Dienstag, 19. März 2024

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Studie zum Lesen- und Schreibenlernen
Schreibenlernen braucht Struktur

Kinder lernen am besten Schreiben, wenn der Unterricht einem strukturierten Ansatz folgt - etwa mit einer Lernfibel. Zu diesem Fazit kommt eine Studie der Universität Bonn. Bei freieren Methoden wie "Schreiben nach Gehör" käme viel öfter zu Fehlschreibungen, sagte die Psychologin und Studienautorin Una Röhr-Sendlmeier im Dlf.

Una Röhr-Sendlmeier im Gespräch mit Benedikt Schulz | 17.09.2018
    In der Dorfschule in Görzig nahe Beeskow schreibt ein Mädchen im Unterricht das Wort "Schule" in ihr Heft (13.04.2005 ).
    Die Psychologin und Pädagogin Una Röhr-Sendlmeier hat sich im Dlf mit Nachdruck für eine strukturierte Vermittlung von Schreib- und Lesekompetenz im Unterricht ausgesprochen (dpa / Patrick Pleul)
    Benedikt Schulz: In vielen Grundschulen hat sich, was das Lesen- und Schreibenlernen in der Vergangenheit, eine Methode recht breit durchgesetzt: Lesen durch Schreiben, landläufig bekannt auch unter dem Namen Schreiben nach Gehör, entwickelt vom Pädagogen Jürgen Reichen. Kurz gefasst: Schülerinnen und Schüler fangen nicht erst an, Buchstaben, dann einzelne Wörter, dann irgendwann kurze Texte zu schreiben, sondern sie sollen von Beginn an schreiben mithilfe einer Anlauttabelle und sich dadurch das Schreiben und das Lesen zum Teil gewissermaßen selbst erschließen, und sie schreiben so deutlich früher auch kurze Texte.
    Wenn man diese Methode konsequent verfolgt, dann sollen Lehrerinnen und Lehrer auch nicht korrigieren, und zwar um den Spaß am Schreiben nicht direkt wieder abzuwürgen. Die Methode steht seit Langem im Kreuzfeuer der Kritik, weil dadurch die Rechtschreibkompetenzen gefährdet seien, und das Bauchgefühl, das schien den Kritikern da irgendwie immer recht zu geben.
    Jetzt liegt eine Studie vor, deren Aussage ist ziemlich eindeutig: Der klassische Ansatz, systematisch mit Fibel, vom einzelnen Buchstaben hin zum Wort und dann zum Text, der führt offenbar zu deutlich weniger Rechtschreibfehlern. Wissenschaftler der Uni Bonn haben über einen Zeitraum von vier Jahren die Rechtschreibfähigkeiten von über 3.000 Schülerinnen und Schülern untersucht. Eine der Autorinnen der Studie ist Una Röhr-Sendlmeier, Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin, und sie ist am Telefon. Ich grüße Sie, hallo!
    Una Röhr-Sendlmeier: Hallo!
    Schulz: Also ich habe das Ergebnis ja schon vorweggenommen, aber jetzt erklären Sie es uns. Was stimmt nicht mit der Methode Lesen durch Schreiben?
    Sendlmeier: Bei der Methode Lesen durch Schreiben steht mehr die schöne Vorstellung im Vordergrund, dass Kinder sich so etwas Komplexes wie die Schriftsprache selbst erarbeiten könnten, und es wird vergessen, dass die Schriftsprache nicht eine Eins-zu-eins-Entsprechung in der Lautgestalt unserer Sprache hat. Es wird davon ausgegangen, dass die Kinder, das, was sie sich selber sprechen hören, in die richtigen Symbole übertragen können, und das ist ein Trugschluss.
    Ein Problem mit der Methode, ein erstes Problem, ist, dass sie nie in größerem Maße überprüft wurde und überprüft wurde, ob die Aussagen, die als Versprechen gegeben werden, für die Einführung der Didaktik tatsächlich der Realität standhalten. Die Methode Lesen durch Schreiben ist ja eine der drei Didaktiken, die wir ganz wertfrei angeschaut haben, und wir können zeigen, dass eine freie Methode, die vor allen Dingen auf das Gehör der Kinder setzt, bei Weitem nicht dieselben Ergebnisse bringt, wie ein systematischer Lehrgang, kurz gesagt Fibellehrgang, in dem Einzellaute analysiert werden, Zuordnungen zwischen Laut und Schrift gelernt werden, vom Einfachen, wo es tatsächlich eine Entsprechung zwischen Laut und Schrift gibt, etwa in dem Wort Opa, aber es gibt viele Wörter in unserer Schrift, die eben nicht so einfach durch den Gehörseindruck dann richtig geschrieben werden können.
    Die Fibel geht systematisch, strukturiert, auch spielerisch ermutigend und mit Spaß an der Sache heran und vermittelt den Kindern ein Rüstzeug, Richtlinien, Regeln, damit sie am Ende der vierten Schulklasse auch orthografisch richtig schreiben können.
    "Tatsächlich aber schleifen sich sehr viele Fehlschreibungen ein"
    Schulz: Aber diese Vorteile, die die andere Methode ja mit sich bringen soll, schneller ans Schreiben kommen und weniger Frustration beim Schreiben lernen, sind ja trotzdem auch nicht von der Hand zu weisen, oder?
    Sendlmeier: Nun, wenn ein Kind alles schreiben kann wie es möchte, dann kann es Zufallstreffer haben, und andere Menschen können das dann auch entschlüsseln, tatsächlich aber schleifen sich sehr viele Fehlschreibungen ein, und die Kinder müssen im Nachhinein noch mal umlernen. Wenn wir jetzt einfach mal ein Beispiel nehmen: das gespannte I. Das kann ich schreiben mit einem einfachen I wie in Igel, ich kann es aber auch schreiben und muss es schreiben im Wort die, im Wort ihn und im Wort Baby, dann brauche ich sogar ein Y.
    Das heißt, Sie haben keine Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen dem, was wir hören und das, was unsere Rechtschreibvorschriften, die es ja gibt, dann tatsächlich verlangen. Das ist aber etwas, was für Anfänger eine große Herausforderung ist, besonders für Kinder, die vom Elternhaus her oder durch eine vorschulische Maßnahme noch gar nicht überhaupt daran herangeführt worden sind, Laute herauszuhören und auch zu begreifen, dass es Korrespondenzen zwischen Lautsprache und schriftlichen Symbolen gibt.
    Schulz: Jetzt haben Sie die Eingangsvoraussetzungen erwähnt. Nicht zuletzt der Bildungshintergrund der Eltern ist ja entscheidend. Wie konnten Sie das in Ihrer Studie berücksichtigen?
    Sendlmeier: Ja. Wir haben die Kinder direkt nach der Einschulung überprüft im Hinblick darauf, welche Buchstaben kennen sie, welche Laute können sie aus einem Wort einzeln isolieren, haben sie eine Kenntnis von Reimen, also von Silben, und die Vorkenntnisse der Kinder haben wir systematisch in unseren Auswertungen berücksichtigt.
    Wir haben zeigen können, dass die Vorkenntnisse der Kinder, die sie zur Einschulung mitbringen, sich in ihren Rechtschreibleistungen bis ins dritte Schuljahr hinein niederschlagen, und deswegen haben wir diese Variable kontrolliert, und weil wir diese Kontrollen vorgenommen haben, können wir umso selbstbewusster und mit Nachdruck sagen, ein strukturierter, systematisch aufbauender Unterricht wie nach einer Fibel, ist das, was zu dem besten Erfolg führt, und weil wir diese Kinder nicht im Stich lassen dürfen, die offensichtlich nicht genug Unterstützung bekommen durch diese freien Ansätze, deswegen plädieren wir dafür, die Methode in die Schulen stärker hineinzubringen, die jedem Kind die Chance geben, richtig lesen und schreiben zu können. Wir können dies nachweisen für unterschiedliche Familienhintergrunde, zum einen bezogen auf die Bildung und zum anderen auch bezogen auf die Erstsprache, die im Elternhaus gesprochen wird.
    Gerade die Kinder mit Migrationsgeschichte in ihrer Familie brauchen hier eine sehr strukturierte Vorgehensweise, um dann auch richtig schreiben zu können, was sie wirklich brauchen für die weiterführende Schule und fürs Berufsleben.
    Kommunizieren können, ohne dass man technische Hilfsmittel braucht
    Schulz: Ich frage jetzt mal ganz ketzerisch: Ist in einer modernen digitalisierten Lehr-Lern-Arbeitswelt Rechtschreibung da nicht inzwischen vollkommen überbewertet?
    Sendlmeier: Nein. Sie haben nicht in jeder Situation Zugriff zu einem Textverarbeitungsprogramm, was Ihnen die Fehler automatisch korrigiert. Schriftsprache bedeutet, kommunizieren zu können und kommunizieren zu können auch ohne, dass man technische Hilfsmittel braucht, und in jedem Fall ist es wichtig, dass ich meinte Texte oder das, was ich mitteilen möchte, so schreiben kann, dass andere mich verstehen. Das ist doch das Entscheidende.
    Schulz: Sagt Una Röhr-Sendlmeier, sie ist Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin an der Uni Bonn. Sie hat zusammen mit anderen Wissenschaftlern eine Studie durchgeführt, die verschiedene Methoden des Schreibenlernens auf ihren Erfolg hin untersucht hat. Frau Röhr-Sendlmeier, vielen herzlichen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.