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Studie zu Demokratieferne
Hinhören in Hellersdorf

Fast die Hälfte der Menschen im Berliner Plattenbaubezirk Marzahn-Hellersdorf ist unzufrieden mit der Demokratie. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Alice Salomon Hochschule. Um das zu ändern, brauche es mehr Dialog - eine Lehre auch für andere Regionen in Deutschland.

Von Benjamin Dierks | 05.04.2019
Auf dem Foto zu sehen sind drei ältere Personen auf einer Demonstration gegen die geplante Unterbringung von Asylbewerbern in Marzahn-Hellersdorf im Herbst 2014. Ein Mann trägt ein Schild mit der Aufschrift: "Wir sind keine Nazis".
In Marzahn-Hellersdorf demonstrierten Anwohner mehrfach gegen die Unterbringung von Flüchtlingen im Bezirk, Seite an Seite Rechtsextremen und Hooligans. (Deutschlandradio)
"Ich hab nichts gegen Ausländer, aber ich finde es fies, dass wir ein bisschen zurückstehen, dass die viel mehr kriegen wie wir."
Das sagt eine Verkäuferin aus Berlin-Hellersdorf. Sie wohne neben einer Flüchtlingsunterkunft, berichtet sie. Mit den Bewohnern habe sie nach eigenem Bekunden keine Probleme. Ein aus der Türkei stammender Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes hat seine Hellersdorfer Nachbarn als nicht sehr offen erlebt.
"Die schreien 'Scheiß Kanake!' und 'Ausländer!'. Das ist wirklich schlimm hier. Ich wohne schon seit 22 Jahren in Berlin, so schlimm habe ich es noch nie erlebt."
Wie ist es um die Demokratie in Deutschland bestellt? Das fragten sich Forscherinnen und Forscher der Alice-Salomon-Hochschule. "Demokratieferne Einstellungen in einer Kommune" sollte die Studie untersuchen. Die Wissenschaftler wählten das Studienfeld mit Bedacht: Marzahn-Hellersdorf. Der Ost-Berliner Bezirk war einst Heimat für DDR-Kader. Heute fährt die AfD dort mehr Stimmen ein, als irgendwo sonst in Berlin.
Muslimfeindlichkeit ohne Muslime
Religiöse oder ausländische Minderheiten lebten kaum hier, sagt Andrea Metzner, die die Studie mit erstellt hat. Das halte die Befragten aber nicht davon ab, ihnen feindlich gegenüberzustehen.
"Wir haben nach Ablehnung von Geflüchteten gefragt, wo es sehr viel Ablehnung gibt, verglichen mit anderen Studien, gegenüber Muslimen, auch da, verglichen mit anderen Studien, ist die Ablehnung sehr hoch."
58,5 Prozent der Befragten fänden, dass es in Deutschland zu viele Muslime gibt. Knapp 48 Prozent sähen ihre "gewohnte Lebensweise" durch Flüchtlinge bedroht, sagt Metzner.
Gefühlte Benachteiligung
Deutlich mehr als die Hälfte glaubt, dass jene zu viele Sozialleistungen erhalten. Ein ehemaliger DDR-Diplomat in einer Hellersdorfer Einkaufsstraße beteuert, dass er nichts gegen Vielfalt habe. Die habe er auch im Auslandseinsatz erlebt.
"Ich kann nur nicht verstehen, dass Leute, die nichts in den sozialen Kassenapparat eingezahlt haben, dann dennoch besser gestellt werden, als Leute, die das getan haben."
Dieses Empfinden trägt dazu bei, dass die Zweifel an der Demokratie insgesamt wachsen. Sie werde zwar nicht grundsätzlich abgelehnt, wohl aber die Art, wie sie heute ausgeübt werde, sagt Andrea Metzner.
"Da haben wir nur ein gutes Drittel, die voll zufrieden und eher zufrieden sind. Das heißt nicht, dass die alle gegen Demokratie sind. Sie sind nur mit der aktuellen Umsetzung nicht so zufrieden."
Hälfte unzufrieden mit Zustand der Demokratie
Rund die Hälfte der Befragten gehört zu denen, die nicht zufrieden sind. Eine Grundschullehrerin aus dem Bezirk kritisiert, dass einfache Menschen kein Gehör fänden bei der Politik.
"Ich glaube, die Bürgernähe ist der Politik verloren gegangen, die sitzen da in ihrem Wolkenkuckucksheim und machen ihr Ding, aber was den Bürger auf der Straße betrifft, ich glaube, das wissen die zu wenig."
Diese Entfremdung von Politik und Institutionen sei der Grund für viele Probleme in Marzahn-Hellersdorf, vermutet Heinz Stapf-Finé, Professor für Sozialpolitik, der das Projekt geleitet hat.
"Deswegen kann und muss die Förderung von zivilem und politischem Engagement bei den Menschen selber ansetzen und muss aus der Zivilgesellschaft heraus erfolgen."
Die Forschungsgruppe der Alice-Salomon-Hochschule will deshalb ein weiteres Projekt angehen: Es soll Foren geben, auf denen Bürger sich aussprechen können.
Bürgerforen sollen Dialog fördern
Die Politik soll hören, wo der Schuh drückt und reagieren. Die meisten Menschen hätten nämlich zugestimmt, dass auch in Konfliktsituationen Argumente zählten und dass man andere Meinungen akzeptieren müsse. Alle Menschen sollten die Möglichkeit haben, sich politisch zu beteiligen. Die Wissenschaftler sehen deshalb eine gute Basis für ein inklusives Gemeinwesen.
Die Ablehnung der Politik und die Feindschaft gegenüber Fremden habe auch damit zu tun, dass viele ehemalige DDR-Bürger das Gefühl hatten, dass ihre Biografie nicht mehr viel wert gewesen sei nach der Wende.
"Das, denke ich, ist hier besonders stark ausgeprägt und führt mit dazu, dass die Menschen sich von dem politischen System nicht viel erwarten."
Marzahn-Hellersdorf als Frühwarnsystem
Hier in Marzahn-Hellersdorf habe sich manch politischer Konflikt früher offenbart als anderswo im Land, sagt der ehemalige Bezirksbürgermeister Stefan Komoß. Im Bezirk sei schon lautstark und unter Beteiligung von gewaltbereiten Neonazis gegen Flüchtlingsunterkünfte gewettert worden, als es im Rest der Republik noch relativ ruhig war.
"Ich glaube, es ist tatsächlich so, dass man sagen kann: Was in Marzahn-Hellersdorf passiert, passiert mit einer zeitlichen Verzögerung von vielleicht zwei bis drei Jahren auch an anderen Orten in der Republik. So kann man das, vermute ich, einschätzen."
Auch deshalb könne es gut sein, hinzuhören, was die Menschen in Marzahn-Hellersdorf zu sagen haben.