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Studiengänge sind auf "Normalitätserwartung" hin konzipiert

Strebsamkeit, Fleiß, Konzentration: Professoren hätten eine hohe "Normalistätserwartung" an Studierende, sagt Christian Berthold, Geschäftsführer des deutschen Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). Alles, was davon abweiche, werde als defizitär wahrgenommen.

Christian Berthold im Gespräch mit Sandra Pfister | 04.08.2011
    Sandra Pfister: Handwerker und Betriebe klagen über Azubis, die weder Manieren haben noch Disziplin, und zudem noch keine Ahnung vom Dreisatz. Professoren, die klagen über Studis, die seit Jahren immer unbelesener und schlechter vorgebildet an die Universitäten kommen – angeblich. Klar, die Massenuniversität, die fordert ihren Tribut: Vergangenes Jahr fanden 46 Prozent eines Jahrgangs den Weg an die Hochschulen, 2005 waren es noch fast ein Zehntel weniger. Krethi und Plethi darf an die Uni – so sehen es viele Professoren, wenn sie ungeschützt reden. Was deutsche Professoren von ihren Studierenden halten, hat systematisch nun das CHE, das Centrum für Hochschulentwicklung in Gütersloh, erforscht. Christian Berthold, Sie haben die Studie geleitet. Professoren wünschen sich fleißige, strebsame Akademikerkinder, so könnte man sich das vorstellen – oder welches Bild haben Sie von dem idealen Studierenden herauskristallisiert?

    Christian Berthold: Was wir da herausgefunden haben, ist vor allem, dass unter den Professoren eine sehr hohe Normalitätserwartung herrscht sozusagen, sie haben eine sehr klare Vorstellung davon, wie Studierende sein sollen – das geht dann sicher in Richtung von Strebsamkeit, Fleiß, Konzentration aufs Studium und so weiter –, und das Problem scheint uns zu sein, dass alles, was davon abweicht, vor allem sozusagen als defizitär wahrgenommen wird und nicht so sehr die Buntheit und Vielfalt und Andersartigkeit auch als eine Quelle der Bereicherung erscheint.

    Pfister: Also defizitär, sagen Sie – geht das dann auch in die Richtung, dass die auch den Stempel studierunfähig kriegen oder, na ja, eingeschränkt studierfähig, also früher hätten wir die nicht genommen?

    Berthold: Ja, das ist genau sozusagen das Ende der Skala dieser Abweichungen auf der Defizitskala, dass man dann sagt, da sind zu viele, die studierunfähig sind. Unsere Studiengänge sind sozusagen auf diese Normalitätserwartung, für die natürlich früher das Abitur stand, hin konzipiert, und wenn jetzt andere Studierende kommen, dann müssen die entweder damit klarkommen oder haben Probleme. Und wenn sie Probleme haben, dann sagt man, die sind eben alle studierunfähig.

    Pfister: Nach Ihren Untersuchungen sind es fast neun von zehn Studierenden, die diesem Idealbild des Professors, dem strebsamen, mittelschichtgebildeten, deutsch sprechenden Studierenden nicht entsprechen. Einer von zehn – was machen die Profs mit den anderen?

    Berthold: Ja, viele sind geradezu frustriert darüber, weil sozusagen das, was sie im Hörsaal erleben und in den Sprechstunden erleben, nicht zu dem passt, was sie erwarten, und wissen nicht so richtig, wie sie damit umgehen. Viele versuchen dann sozusagen, in die Elitebildung reinzugehen und lieber im kleinen Oberseminaren Promoventengruppen Lehre anbieten, weil sie dort genau diese Studierenden treffen, in denen sie sich selbst wiedererkennen. Und dann gibt es sozusagen diese, was ich zitiert habe, diese Klagen, 70 Prozent sind studierunfähig: Das sind ja so Verzweiflungsrufe, wo jemand sozusagen aus diesem Dilemma gar nicht richtig raus weiß, dass da seine Erwartungen nicht zu dem passen, was er im Hörsaal wiederfindet.

    Pfister: Aus Sicht der Professoren könnte die Antwort sein: Eigentlich bräuchten wir eine noch härtere Selektion, oder wir müssen uns besser kümmern um die paar, die dann doch nicht durchkommen. Die Antwort ist eigentlich in den wenigsten Fällen, wir müssen uns mehr kümmern, oder?

    Berthold: Das ist leider so. Also die deutschen Hochschulen, das Ganze deutsche Bildungssystem ist sozusagen auf Selektion hin getrimmt. Folglich hören wir in den Hochschulen, von vielen Lehrenden in den Hochschulen auch das als erste Antwort: Dann müssen wir eben noch härter sieben. Sie kennen diese ganzen Redewendungen, die man dann auf den Fluren aufschnappt: Wer die Klausur im dritten Semester in unserem Fach nicht schafft, der kann auch kein Examen hier machen. Wir haben mal mit einem Ingenieur gesprochen, der gesagt hat: 70 Prozent meiner Studenten sind studierunfähig. Und diesen Personen müssen wir sagen: Wir haben keine anderen. Du machst es mit diesen oder du machst es nicht. Wir müssen die Studierenden nehmen, die da sind.

    Pfister: Dann werden Ihnen viele entgegenhalten: Das bedeutet, dass wir das Niveau senken.

    Berthold: Ja, und das ist eben nicht zwingend. Uns geht es gerade mit diesem Instrument, das wir Quest genannt haben, geht es gerade darum, den Lehrenden klar zu machen, dass es andere, Erfolg versprechende Adaptionsmuster an Hochschulen gibt, die berechtigt sind, die legitim sind, auf die man sich sozusagen auch einstellen kann. Das wäre ein großer Schritt in Richtung eines solchen Kulturwandels, mehr Diversität an den Hochschulen wünschen zu wollen.

    Pfister: An den Hochschulen gibt es nicht mehr nur Elite, sondern sehr viel breite Masse, so lässt sich das vielleicht zusammenfassen. Andere Länder haben damit auch zu tun. Können wir uns irgendwo abgucken, wie man es besser machen kann?

    Berthold: Ja, und zwei Dinge kann man da besonders lernen. Das eine ist: Es macht keinen Sinn, nur sozusagen Ausgleichsmaßnahmen zu erfinden. Die braucht man auch, man muss eine Kita schaffen, man muss auch natürlich ein Büro für behinderte Studierende schaffen, wo sie Fragen klären können und so weiter. Aber wir können uns nicht ... Es ist nicht die richtige Antwort, auf zunehmende Heterogenität in der Studierendenschaft damit zu reagieren, dass man ständig solche Ausgleichsmaßnahmen irgendwo an der Peripherie erfindet, sondern wir müssen – und das kann man von den Amerikanern lernen –, wir müssen die Diversität im Kern des Geschäfts sozusagen, im Kern der Lehre aufgreifen. Und da müssen wir Möglichkeiten finden, wie Leute mit unterschiedlichen Voraussetzungen und unterschiedlichen Potenzialen sich einbringen und entfalten können. Und das geht ganz stark über Motivation, das geht sehr stark auch über eine Feedback-Kultur – das spielt in vielen dieser vorbildlichen amerikanischen Hochschulen eine sehr große Rolle, dass sie sehr individuelles Feedback den Studierenden geben, und dadurch fühlen sie sich angesprochen, wahrgenommen und motiviert auch –, und es geht natürlich auch über andere Lehrformen, die sozusagen in nicht schlicht bestimmte Standards voraussetzen schon am Eingang, sondern diese Qualitätsstandards mehr bis zum Ende entwickeln wollen. Die schlichte Antwort ist, dass die gesagt haben: Wir haben den Pool vergrößert. Wir fischen einfach aus einem viel größeren Pool von Talenten, als wenn wir alles schon vorselektiert hätten, wie das die deutsche Tradition eben ist.

    Pfister: Christian Berthold von CHE Consult. Vielen Dank, Herr Berthold!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.