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Studieren im Land der Täter

Ein Stipendium für Angehörige von Nazi-Opfern hat die Humboldt-Universität neu eingerichtet. Es richtet sich an die Enkel von Zwangsarbeitern und Holocaust-Überlebenden, die heute in Osteuropa, Israel oder in den USA leben. Fortan können diese Jugendlichen ein Jahr lang in Berlin studieren.

23.09.2003
    Also Holocaust war immer das Thema bei mir zu Hause, immer. Also ich glaube, ich konnte das Wort Holocaust gleich nach Papa und Mama. Aber ich wusste nicht viel darüber.

    Doron Oberhand ist 25 Jahre alt und kommt aus Israel. Aber eigentlich stammt seine Familie aus Deutschland und Polen. Ein dunkles Kapitel: Jahrelang hatte niemand Doron erzählt, dass seine Oma und weitere 90 jüdische Verwandte in Bergen-Belsen, Majdanek und Auschwitz umgebracht worden sind. Und dass die Überlebenden deshalb nach dem Krieg Deutschland den Rücken kehrten und nach Haifa gingen.

    Meine Familie erzählt nicht. Deutsch war die verbotene Sprache in der Familie. Und Deutschland war das verbotene Land. Ich glaube, das war sehr schwierig für Leute, die den Holocaust überlebt haben, darüber zu erzählen. Sie können es nicht vergessen und nicht verzeihen. Aber ich war immer dagegen, ich wollte mehr wissen, ich wollte mehr lernen und ich wollte studieren.

    Doron studierte Geschichte in Israel - und jetzt sogar in Deutschland. Denn Doron bekommt zwei Semester lang das neue Berlin-Stipendium – zusammen mit 29 anderen ausländischen Jugendlichen: alles Angehörige von Nazi-Opfern.

    Es war ein bisschen schwer, sich zu bewerben für so ein Programm.

    Anna Machinska aus Polen hatte Bedenken, die monatlichen 700 Euro zu beantragen. Denn die 21jährige Wirtschaftsstudentin kam nur deshalb für die Förderung in Betracht, weil ihr Großvater einst bei der Zwangsarbeit im Lager Mauthausen zu Tode geschunden wurde.

    Also ich profitiere jetzt aus dem Tod meines Großvaters. Also er hat dort gestorben und jetzt dank seines Todes, ich kann um Stipendium bewerben. Und das ist nicht logisch.

    Andere Stipendiaten stürzen sich weniger in Grübeleien. Sie betonen eher die Chance, durch den Aufenthalt an der Spree, die Mentalität der Deutschen zu erforschen oder eine Diplomarbeit zu schreiben. Und so ist das auch gedacht von der Humboldt-Universität, die das Programm für insgesamt sechs Berliner Hochschulen ins Leben gerufen hat. Obwohl die eigentliche Idee von außen kam, gesteht Barbara Ischinger, die Vizepräsidentin für Internationales und Öffentlichkeitsarbeit an der Humboldt-Uni. Die Idee sei nämlich bei einem besonderen Ehemaligen-Treffen vor zwei Jahren aufgekommen.

    Und zwar erschienen damals 25 ehemalige Studierende, die ab 1933 aus rassischen und politischen Gründen von dieser Universität vertrieben wurden. Und wir haben damals eine Anregung lange diskutiert einer fast 90jährigen, ehemaligen Kommilitonin, die den Wunsch äußerte, dass wir doch in unserer Auseinandersetzung mit der Geschichte dieser Universität auch die Enkel-Generation mit einbeziehen sollten.

    Das Geld für diese Enkel kommt nun nicht von den Hochschulen, die sparen müssen, sondern von der Stiftung der deutschen Wirtschaft "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Die hat in ihrem Fünf-Milliarden-Euro-Topf für Zwangsarbeiter-Entschädigung nämlich 350 Millionen Euro für Projekte zur Völkerverständigung beiseite gelegt. Davon wird nun auch das Programm für Angehörige von Nazi-Opfern bezahlt. Für die Stipendiaten, wie den deutschstämmigen Doron Oberhand aus Israel, eine einmalige Chance.

    Ich habe meine Familie gesagt, es wäre eine Möglichkeit, in Deutschland zu leben. Obwohl die Geschichte so traurig ist, trotz allem. Für mich ist es so natürlich, dass ich nach Deutschland zurückkommen kann.