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Studie
Betreuungsgeld verletzt Chancengleichheit

Wolfgang Tietze hat einst vor dem Betreuungsgeld gewarnt. Eine aktuelle Umfrage des deutschen Jugendinstituts und der Universität Dortmund zeigt nun: Offenbar hält die sogenannte Herdprämie bildungsferne Schichten davon ab, ihre Kinder in eine KiTa zu geben. Das Geld sollte besser in einen qualitativen Ausbau des Bildungssystems gesteckt werden, sagte Tietze im Deutschlandfunk.

Wolfgang Tietze im Gespräch mit Benedikt Schulz | 28.07.2014
    Vier Kinder mit Schultüten auf dem Weg zur Einschulung
    Laut einer Studie hat das Betreuungsgeld negative Bildungseffekte. (picture alliance / dpa - Frank Leonhardt)
    Benedikt Schulz: Die politische Debatte um die umstrittene Herdprämie ist also in vollem Gange. Wir blicken jetzt aber darauf, welche negativen Bildungseffekte hat das Betreuungsgeld in der Praxis. Professor Dr. Wolfgang Tietze war Professor für Kleinkindpädagogik an der Freien Universität Berlin und ist inzwischen Geschäftsführer von PädQUIS, einem Forschungs- und Entwicklungsinstitut, das unter anderem die pädagogische Qualität von Kindertagesstätten untersucht. Mit ihm bin ich jetzt verbunden. Herr Tietze, ich grüße Sie!
    Wolfgang Tietze: Ich grüße Sie auch!
    Schulz: Herr Tietze, Sie haben vor über einem Jahr in einer Studie bereits vor der Einführung des Betreuungsgeldes gewarnt. Die Politik hat nicht auf Sie und viele andere Bildungsforscher gehört. Empfinden Sie jetzt Genugtuung, wenn Sie die Ergebnisse der aktuellen Umfrage sehen?
    Tietze: Genugtuung in keinem Fall. Mit vielen anderen, die frühzeitig gewarnt haben, fühlen wir uns bestätigt in diesen Befunden, die wir jetzt vor uns liegen haben. Und eigentlich kann keiner überrascht sein, der sich in der Vergangenheit mit diesem Thema beschäftigt hat und auch beispielsweise Entwicklungen in Skandinavien mitverfolgt hat, wo man ja dieses Betreuungsgeld in anderen Varianten auch schon einige Jahre hatte.
    Welche Nachteile bringt das Betreuungsgeld?
    Schulz: Aus Sicht des Bildungsforschers: Warum gefährdet das Betreuungsgeld die Chancengerechtigkeit in Deutschland?
    Tietze: Das hängt damit zusammen, dass besonders Kinder, die frühe Förderung in öffentlichen Einrichtungen besonders nötig haben, gewissermaßen hier in den Familien gehalten werden und ein Anreiz gesetzt wird, sozusagen ein ergänzendes förderndes Milieu in den Einrichtungen von diesen Kindern fernzuhalten. Wir haben beispielsweise schon vor einigen Jahren – drei, vier Jahre ist das her – in der sogenannten NUBBEK-Studie gefunden, dass Kinder mit Migrationshintergrund, besonders mit russischem, türkischem Migrationshintergrund, die wir untersucht haben, zwischen acht und zwölf Monaten später in die Einrichtungen kommen als Kinder mit Nichtmigrationshintergrund. Gerade solche Kinder brauchen natürlich frühe Spracherfahrungen, die werden hier gewissermaßen künstlich ihnen vorenthalten. Wir haben ähnliche Situationen bei Kindern aus eher prekären Lebenssituationen. Das Betreuungsgeld stellt für viele Familien einen monetären Anreiz dar, aber unter Bildungsgesichtspunkten und Förderung der Kinder ist es, wie wir sagen, kontraindiziert. Gerade die Kinder, die am nötigsten eine frühe Förderung hätten, werden hiervon ausgeschlossen.
    Schulz: Aber es ist so, dass man im Kita-Bereich ja kaum davon sprechen kann, dass wir deutschlandweit ein gleichmäßig hohes Niveau haben. Das hat ja jetzt nicht zuletzt die Bertelsmann-Studie gezeigt, dass die regionalen Unterschiede gewaltig sind. Wie kann man da von Bildungsgerechtigkeit sprechen?
    Tietze: Es soll weiterhin bleiben auch bei den Wahlmöglichkeiten von Eltern, nur es geht hierbei, beim Betreuungsgeld, um die Frage, soll der Staat sozusagen einen Anreiz setzen, von dem man weiß, dass er sozusagen differenziell wirkt, also dass er bestimmte Familien besonders anspricht, einen Anreiz setzen, der sich als Nachteil für die Kinder erweist. Und das ist im Grunde der große Punkt. Es gibt noch andere Aspekte – Erwerbsbeteiligung von Frauen, die auch sicherlich hierdurch nicht gerade gefördert wird, oder geschlechtsspezifische Aufteilung der Arbeiten in Familien –, aber das lassen wir mal hier außen vor. Hier geht es nur um die Kinder, und hier muss man sagen, das ist kein gutes Signal, was hier gesetzt wird.
    Auch im Einrichtungsbereich noch Qualitätsdefizite
    Schulz: Das Betreuungsgeld ist jetzt aber nun mal da. Was kann man oder vielleicht was muss man tun, um dennoch die Eltern zu erreichen, für deren Kinder die frühkindliche Bildung besonders wichtig wäre?
    Tietze: Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass wir hier Aufklärung betreiben, dass wir hier auch auf lokaler Ebene sozusagen Bildungswerbung machen, dass Einrichtungen, Kitas auch auf Eltern zugehen, dass wir insgesamt ein Klima schaffen, dass es selbstverständlich ist, dass Kinder auch mit Migrationshintergrund und aus weniger günstigen sozialen Verhältnissen die Einrichtungen in Anspruch nehmen können. Und vor allem, dass wir hier auf Qualität setzen – das ist einer der wichtigen Punkte. Wir dürfen bei dieser ganzen Debatte nicht vergessen, dass wir auch im Einrichtungsbereich noch ein Qualitätsdefizit haben, was wir unbedingt angehen müssen.
    Schulz: Vielleicht Ihre Einschätzung: Was glauben Sie, wie lange wird es das Betreuungsgeld noch geben in Deutschland?
    Tietze: Das ist eine spannende Frage, zumal ja auch juristische Auseinandersetzungen laufen. Das Land Hamburg hat ja eine Verfassungsklage beim Bundesverfassungsgericht anhängig, und das Ganze wird uns noch eine Weile beschäftigen. Es geht eben auch um familienpolitische Leitbilder, es geht um politische Präferenzen, darum, dass also bestimmte politische Klientel bedient werden soll. Eine Prognose in dieser Gemengelage wage ich nicht abzugeben, aber aus einer fachwissenschaftlichen Sicht kann ich nur sagen, wir sollten dieses Geld, was da gebunden wird, besser in einen qualitativen Ausbau des Früherziehungssystems, des öffentlichen Systems stecken.
    Schulz: Sagt Professor Dr. Wolfgang Tietze, Experte für Kleinkindpädagogik und inzwischen Geschäftsführer von PädQUIS.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.