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Studieren in Italien
"Die Situation ist ziemlich schrecklich"

Selbst für die Besten gibt es keine festen und angemessen bezahlten Jobs: Die Lage junger Akademikerinnen und Akademiker in Italien ist prekär. Wer von Zeitarbeit und Ausbeutung frustriert ist, setzt auf Jobperspektiven im Ausland.

Von Katharina Thoms | 14.10.2017
    Eine junge Frau studiert in Mailand Stellenanzeigen.
    Eine junge Frau studiert in Mailand Stellenanzeigen. (imago/Milestone Media)
    Die Oktobersonne wärmt noch. Im Garten der Villa Mirafiori hat ein Teil der Sapienza-Universität in Rom seinen Sitz. Ein prachtvolles Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. Auch wenn heute der gelbe Putz von den Mauern abblättert. Die Studenten spielen hier in ihrer Pause Kicker, trinken Kaffee, lassen es sich gut gehen. Wie dieser Studienanfänger und seine Kommilitonen:
    "Ein wunderbarer Ort. Bis jetzt gefällt es mir sehr gut hier. Aber ich steh' ja am Anfang."
    "Hier gibt's viele Leute und dann so ein Ort wie die Villa Mirafiori hier - wirklich wunderschön. Da hat man echt Lust zu studieren."
    "Aber ich studiere gern hier. Ich habe viele Leute kennengelernt, ich verstehe mich mit meinen Mitbewohnerinnen in der WG. Mir geht’s gut."
    Maria kommt aus dem Süden Italiens, der Basilicata. Drittes Jahr Pädagogikstudium. Sie will mal im Kindergarten oder in der Vorschule arbeiten. Die Jobaussichten: schlecht. Aber sie versucht sich nicht zu sehr runterziehen zu lassen. Genau wie Luigi - zweites Studienjahr Philosophie an der Sapienza. Eigentlich hat er mal was "Vernünftiges" studiert - Ingenieurswesen. Wo man noch Jobs bekommt. So wird es jedenfalls immer behauptet. Aber nach einem Jahr hat er hingeschmissen:
    "Ich hatte es sofort bereut, weil es wirklich so gar nicht meinen Interessen entsprochen hat. Und dann hab ich mit Philosophie angefangen, weil ich Journalist werden wollte."
    Inzwischen will er Marketing machen. Mal sehen, was es dann am Ende wird. Jedenfalls will er sich nicht verrückt machen lassen von all den schlechten Aussichten auf dem italienischen Arbeitsmarkt:
    "Ich glaube, wir dürfen unsere Selbstsicherheit nicht verlieren und dürfen nie aufhören zu lernen und wir müssen an unsere Ziele glauben. Mit Leidenschaft kriegt man alles hin."
    "50 Prozent der Verträge laufen weniger als zwei Wochen lang"
    Ein Satz, der von Pietro Lucisano stammen könnte. Der Soziologieprofessor an der Sapienza-Uni sitzt im dritten Stock der Villa Mirafiori. Fantastischer Blick auf Rom. Lucisano ist hier auch Studienberater. Und er rät trotz allem zu Gelassenheit:
    "Sie sollen wachsen, lernen, neugierig sein und offen bleiben. Das hilft ihnen in einer Arbeitswelt, von der wir jetzt auch nicht wissen, wie sie dann mal sein wird."
    Ein bisschen schicksalsergeben zündet sich Lucisano eine Zigarette nach der nächsten an. Rauchen darf man hier eigentlich nicht. Aber: Als ob es darauf nun noch ankäme. Offiziell hat in Italien mehr als jeder dritte junge Erwachsene keinen Job. Und wer einen hat, hat höchstens einen befristeten, erklärt Lucisano:
    "Wir reden von Wochen. Von Tagen oder Wochen. 50 Prozent der Verträge laufen weniger als zwei Wochen lang."
    Die Absolventen retten sich von Kurzzeitjob zu Kurzzeitjob - wenn sie Glück haben. Meistens liegen lange Pausen dazwischen, erklärt Lucisano. Er hat angefangen, das Desaster statistisch auszuwerten. Wer zum Beispiel Vorschullehrerin sein will und an der Sapienza studiert hat - wie die Studentin Maria - der hat im Schnitt in den vergangenen acht Jahren knapp 40 verschiedene Arbeitsverträge gehabt.
    Von hundert Italienern machen nur 18 einen Uni-Abschluss
    Im OSZE-Vergleich hat Italien eine der geringsten Studierendenquoten: Von hundert Italienern machen nur 18 einen Uni-Abschluss. Und selbst die will offenbar keiner haben.
    So kommt es jedenfalls auch Enrico vor. Er sitzt hier abends wie hunderte andere Studis in Rom an der Piazza Trilussa. Das Leben tobt draußen an diesem noch sommerlichen Abend im Oktober. Enrico ist Kopf der internationalen Studierendenorganisation AEGEE in Rom. Aber eigentlich ist er gar kein Student mehr.
    "Ich arbeite jetzt in einem Anwaltsbüro. Ich bin aber noch kein fertiger Anwalt, weil … also über die Prüfungsregeln zum zweiten Staatsexamen, da müssten wir jetzt nochmal ganz woanders anfangen."
    Und weil sein Job mies bezahlt ist, lebt er zwangsläufig weiter sein Studentenleben:
    "Die Situation ist ziemlich schrecklich. Das hat ja auch was mit Selbstachtung zu tun. Ich meine, wer wollte denn jetzt noch bei seinen Eltern wohnen? Ja wohl niemand."
    Als er vor acht Jahren angefangen hat, gab es noch Stellen. Über seine Zukunft habe er sich damals nicht allzu viele Sorgen gemacht:
    "Mit einem Abschluss in Jura kannst du in vielen Bereichen was anfangen. Also dachte ich: Irgendwas wirst du schon finden. Ich habe mich angestrengt und ein gutes Studium hingelegt: Ich habe alles in der Regelstudienzeit geschafft, mit Bestnoten. Also ist ja nicht so, dass ich damit nichts anfangen könnte …"
    Enrico ist frustriert. Denn selbst wenn er sich endlich Anwalt nennen darf, erwarten ihn miese Arbeitsbedingungen:
    "Man arbeitet die ganze Zeit: die ganze Woche, 12 Stunden am Tag. Und wer arbeitet, wird auch noch schlecht bezahlt. 500, 600 Euro im Monat. Wirklich! Leute, die schon Anwalt sind, verdienen das.
    Und oft würden die Menschen auch gar nicht bezahlt. Und arbeiten trotzdem. Damit die Lücke im Lebenslauf nicht noch größer wird. Viele seiner Freunde sind inzwischen ins Ausland gegangen. Weil hier nichts geht. Und Enrico?
    "Ich habe schon daran gedacht. Ich habe mir sogar schon einen Termin gesetzt. Wenn ich bis dahin was kriege: Okay. Wenn nicht, dann suche ich mir was im Ausland. Denn so kann es ja nicht weitergehen."