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Studieren nach dem Beben von l'Aquila

Zunächst war es "nur" ein Erdbeben, doch schnell wurde klar, welche immensen Schäden das Beben im italienischen l'Aquila im April angerichtet hatte. Von den unzähligen Menschen und Bereichen, die betroffen waren, haben die Musikstudenten des Konservatoriums besonders schnell gelernt, trotz fehlender Gebäude: zu improvisieren.

Von Thomas Migge | 11.06.2009
    "Das läuft wirklich wunderbar. OK, am Anfang war das alles chaotisch, aber jetzt organisieren wir uns, mit anderen Studierenden und den Profs. Das ist alles improvisiert, funktioniert aber irgendwie. Ich bin einer der ersten, der, allerdings mit einer einmonatigen Verzögerung, jetzt eine Prüfung abgelegt hat."
    Claudio Tarantino studiert Fagott. Bis zum 5. April studierte er in einem dreistöckigen historischen Gebäude mitten in l'Aquila. Dann bebte die Erde und jetzt trifft er seine Professoren in einem Zelt am Stadtrand. Da ist alles drin, was man so zum Unterricht benötigt. Tische und Stühle und, es ist ja inzwischen warm geworden, eine Klimaanlage. Einer der Profs von Claudio ist Luisa Prayer. Sie unterrichtet Kammermusik:
    "Das Konservatorium ist schwer betroffen. Es befindet sich direkt neben der Basilica di Collemaggio, deren gesamte Apsis zerstört wurde. Genau an diesem Punkt der Stadt hat das Erdbeben kräftig zugeschlagen."
    Und so können Luisa Prayer und ihre rund 100 Kollegen die mehr als 1000 Studenten nicht mehr in dem Konservatorium unterrichten. Eine der bedeutendsten Unterrichtsstätten Italiens zur Ausbildung von Musikern und Sängern, meint Marcello Buffalini. Er unterrichtet Orchesterdirektion:
    "Neben den Unterrichtsfächern, die man an allen anderen Konservatorien auch findet, Violine, Flöte, Klavier, Fagott und so weiter, gibt es bei uns auch ungewöhnliche Studiengänge. Wir haben die vielleicht modernsten italienischen Ausbildungsstätten für elektronische Musik. Und wir sind die einzigen in Italien, die Mandoline und Schifferklavier unterrichten. Ein Instrument, das in den Abruzzen zahlreiche Virtuosen hervorgebracht hat."
    Obwohl das Beben das Konservatorium unzugänglich gemacht hat - niemand weiß, wie lange es geschlossen bleibt und ob es jemals wieder benutzt werden kann -, wird unterrichtet. Nur zwei Tage nach den heftigsten Erdstößen fanden sich die Professoren zusammen, in einem Zelt, und versuchten Kontakte mit allen Studierenden aufzunehmen. Mit dem erklärten Ziel, unter allen Umständen weiterzumachen. Die Violinistin Mara Claretta war von Anfang mit dabei, als es darum ging, einen halbwegs normalen Studienunterricht auf die Beine zu stellen:
    "Wir standen bis auf die ersten beiden Tagen nach dem Beben immer in Kontakt. Ich hatte zum Glück die Handynummer von Professoressa Prayer, und so half ich ihr die anderen Studierenden zusammenzutrommeln. Bis auf die leidige Rumfahrerei studieren wir jetzt relativ normal. So verlieren wir nicht das Semester und das ist doch super. Das ist zwar alles ein bisschen umständlich, aber es funktioniert."
    Unterrichtet wird jetzt an den verschiedensten Orten: in Schulen, Turnhallen, in Rom und in leerstehenden Kirchen. Das ist zwar nicht bequem, aber es funktioniert.
    Doch nicht alle Studierenden nehmen wieder am improvisierten Studienbetrieb teil. Einige waren verletzt, lagen in Krankenhäusern und konnten nicht mit Kommilitonen und Professoren Kontakt aufnehmen. In Sonderstunden wird für sie der ausgefallene Studienunterricht nachgeholt. Die Professoren arbeiten dafür auch an Wochenenden und Feiertagen, berichtet Aniello del Grano aus Neapel. Er studiert Gitarre am Konservatorium und lag bis Ende Mai im Krankenhaus, weil er beim Zusammenbrechen seines Elternhauses verletzt wurde:
    "Das hilft mir sehr, die ausgefallenen Stunden nachzuholen, denn ich will in diesem Jahr meinen Abschluss machen. Ich hätte nie gedacht, dass die Profs sich so für uns einsetzen. Sie wissen ja, dass in Italien an den Unis sonst viel durcheinander geht, aber hier: unglaublich."
    Bis auf einige wenige schwer verletzte Musikstudenten sind alle anderen Studierenden wieder an der Uni, oder genauer gesagt: studieren an den verschiedensten Ersatzorten. Bis Anfang August werden alle geplanten Prüfungen durchgeführt und im September wird das neue Semester wie geplant beginnen. Allerdings ohne Konservatorium und auch weiterhin an improvisierten Studienorten.