnten. Die Regierung bezeichnet dieses Verhalten als Wirtschaftspatriotismus. Der frühere Premier- und vormalige Wirtschafts- und Finanzminister Edouard Balladur hält dies für gerechtfertigt.
"Alle Staaten achten darauf, dass ihre großen Unternehmen national bleiben und nicht unter ausländische Kontrolle geraten. Das ist in den Vereinigten Staaten und auch in Deutschland der Fall. Selbst Großbritannien hat Gasprom gerade eine Übernahme des Gasversorgers Centrica verwehrt. Die Frage ist, wo liegen die Grenzen? Im Fall Gaz de France-Suez glaube ich, dass es dem europäischen Geist nicht widerspricht, wenn sich zwei nationale Unternehmen zusammenschließen."
Den Kritikern hält die Regierung entgegen, dass sich etwa 45 Prozent des Kapitals der im französischen Börsenindex CAC 40 notierten Unternehmen in ausländischer Hand befinden. In Deutschland sind es rund 20 Prozent. Einer von sieben Beschäftigten in Frankreich arbeitet für ein ausländisches Unternehmen. In Großbritannien und Deutschland gilt dies für einen von zehn. Außerdem habe die Übernahme und Zerschlagung des Aluminiumherstellers Pechiney durch den kanadischen Wettbewerber Alcan gezeigt, dass der Staat nicht tatenlos zusehen dürfe, wenn französische Technologie bedroht werde. Der Unternehmer Alain-Jean Chauchat sieht das anders.
"Der Staat sollte so schlank wie möglich sein. Er sollte allgemeine Rahmenbedingungen schaffen und alles weitere den wirtschaftlich und sozial Verantwortlichen überlassen. Unser Staat ist viel zu dirigistisch. Seit Colbert, also seit der Zeit Ludwigs XIV., haben wir auch im Wirtschaftsleben eine Vorliebe für Zentralisierung und Hierarchien. Wenn ich sehe, wie unser Staatpräsident auf die Barrikaden steigt, um Danone zu verteidigen, frage ich mich, ob er nicht anderes zu tun hat."
Der französische Staat ist auch Unternehmer, und das kam die Steuerzahler oft teuer zu stehen. Mehr als fünf Milliarden Euro kostete in den 90er Jahren die Sanierung der inzwischen privatisierten Großbank Crédit Lyonnais. Auch der Computerhersteller Bull, geplant als französisches Gegenstück zum US-Unternehmen IBM, entwickelte sich zum Milliardengrab. Das hat Spuren im Staatshaushalt hinterlassen. Seit Anfang der 80er Jahre hat sich der Schuldenberg verzehnfacht, auf 1117 Milliarden Euro, das entspricht 66 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Rechnet man andere rote Zahlen mit ein, etwa die der chronisch defizitären Sozialversicherung "sécurité sociale", so sehen Kritiker die französische Gesamtverschuldung bei rund 2500 Milliarden Euro. 50 Milliarden muss der Wirtschafts- und Finanzminister jährlich allein für die Bedienung der Zinsen einplanen, eine bedrohliche Entwicklung, gibt Thierry Breton zu:
"Die gesamten Einnahmen aus der Einkommensteuer entsprechen der Zinsbelastung durch unsere Schulden. Erstmals werden diese Einnahmen in diesem Jahr nicht für die Zukunft ausgegeben, also für Kindertagesstätten oder Schulen, sondern für die Vergangenheit."
Seit 1981 habe Frankreich mit der modernen Welt gebrochen, sagt der Historiker und Wirtschaftswissenschaftler Nicolas Baverez, Autor eines viel beachteten Buches mit dem Titel "La France qui tombe", Frankreichs Sturz. Mit dem Machtantritt der Linken habe Frankreich Unternehmen verstaatlicht und die Wirtschaft reglementiert, wo andere internationalisierten und deregulierten. Der Anteil der öffentlichen Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt beträgt heute rund 55 Prozent. Der öffentliche Dienst wurde aufgebläht. Viele junge Leute streben eine Anstellung im "service public" an, nicht nur wegen der Sicherheit oder der großzügigen Rentenregelungen.
"Die französischen Bürger fühlen sich dem öffentlichen Dienst bewusst oder unbewusst verbunden", erklärt Jean-Claude Mailly, der Chef der Gewerkschaft Force Ouvrière. "Der 'service public' ist Teil des historischen republikanischen Modells. In Deutschland ist dieses Verhältnis weniger eng. Zu den deutschen Besonderheiten gehört die Furcht vor einer Hyper-Inflation, weil das an die dunklen Jahre erinnert."
Anders als in Deutschland wird die Stabilität der Währung in Frankreich nicht als vorrangig angesehen. Bis vor wenigen Jahren folgte die Nationalbank den Anweisungen der Regierung. Kein Wunder, dass der europäische Stabilitätspakt in Paris keine hohe Wertschätzung genießt. Auf die Mahnungen der Europäischen Kommission, Frankreich müsse mehr sparen, erwiderte der frühere Premierminister Jean-Pierre Raffarin:
"Maastricht ist sehr wichtig, aber Beschäftigung und Wachstum sind ebenfalls sehr wichtig. Meine vorrangige Aufgabe besteht nicht darin, irgendwelche buchhalterischen Gleichungen oder andere mathematischen Fragestellungen zu lösen, um damit irgendein Büro in irgendeinem Land zufriedenzustellen. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass es für die Franzosen Arbeit gibt."
Raffarin, der nach dem Referendum zurücktreten musste, in dem die Franzosen mehrheitlich den Europäischen Verfassungsvertrag abgelehnt hatten, brachte in seiner Amtszeit wichtige Sozialreformen auf den Weg. Gegen den Widerstand der Gewerkschaften erhöhte seine Regierung die für den Bezug der vollen Rente erforderliche Lebensarbeitszeit. Und im Gesundheitssystem wurde zur Finanzierung des zweistelligen Milliardenlochs eine Praxisgebühr in Höhe von einem Euro eingeführt. Außerdem wird die Entwicklung und Nutzung von Arzneimittelkopien, so genannten Generika, gefördert. Das Hausarztprinzip, also der Besuch eines Allgemeinmediziners, ist abgesehen von wenigen Ausnahmen verpflichtend, um die Konsultationen teurer Spezialisten einzuschränken, und eine elektronische Patientenakte soll dazu beitragen, den Missbrauch von medizinischen Leistungen einzuschränken. Nach Angaben der OECD belegt Frankreich mit 9,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes weltweit den fünften Platz der Länder mit den höchsten Gesundheitsaufwendungen. Dies verhinderte jedoch nicht, dass während der außergewöhnlich heißen Sommermonate des Jahres 2003 fast 15.000 überwiegend ältere Menschen starben. Vor allem auch wegen fehlender Pfleger in der Ferienzeit.
Am entgegengesetzten Ende der Alterspyramide sprechen die Zahlen für sich: Zusammen mit Irland verfügt Frankreich über die höchste Geburtenrate in Europa. Laut Statistik bringt jede Französin 1,9 Kinder zur Welt; in Deutschland liegt der Vergleichswert bei 1,3. Trotz leerer Kassen investiert der Staat sowohl in Institutionen, etwa zur Kinderbetreuung, als auch in Personen: Kindergeld, Beihilfen für die Kinderbetreuung, Wohnzuschuss,
Mutterschaftsurlaub, Steuervorteile für Familien, Geburtenprämie, Beihilfen für Alleinerziehende, Berücksichtigung von Kindern bei der Rentenberechnung. In Frankreich hat man längst erkannt, dass Bevölkerungsentwicklung und Ökonomie nicht voneinander zu trennen sind.
"Die positive Entwicklung der Geburtenrate ist ein wichtiger Grund für die Dynamik des privaten Verbrauchs" erklärt Laure Maillard von der Investmentbank Ixix: "Und das ist nicht schwer zu verstehen: Vor allem, wenn das erste Kind kommt, müssen Eltern einiges anschaffen. Unsere Geburtenrate, um die uns ganz Europa beneidet, erklärt eindeutig den steigenden Verbrauch der Haushalte".
Die familienpolitischen Leistungen bilden wie auch die Lohnzuschüsse für die unteren Einkommensgruppen einen Teil der umfangreichen Sozialtransfers, mit denen der Staat den Konsum stützt. Das System der Umverteilung habe inzwischen aber seine Grenzen erreicht, meint Edouard Balladur. "Wir müssen stattdessen für mehr Wachstum sorgen", fordert der ehemalige Premierminister:
"Unser System hat immer noch Modellcharakter, da es der Gerechtigkeit und der Solidarität verpflichtet ist. Aber alles ist eine Frage des Maßes und der Mittel. Freiheit funktioniert nicht ohne Regeln und muss solidarisch bleiben. Aber was passiert, wenn diese Solidarität so hohe Abgaben und eine solche Umverteilung erfordert, dass dies den Aufschwung der Wirtschaft behindert? Hier müssen wir für ein Gleichgewicht sorgen."
Einen Schritt nach vorn, hundert Schritte zurück, das sei die Politik der Regierung, sangen die jungen Leute, die vor wenigen Wochen gegen den Erstanstellungsvertrag CPE auf die Straße gingen. Zu einem anderen Ergebnis kommt das US-amerikanische Nachrichtenmagazin "Time": Einem großen Schritt zurück folgten in Frankreich häufig zwei heimliche Schritte nach vorn. Als Beispiel führt Time die Privatisierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte an. Wer der Meinung sei, Frankreich sei zu Reformen nicht in der Lage, der wiederhole nur Vorurteile. Auf die Titelseite des Magazins ist eine Schnecke in Frankreichs Nationalfarben abgebildet, die einen Pflanzenstängel hochkriecht.