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Studie eines Phänotyps

Yasmina Reza gilt als erfolgreichste Bühnenautorin der Gegenwart. Derzeit wird auf 40 deutschsprachigen Bühnen ihr Stück "Der Gott des Gemetzels" gespielt. In ihrem neuen Buch "Frühmorgens, abends oder nachts" schlüpft sie in die Rolle einer Ethnologin, um eine spezielle menschliche Spezies zu erforschen, den Stamm der Politiker, repräsentiert durch einen seiner schillerndsten Vertreter: Nicolas Sarkozy.

Von Ursula März | 21.04.2008
    Er war der Hase, sie der Igel. Er ist der zappeligste, nervöseste und wohl auch lauteste Staatschef Mitteleuropas, sie die erfolgreichste Bühnenautorin der Gegenwart. Für ein knappes Jahr waren sie ein Gespann, das sich in vielem, vor allem in einem Punkt unterschied: Dem jeweiligen Tempo. Er, Nicolas Sarkozy nimmt sich nicht einmal die Zeit für die Lektüre der Zeitungsartikel, die ihn betreffen. Er reißt die Zeitung an sich, blättert sie mit einer einzigen Handbewegung durch, wedelt kurz damit durch die Luft und drückt sie dann dem nächstbesten seiner Mitarbeiter in die Hand. Sie, Yasmina Reza hat sich ein Jahr Zeit genommen für solche Beobachtungen. Sie schlüpfte in die Rolle einer Ethnologin um aus der Nähe eine spezielle menschliche Spezies zu erforschen, den Stamm der Politiker, repräsentiert durch Nicolas Sarkozy. Das Ergebnis ist der wundervoll scharfsinnige, gelegentliche ironische, poetische Essay "Frühmorgens, abends oder nachts." Als das Buch mit großem Erfolg und enormer Auflage in Frankreich veröffentlicht wurde, war Sarkozy gerade ein paar Monate im Amt und der Sensationsfall Carla Bruni längst nicht in Sicht. Jetzt, da das Buch im Deutschen erschienen ist, wirkt die Sensation der Eheschließung des Präsidenten mit einer Frau, die er gerade ein paar Wochen kennt, fast schon wie Vergangenheit. Offensichtlich produziert dieser Politiker vor allem eins: Beschleunigung.

    Der Kontrast zwischen seinem rasenden Temperament und dem literarisch verweilenden Gestus seiner Beobachterin macht den Reiz des Buches aus. Ein Jahr lang klebte Yasmina Reza buchstäblich an Sarkozys Fersen. Sie gehörte zu seinem Wahlkampftross, begleitete den damaligen Innenminister und Wahlkämpfer auf Auslandsreisen, zu Charity-Terminen in Krankenhäusern, Kindergärten, zu Wahlkampfveranstaltungen vor 3000 Menschen. Sie war sogar dabei, als Nicolas Sarkozy in der Silvesternacht 2006/2007 die Neujahrsansprache seines Vorgängers Chirac im Fernsehen ansah, während seine damalige Ehefrau Cecilia sich um den Kamin und das Menu kümmerte. Sie studierte seine schnell umschlagenden Launen, sein offizielles und sein privates Mienenspiel und seinen auffälligsten Tic: Das beständige unruhige Zappeln der Beine, dieses physische Emblem des Getriebenen, dem nichts so fremd ist wie ein passives Verhältnis gegenüber der Zeit und ihrem leerem Verstreichen.

    Yasmina Rezas Buch "Frühmorgens, abends oder nachts" ist weder Politikerbiographie noch Wahlkampfreportage, sondern literarisch-impressionistische Studie eines Phänotyps, des homo politicus unter modernen, medialen Bedingungen. Vor allem aber ist Rezas Text über Nicolas Sarkozy ein Essay über die Zeit mit theatralen Zügen: Eine Vertreterin der Langsamkeit konfrontiert sich mit einem Zeitfresser. Er will jede Situation, jede Erfahrung, jede Meinung sofort und mit einem Satz auf den Punkt bringen, er ist auf die schnellstmögliche Summe des Ganzen aus. Und eben das vermeidet Rezas poetisch kreisender, geduldig Detail zu Detail fügender Text. Fast minimalistisch setzt Yasmina Reza das Charakterbild des sozialen Aufsteigers Nicolas Sarkozy zusammen, der ununterbrochen Menschen um sich braucht und dennoch über ein Hauptmerkmal des Machtmenschen verfügt: Die Fähigkeit, einsame Entscheidungen zu treffen, sich in letzter Konsequenz auf niemand als auf sich selbst zu stützen. Ihre Freunde, berichtete Yasmina Reza, rieten ihr von dem Experiment des Sarkozy-Porträts ab. Als Linke, so die Befürchtungen, würde sie unweigerlich zu einer Propagandistin der Rechten, durch das Privileg ständiger Nähe dazu verführt, Nicolas Sarkozy unkritisch zu betrachten. Eben das ist auf bewundernswerte Weise nicht geschehen. Irgendwann begannen sie sich zu duzen, die Schriftstellerin und der Politmensch, Sympathie und eine Art ironisches Befremden gab es wohl auf beiden Seiten, ebenso wie Respekt. Nicolas Sarkozy war sofort einverstanden, als Yasmina Reza ihm ihr Projekt vorstellte und ihn nach seiner Bereitschaft fragte, fast ein Jahr lang von ihr begleitet und beobachtet zu werden. Erstens verstand Sarkozy, dass Rezas Buch seinem Ruhm auch dann dienen würde, wenn es Kritisches über ihn enthielt. Zweitens nahm er sich einfach nicht die Zeit, lange über eine Antwort nachzudenken und sagte schon deshalb ganz schnell ja.

    Yasmina Reza "Frühmorgens, abends oder nachts". Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, München 2008. 204 Seiten. 19.80 Euro